Immram
Stammt aus dem Altirischen und bedeutet:
Die Reise eines Helden in die Anderswelt, um sein Schicksal zu erfüllen
„Kommt näher an den Abgrund“, sagte er.
Sie sagten: „Wir haben Angst.“
„Kommt näher an den Abgrund“, sagte er.
Sie kamen. Er stieß sie ... und sie flogen.
(Guillaume Apollinaire)
Immram
Die Verwandlung
Bellé Flora
Genre: Fantasy
Umfang: 400 Seiten
Prolog
Seit die Bewohner von Unterbergen sich erinnern konnten, versperrte die Festung Inthorm wie ein Berg aus verwittertem, mit Ginster bewachsenem Kalkstein, jegliche Sicht auf die Welt. Sie glaubten es gäbe keine Welt außerhalb von Unterbergen und Inthorm sei die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Die Steinfestung schraubte sich unerbittlich in ewige Wolken. Egom, der tyrannische Herrscher von Inthorm und Unterbergen, verbreitete Furcht und Schrecken in seinem Reich. Er ließ die Wälder abroden und verschmutzte Felder, Wiesen und Seen mit giftigen Schwefelabfällen aus seinen Bergwerken, in denen Sklavenarbeiter nach Gold und Edelsteinen schürfen mussten. Saurer Regen verdarb hatte die Erde verdorben. Die Menschen ernährten sich fast ausschließlich von den Abfällen toter Tiere, die sie zu Blutwürsten, Knochenpastete und Knorpelfrikadellen verarbeiteten.
Angst, Unzufriedenheit, Unterdrückung und unreines Essen hatte aus den Untersbergern verrohte Menschen gemacht. Niemand hatte je Egoms Gesicht gesehen, weil er es unter einer weißen Leinenmaske versteckt hielt, die lediglich für Augen, Nase und Mund schmale Schlitze hatte und mit schwarzen, fremdartigen Ornamenten bemalt war. Ein reich besticktes Gewand aus weißer Seide, das in weiten Falten bis auf den Boden fiel, umhüllte seinen gesamten Körper wie ein Insektenkokon. Selbst sein Hals war durch einen hohen Krauskragen verborgen.
In Untersbergen munkelte man, dass Egom mit einer Krankheit geschlagen war, die seine Glieder bis zur Unkenntlichkeit anschwellen ließ und sein Gesicht mit Abzessen und Pusteln zu einer grausigen Grimasse entstellt hatte. Gehäßig und verbittert verbot der Tyrann den Untersbergern jeglichen Ausdruck von Kunst und Lebensfreude. Trotzdem versuchte niemand zu fliehen. Der einzige Weg aus Unterbergen heraus, führte durch die Steiner Höhlen. Keiner von den Untersbergern hatte es je gewagt auch nur einen Fuß dorthinein zu setzen aus Angst vor den schrecklichen Monstern und Geistern die die Höhlen bevölkern sollten.
Um sich bei Laune zu halten veranstaltete Egom einmal im Jahr die sogenannten Spiele. Die Bauern, die ihre Lehnabgaben nicht pünktlich und auf den Pfennig genau bezahlt hatten, wurden zusammengetrieben und zum Zeitvertreib der Zuschauer von Egoms Soldaten so lange gehetzt bis sie zusammen brachen und von seinen Jagdhunden in Stücke gerissen wurden. Wem es gelang die grausamen Menschenjagden zu überleben, was äußerst selten der Fall war, dem wurde die Lehnschuld erlassen. Mit diesem Ansporn erreichte Egom es, dass seine Opfer bis zum letzten Atemzug erbittert um ihr Überleben kämpften. Seiner Meinung nach erhöhte das entscheidend den Unterhaltungswert des unmenschlichen Spektakels.
Alles Feinsinnige und Edle war Egom verhasst und sollte ausgerottet werden. Wer sich seinen Befehlen widersetzte, wurde in den Kerker geworfen und zu Tode gefoltert. Wie ein verdurstender Wanderer, der in der Wüste nach Wasser lechzt, harrte Egom einzig auf den Tag, an dem sich die Verheißung einer Zigeunerin erfüllen sollte. Sie hatte ihm eines Tages ein neugeborenes Mädchen zu Füßen gelegt und prophezeit, dass, falls er sie der schwarzen Sonne opferte, der Trunk ihres Blutes ihm Unsterblichkeit und absolute Macht verleihen wuerde.
Egom wartete seither Jahr für Jahr auf den Tag der absoluten Finsternis. Je mehr Zeit verstrich, desto unzufriedener und grausamer wurde er. Der fünfte Monat, im vierzehnten Jahr seit der Prophezeiung war angebrochen.
„Wer bist du?“, fragte die flüsternde Stimme ein zweites Mal. „Was machst du hier?“, raunte es aus dem eisblauen Nebel der, wie ein aus Zedernrauch und Licht gewebtes Tuch, auf dem gefrorenen See lag. Eufe spürte in ihrem Nacken Schneekristalle, die sich auf ihrer warmen Haut in ein Rinnsaal verwandelten und unter dem schweren Fellumhang, unter dem sie nackt war, an ihrem Rücken hinuntertropften. Sie war barfuß und obwohl sie bis zu den Knöcheln im Schnee versank, empfand sie keine Kälte. „Wo gehst du hin?“ Stille. Plötzlich, ein krachender dumpfer Schlag aus der Tiefe des Wassers, das gegen die erstarrte Schicht des eigenen Körpers ankämpfte. Eufe hörte ein berstendes Knacken, das an den splitternden Stamm eines vom Blitz getroffenen Baumes erinnerte. Vor ihr öffnete sich die schneeverbrämte Eisdecke. Obwohl sie wusste, dass es ihren Tod bedeuten würde, ließ sie sich in die Spalte fallen. Ihr geschmeidiger Körper, auf Fell und Leder gebettet, sank schwerelos in den See. Tausendjähriger Farn spiegelte sich in ihren friedlichen Augen, unter dem tänzelnden Schleier bernsteinfarbener Locken.
Eufe öffnete die Augen. Sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Seit sie denken konnte war sie in den Turm gesperrt und wurde von Brac, dem Festungsmeier Egoms gepeinigt. Er war das Faktotum von Inthorm. Wer ihn zum ersten Mal sah, fiel seine stattliche Größe und seine markanten Gesichtszüge auf. Hätte er seine stechenden blauen Augen nicht unstet, gefährlich flackernd im Turm lauern lassen, die Lippen meist unerbittlich zu schmalen Strichen aufeinandergepresst, wäre er ein gutaussehender, wahrscheinlich sogar anziehender Mann gewesen. So jedoch, glich sein Gesicht einer grotesken Maske, hinter der er seinen Selbsthass versteckte. Wenn er boshafter Laune war, was so gut wie immer der Fall war, furchten sich in seine hohe Stirn horizontale Klaffen. Zwischen seinen Augenbrauen gruben sich dabei zu beiden Seiten tiefe Krater, die ihm das Aussehen eines griesgrämigen Alten gaben. Er verletzte Eufe nie körperlich. Oh nein, seine Torturen waren anderer Art, die weit schmerzhafter waren als brutale Prügel. Er beherrschte Eufe wie eine Spinne, die ihr Opfer in einen zersetzenden Faden aus Speichel und Körpersekretion wickelte, bis es sich nicht mehr rühren konnte und apathisch auf den Tod wartete. Kaum ein Tag verging, an dem er ihr nicht seine Bösartigkeiten wie Gift in den Kopf spritzte: „Du stinkst und bist häßlich. Du bist für nichts Besseres gut als zu verrecken“, bereitete es ihm Genugtun, wenn ihm der gebrochene Blick Eufes seegrüner Augen während seiner Schmähungen ins Netz ging.
Schuld und Angst bestimmten Eufes Leben und ihr Selbstbild. Sie fand ihren langgliedrigen Körper häßlich und abstoßend und schämte sich für jede Gefühlsregung. Sie hatte es sich angewöhnt teilnahmslos in der Turmkammer zu sitzen und glaubte nichts Besseres zu verdienen. Wären nicht Bracs Frau Ullren und sein Sohn Aruc gewesen, die sie täglich in ihrem Gefängnis besuchten, wäre sie irrsinnig geworden vor Einsamkeit und Verzweiflung.
Ullren war das Gegenteil von ihrem Mann. Sie war sanftmütig und gut und es bereitete ihr tiefen Kummer, dass Eufe im Turm eingesperrt war. Nach dem Tod von Ullrens Mutter wuchs sie allein bei ihrem Vater auf, bis er sich mit der eifersüchtigen Gutsherrin Heika vermählte, die Ullren ihre außerordentliche Schönheit neidete. Sobald Ullren alt genug war, nahm sie die Werbung des gutaussehenden Schmiedesohns Brac an und vermählte sich mit ihm. Nach der Heirat zogen sie in Egoms Festung Inthorm, wo Brac eine Anstellung als Burgmeier gefunden hatte. In der ersten Zeit behandelte Brac sie liebevoll und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Nachdem Ullren jedoch ihren gemeinsamen Sohn Aruc zur Welt gebracht hatte, entfremdete Brac sich von ihr. Aus dem ehemals sensiblen und liebevollen Schmiedegesellen war ein launischer, zynischer und bösartiger Handlanger Egoms geworden.
Eines Tages legte er Ullren ein neugeborenes Mädchen in die Arme und befahl ihr, sich um das Kind zu kümmern. Vom ersten Moment an liebte Ullren das Mädchen wie eine Mutter und taufte es auf den Namen Eufe, das soviel wie scheu und fein bedeutet. Doch konnte sie nicht verhindern, dass Brac es, sobald es laufen konnte, in das Turmverlies unterhalb der Zinnen sperrte. Entsetzt von seiner Grausamkeit begann Ullren ihren Mann zu verachten. Um die Zuneigung seiner Frau zurückzugewinnen, erlaubte Brac ihr einen Garten auf dem Turm zu pflanzen. Egom gegenüber rechtfertigte er den Turmgarten als Brennholzquelle bei Belgagerungen. Wie erwartet überzeugte dieses Argument den Tyrannen mit der Bedingung, dass niemand außer Ullren den Garten betreten sollte.
Mittlerweile war die Eberesche, die Ullren selbst in die Erde gesetzt hatte, bis weit über die Burgzinnen hinausgewachsen. Außerdem hatte die Turmmeierfrau Lupinen, Primeln, Amarilis und Glockenblumen gesät, die jeden Sommer so prachtvoll blühten, dass der Turmgarten der bunten Farbpalette eines Malers glich. Einem Traum folgend hatte Ullren unter den schützenden Zweigen der Eberesche ein Hühnergehege gebaut und sieben weiße Hennen hineingesetzt. Gut versteckt, unter den wild wuchernden Fliederbüschen und Goldregenzweigen zog Ullren heimlich Steckrüben, Kohl, Bohnen, Wirsing und Feldsalat, um damit ihre Kinder zu bekochen. Brac durfte nichts davon erfahren, sonst hätte er die Beete aus Angst vor Egom zerstört.
Aruc und Eufe wuchsen wie Geschwister auf, obwohl sie ihre gemeinsame Zeit im Verlies verbringen mussten. Wann immer jedoch Brac beschäftigt war und Ullren sicher gehen konnte, dass niemand sie beobachtete, nahm sie Eufe heimlich mit in den Turmgarten. Aruc war nur selten dabei. Damit sein Vater keinen Verdacht schöpfte, hielt er ihn vom Turmgarten fern und half ihm bei seinen Pflichten in der Festung.
Da Eufe nicht an Tageslicht gewöhnt war, brachte Ullren ihr einen breitkrempigen Strohhut aus ihrer eigenen Kleiderkammer mit. Sie liessen sich unter dem hohen Baum im weichen Gras nieder und Ullren bettete Eufes Kopf in ihren Schoss . Leise, so dass niemand sie belauschen konnte, sang Ullren alte Weisen für ihr Findelkind, die sie von ihrem Vater gelernt hatte, im Angedenken an ihre Mutter, die bei ihrer Geburt gestorben war.
„Ein Weg liegt vor dir, ein Weg der führt dich weit. Dem Ruf des Himmels folgst du, ganz ruhig und frei und leicht. Im Schutze meiner Hände, dein Sein, dein Werden. In mir bist du geborgen, die Liebe ist mit dir. Du lernst vom Baum des Lebens, die Weisheit und den Tanz. Phönix aus Garten Eden zeigt deiner Stimme Glanz. Am Wasser unserer Mutter erkennst du deiner Selbst. Nun schau auf zu den Wolken und wisse wer ich bin. Immram.“
Eufe vergaß in diesen Momenten den beissenden Geruch der Pechfackel, die Tag und Nacht in ihrem Verließ brannte und sog den herrlichen Blumengeruch des Turmgartens in sich auf, der sich mit dem Duft nach Kraeutern und Seifenwasser vermischte, das Ullren in einem Holzeimer aus der Turmkueche mitgebracht hatte, um darin Eufes wunde Finger zu waschen. In den vielen Stunden die Eufe allein im Verlies verbrachte, riss sie oft unbewusst an ihrer Nagelhaut so dass sich ihre Finger oft entzündeten. Sie schämte sich für ihre geschwollenen Hände, die Brac haemisch Bauernbratzen nannte. Deshalb hatte Eufe sich angewoehnt sie in den Taschen ihres braunen Leinenkittels zu verstecken. Ullren nahm Eufes gerötete Finger und tauchte sie behutsam in die sonnengewärmte Lauge in die sie ein dickes Bündel frischer Rosmarinzweige geworfen hatte, um zu verhindern, dass sich gelber Eiterschmär an den Nagelrändern einnistete. Eufe hoffte inständig die Zeit könnte stillstehen und sie dürfte immer so dasitzen, im Halbschatten des Baumes, Vogelgezwitscher und das glockige Plätschern der Seifenlauge im Ohr. Nachdem Ullren Eufes Finger einzeln mit Hanftuch sorgfältig abgetrocknet hatte, strich sie einen Brei aus Bockshornklee, den sie in einem kleinen Tigel aus ihrem Kräuterküchlein mitgebracht hatte, auf die offenen Stellen an Eufes Händen.
Obwohl Eufe nicht gerne über sich sprach, beschäftigte sie ihr Traum und sie berichtete Ullren davon: „Was hat das zu bedeuten Ullren? Wem gehörte die Stimme und warum hat sie mir diese Fragen gestellt? Ich kann doch nirgendwo hingehen“. Ullren wischte sich den überschüssigen Kräuterbrei bedächtig von den Händen und schwieg. Warum hatte sie so einen ernsten Ausdruck dachte Eufe beunruhigt. Ullren war aufgestanden und drehte Eufe den Rücken zu. Ihr langes pflaumenblaues Leinenkleid bewegte sich sacht im Wind. Sie hatte es selbst genäht und mit karminroten Blättern bestickt, die wie leuchtendes Herbstlaub über den fein gewebten Stoff fielen. Ullren blickte zu den weißen Federwolken auf, die, wie ein Schwarm von Zugvögeln auf Wanderschaft an den Zinnen vorbeischwebten. Die raschelnden Blätter der Eberesche raunten im Wind. Sonnenreflexe gleißten auf ihrem strohblumenblonden Haar, dass ihr wie ein glänzender Schleier über den Rücken fiel. Um die Stirn hatte sie sich ein schmales Band aus geflochtenem, mit Johannisbeersaft gefärbtem Hirschleder gebunden. Eufe konnte sich keine schönere Frau als Ullren vorstellen. Sie bewunderte und liebte sie grenzenlos. Ihre Gedanken schweiften zu Brac, der Ullren mit seinen groben Händen berührte. War er Ullren ein guter Mann oder hatte sie genauso Angst vor ihm wie sie selbst? Eufe schlug jedes Mal das Herz bis zum Hals, wenn sie von weitem seine harten Schritte auf den Stufen zu ihrem Verlies hörte. Solange Brac sich in ihrer Nähe befand, wagte Eufe nicht ihren Kopf zu heben. Sie starrte auf die Unebenheiten des Steinbodens und vermied es um jeden Preis ihn anzusehen. „Dummes, unnützes Ding, du glaubst wohl ich merke nicht, dass du dich für etwas Besseres hältst und mich verachtest“, herrschte er sie an. „Dir werde ich den Stolz schon noch austreiben, los verzieh dich in die Ecke, wo du hingehörst du häßliche Fratze.“ Tiefe Schamesröte überzog Eufes Gesicht und weder Aruc noch Ullren erzählte sie je von Bracs gemeinen Worten.
Ullren hatte sich zu ihr umgedreht und ihre sonst so sanften grünblauen Augen, bohrten sich wie ein gusseiserner Schlüssel in Eufes fragenden Blick, als sie eindringlich, jedes Wort sorgfältig abwägend, antwortete: „Amo hat zu dir gesprochen. Es ist an der Zeit mein Kind. Wir können nicht länger warten. Du musst aus Inthorm fliehen, bevor es zu spät ist. Egom wird dich töten, wenn du nicht fliehst.“ Eufes Hände zitterten und sie starrte die Frau des Festungsmeiers, der sie mehr als sich selbst vertraute, erschüttert an. Der blinde Zauber des Nachmittags war gebrochen. Sie spürte wie ätzende Tränen der Angst in ihr aufstiegen. Weine nicht. Weine nicht. Weine nicht, wiederholte sie ohne Unterlass im Stillen. Sie hatte es doch immer gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde und er sie holen kam. Dann hatte sie es wenigstens hinter sich. Eine Waldameise, die emsig einen Reisighalm auf dem Rücken transportierte, kroch über ihr nacktes Bein. Es kitzelte. Eufe ließ sie gewähren. Die Ameise strebte voller Lebenskraft ihrem Ziel entgegen. Sie suchte sich ihren Weg und ließ sich von keinem Hindernis aufhalten. Aber sie selbst hatte weder einen Weg, dem sie folgen konnte, noch eine Aufgabe, nur die Bestimmung für Egom zu sterben. Eufe wiegte ihren Oberkörper apathisch vor und zurück. Sie sah und spürte nichts mehr, außer der Ameise. Ullren kniete sich neben Eufe und nahm ihren Kopf in beide Hände: „Sieh mich an Eufe, sieh mich an. Du wirst nicht sterben. Dein Traum bedeutet nicht Tod, sondern Neubeginn. Unser himmlischer Vater und unsere Mutter Erde haben dich gerufen. Nichts Böses wird dir geschehen. All die Jahre in diesem Turm haben dich vorbereitet auf deine Aufgabe. Ihre drei Fragen an dich bedeuten, dass du auf deinem Weg erkennen sollst, wer du bist, warum du hier bist und wohin du gehst.“ „Für mich gibt es keine Ho- Ho-ffnung“, stotterte Eufe und versuchte krampfhaft das Weinen zurückzuhalten. Je mehr sie sich bemühte ihre Angst und Verzweiflung zu verdrängen, umso stärker verlangte ihr Körper nach einem Ventil. Tränenlose Schluchzer schüttelten sie wie eine Stoffpuppe, die von einem zerstörungswütigen Hund im Maul gebeutelt wurde. „Wie könnte ich Brac-c-c entko-oo-m-mmen. Er hass-tt mmm iich und wüürd ee mich nie gegehen llalassen“, stammelte sie unter Aufbietung all ihrer Beherrschung. „Weine Eufe, halte die Tränen nicht zurück. Weinen ist gut. Ich bin bei dir und werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht liebe Eufe“, tröstete Ullren sie und nahm sie fest in die Arme. Eufe versteckte ihr Gesicht in den dichten, welligen Haaren Ullrens, die nach Zitronengrass und Myrre rochen. Sie erinnerte sich an etwas längst Vergangenes, dass sie verloren hatte, ohne zu wissen was es war. Eine unsagbare, ohnmächtige Traurigkeit brach über sie herein wie eine riesige Welle, die alles unter ihren Wassermassen begrub. Eufe klammerte sich an Ullren wie eine Schiffbrüchige, die in der Sturzflut ihres jahrelang aufgestauten Schmerzes zu ertrinken drohte. Es war ihr, als ob eine eiserne Rüstung von ihrem Herzen abfiel, die ihr, seit sie denken konnte, die Luft zum Atmen genommen hatte. Sie weinte bitterlich.
Ullren wiegte sie unablässig in ihren Armen und summte leise ein Wiegenlied.
„Meine Schöne, meine Kleine, weine ,weine, weine. Meine Liebe ist mit dir ...“
Allmählich wurden die heftigen Schluchzer Eufes seltener, bis sie nur noch leise vor sich hin weinte.
„Ich weiß nicht was aus mir werden soll ohne dich und Aruc. Wo soll ich nur hingehen?“
„Aruc wird dich begleiten. Er wird auf dich aufpassen.
„Was wird aus dir Ullren? Was wird Brac mit dir machen, wenn er herausfindet, dass du mir geholfen hast?“ „Mach dir keine Sorgen darüber mein Kind. Mir tut er Nichts. Auch wenn er nach außen hin hart und böse wirkt. Ich kenne sein Herz“, beruhigte Ullren sie. „Er hat keine Macht über dich und mich. Er hat sie nicht einmal über sich selbst. Unser aller Leben ist einzig in der Hand Amos.“ Ullren strich sanft über Eufes Kopf, während sie sich langsam aufrichtete, um ein noch brutwarmes Ei aus dem Hühnergehege zu nehmen. Daraufhin kratzte sie behutsm mit ihren schlanken Fingern abblätternde Rindestreifen vom Stamm der Eberesche. Sie löste den Lederriemen ihres Taillenbeutels und holte ein Fläschchen mit Honigschnaps hervor. Vorsichtig schlug sie das Ei gegen den Baum und schüttete Dotter und Klar auf die Erde. Dazu goss sie einige Tropfen des Mets, den sie im vergangenen Frühjahr aus Kleehonig gebraut hatte, und streute die Baumrinde darüber. Sie bückte sich und pflückte von ihrem Kräuterbeet frische Tymianzweige, deren Blätter sie einzeln abzupfte und über die Eiermasse auf die Erde fallen ließ.
Während ihrer Vorbereitungen raunte Ullren:
„In der Unendlichkeit von Himmel, Sonne, Mond, Sterne und Wolken, sei dir gewährt Schutz auf deinem Weg. Das Wissen um dich selbst und die Geheimnisse des Universums eröffnen sich dir. Mut und Kraft verlassen dich nie bei der Vollendung deines Seins. So spreche die Worte: ´Ich glaube`“. Ehrfürchtig wiederholte Eufe mit einer ihr bislang fremden Stimme, die die Worte in ihren Schläfen vibrieren ließ, bis sie anschwollen und sich wie eine Kupel über sie spannte. Eufe empfand eine nie gekannte Gewissheit in ihrem tiefsten Inneren, dass ihr eine Verwandlung bevorstand, die sie weder verhindern, noch steuern konnte. Ullren nahm ein linnenes, blaues Kopftuch aus ihrem Beutel und wischte die Masse sorgfältig von der Erde auf. Sie wendete sich Eufe zu, nahm ihr den Strohhut vom Kopf und legte ihn neben sich auf die Erde. Unaufhörlich murmelte sie ihre Zauberformeln und band Eufe das durchtränkte, stark nach Tymian und Honigschnaps riechende Tuch um den Kopf. „Lass deine Stärke wirken, lass alle Zweifel fahren. Du bist schön und gut. Du bist eine Schülerin der großen Wege. Vertraue, ganz egal wie sehr dein Verstand dich oft prüfen möge, vertraue auf deine göttliche Essenz. Dein Vermächtnis ist die Liebe“. Als Ullren zu Ende gesprochen hatte, legte sie ihre Hände segnend auf Eufes Kopf.
Ullren hatte Eufe zurück in ihr Verlies gebracht. Brac und Aruc waren mindestens noch ein paar Stunden beschäftigt, um eine undichte Stelle im Dach der Festung mit Steinen, Lehm und Baumrinde auszubessern. Obwohl Ullren versuchte hatte sich Eufe gegenüber nichts anmerken zu lassen, war sie innerlich aufgewühlt. Die Zeit des Handelns war gekommen. Eufes vierzehnter Geburtstag stand unmittelbar bevor. Sie liebte das Mädchen wie eine eigene Tochter. Um keinen Preis durfte Egom sie der Schwarzen Sonne opfern. Auch Aruc musste fliehen aus dem Gefängnis seines Lebens in Inthorm, wo er nur Unterdrückung, die Gefühlskälte seines Vaters und die rauhen Sitten der Soldaten kennenlernte. Ihre Kinder waren jetzt groß genug, um ihren eigenen Weg zu gehen. Und selbst wenn es ihren eigenen Tod bedeutete, würde sie alles tun um ihnen zur Flucht zu verhelfen. Sie musste Aruc überzeugen gemeinsam mit Eufe zu fliehen. Ullren erinnerte sich an den erbitterten Streit den Aruc vor wenigen Tagen mit seinem Vater ausgefochten hatte. Er war spät nach Hause gekommen und seine Kleidung war prägniert von einem abgestandenen Geruch, nach Ruß, Schnaps, Lorbeer und gebratenem Hirschfleisch, der die Stunden verriet, die er im Brunnenwirtshaus von Steinern in der Gesellschaft des Schankmädchens verbracht hatte.
Nein, sie konnte beruhigt sein, er würde keine Minute zögern. Seit er als kleiner Junge auf ihren Schultern geritten war und zu den Burgzinnen in den Himmel gespäht hatte, um den Flug des Adlers zu beobachten. Seit damals war es sein einziger, leidenschaftlicher Wunsch in die Welt hinaus zu ziehen. Er wollte frei sein, Abenteuer erleben und die beengte, triste Welt des Turms hinter sich lassen. Er liebte Eufe wie eine Schwester. Natürlich würde er mit ihr gehen. Sie müßte ihn nur glauben machen, dass ihr selbst keine Gefahr drohte, wenn sie in Inthorm zurückblieb. Ullren ging nervös auf und ab in ihrem Gemach. Obwohl es bereits Mai war, brannte ein Feuer im Kamin, das seine züngelnden Schattenbilder an die fensterlose Wand aus nackten Steinquadern warf. Außer einer deckenhohen Pechfakel gab es keine weitere Lichtquelle. Ullren wusste, dass sie keine Zeit verlieren durfte. Sie musste die Vorbereitungen für Eufes und Arucs Flucht treffen, solange Brac beschäftigt war.
Obwohl Ullren sich nichts mehr als die Freiheit für ihre Kinder wünschte, war sie, jetzt als sie greifbar nahe schien, zutiefst traurig. Wie sehr würde sie Aruc und Eufe vermissen. In all den Jahren verging kein Tag an dem sie sich nicht zu den Kindern in den Turm setzte und ihnen stundenlang Geschichten erzählte. Die drei vergaßen dann, dass sie in einer dunklen staubigen Kammer auf Reisigbündeln hockten. Sie ließen Raum und Zeit hinter sich und wurden selbst Teil der Geschichten. Im Laufe der Zeit hatte Ullren sich und den Kindern eine eigene Welt erschaffen, weit weg von den tristen Mauern des Turms und der grausamen Herrschaft Egoms.
Nein, sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, sie musste sich konzentrieren und nachdenken. Es gab nur drei Wege aus dem Turm. Entweder durch das Haupttor direkt an den Wachen vorbei oder über den Geheimgang, der am Flussufer mündete, wo der griesgrämige Fährmann Kent mit seinem Floß bereitstand. Allerdings war mit seiner Hilfe kaum zu rechnen oder ... Ullren wagte die dritte Möglichkeit nicht einmal zu Ende zu denken. Sie musste einen Weg finden Eufe durch einen Vorwand an den Wachen vorbei zu schleusen. Hatten sie es einmal bis zum anderen Ufer geschafft, lag der schwierigste Teil jedoch erst noch vor ihnen: die Steiner Höhlen. Es war ihre einzige Chance, Egom, Inthorm und ganz Unterbergen hinter sich zu lassen.
Ullren spürte wie sich die feinen Härchen an ihren Armen aufstellten und eine Kältewoge ihren Körper erschauern ließ. Die verbotenen Höhlen. Es war der einzige Ausweg. Und auch wenn noch niemand vor ihnen es gewagt hatte die Höhlen zu betreten, wusste Ullren instinktiv, dass dahinter eine bessere Welt auf Aruc und Eufe wartete. Sie mussten es durch die Höhlen schaffen, koste es was es wolle. Fallada wird sie sicher durch die Höhlen bringen. Der Gedanke an ihre treue Schimmelstute, die so stark und groß war wie ein Stier, stimmte Ullren zuversichtlich. Doch wie würde sie Brac ablenken? Für dieses Problem kam nur eine Lösung in Frage. Entschlossen stieß sie die schwere Tür ihrer Kammer auf, raffte ihr langes Kleid in der Taille zusammen und eilte über den Gewölbegang zur Kräuterküche, die sich am Ende des östlichen Teils der Festung befand.
Das Betreten des nördlichen Teils von Inthorm war ihr strikt verboten. Ein Giftzackenbesetztes Eisenportal schottete dort Egoms Gemächer vom Rest der Festung ab. Ullren war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie beim Betreten der Küche fast nicht auf das schleifende Geräusch geachtet hätte, das hinter dem Eisenportal beunruhigend hervorkroch. Für einen Moment hielt sie inne und lauschte. Schwere Schritte schleppten sich voran, gefolgt von einem dumpfen Ton von Holz, das beharrlich auf Stein traf. Das musste Egom sein, der, auf seinen Stock gestützt, durch seine Gemächer humpelte. Erneut erschauerte sie es. Die feinen Poren ihrer Unterarme schwollen an und hinerließen eine Gänsehaut. Es gab kein Zurück, ihr Plan musste gelingen. Aus einem kleinen Lederbeutel an ihrer Taille, nahm Ullren ein daumengroßes Stück der Alraunenwurzel, die sie beim letzten Neumond in ihrem Garten geschnitten hatte und warf sie in einen irdenen Topf, den sie über der offenen Feuerstelle erhitzte. Danach fügte sie Honigmet hinzu und ließ die Flüssigkeit so lange köcheln bis der Wein zu einem Dritten seiner ursprünglichen Menge geschrumpft war. Den Rest seihte sie durch ein sauberes Linnen und füllte es in das Silberfläschchen, dass sie wieder in ihrem Beutel versteckte.
Mit diesem Trank würde Brac eine Nacht und einen guten Teil des darauffolgenden Tages bewusstlos sein. Den Wachen würde sie erzählen, dass Brac ihr aufgetragen hatte, Eufe von den Sumpfgeistern reinigen zu lassen. Sie hoffte inständig, dass Niemand Verdacht schöpfte und die Wachen sich ihnen nicht in den Weg stellen würden. Falls sie es doch taten, dann gab es nur noch einen Weg aus der Festung ...
Aruc setzte einen Fuß nach dem anderen auf die Sprossen der schwankenden Holzleiter und vermied es nach unten zu schauen. Seine Hände klammerten sich verkrampft an die oberste Sprosse. Ein Rinnsaal aus Angstschweiß tropfte ihm von der Stirn in die Augen. „Stell dich nicht an wie eine Memme und mach ein bisschen schneller so lange wir noch Licht haben“, herrschte ihn sein Vater von unten an. Aruc hasste sich selbst für seine Feigheit. Warum konnte er nicht wie die anderen Jungen seines Alters Freude empfinden bei riskanten Kletterunternehmungen? „Los mach endlich Junge, ich bin es leid zu warten. Und wenn du zu feige bist, dann sag es gleich und ich rufe jemanden, der sich geschickter anstellt.“ Aruc biss die Zähne zusammen und zog sich über die letzten beiden Sprossen nach oben. Er vermied es ruckartige Bewegungen zu machen und hielt sich verbissen an der Leiter fest, während er versuchte mit der linken Hand ein Seil unter dem Dachstuhl zu befestigen, um damit die Arbeitsmaterialen in einem Korb nach oben zu ziehen. Er war so angespannt, dass es ihm erst beim dritten Versuch gelang. Er spürte wie Bracs Augen förmlich in seinen Rücken stachen und ihn fast von der Leiter stürzten, hätte er sich nicht mit aller Kraft dagegen gewehrt. In seinem Geiste wiederholte er fortwährend einen Satz: Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei.
Diesen Spruch hatte seine Mutter ihn gelehrt, nachdem er von den Söhnen der Wachmänner gehänselt und verprügelt worden war. Sie verachteten ihn, weil er es vorzog bei Eufe in der Turmkammer seine Zeit zu verbringen, anstatt sich bei ihren perversen Spielen zu beteiligen, bei denen so manche Spinne, Käfer, Maus oder Katze grausam ihr Leben langsam und stückweise verloren. Als er versuchte sie davon abzuhalten ein neugeborenes Katzenjunges zu ertränken, dass sie johlend der fauchenden und kratzenden Mutter weggenommen hatten, stürzte sich die Meute rasend vor Wut auf ihn. Zerstörungslust, einer sich gegenseitig aufwiegelnden Bubenmeute, entlud sich hemmungslos an seinen Gliedern. Er versuchte sich zu wehren so gut er konnte, aber fünf gegen einen war einfach zu viel. Wie von Sinnen schlug er um sich, schrie, biss und riss an den Haaren seiner Gegner. Seine Nase triefte, das Blut pochte unter der dünnen Haut seines linken Auges. Eine Faust hatte ihn auf die Lippe getroffen. Er schmeckte den leicht süßlichen Geschmack von Blut in seinen Mundwinkeln. Tränen der Wut und des Schmerzes machten ihn blind. Als die wütende Meute von ihm abließ, weil sie die Schritte von Ullren hörten, die vom Lärm der Rauferei alarmiert herbei geeilt kam, blieb er in einem erbarmungswürdigen Zustand in der Lache der umgefallenen Holzwanne liegen, in der die Leiche des Katzenjungen wie ein struppiger grauweißer Wollknäuel trieb.
Noch nie in seinem Leben hatte Aruc seine Mutter so erschüttert und außer sich gesehen. Sie nahm ihn weinend in ihre Arme, bedeckte ihn mit Küßen und wiederholte immer wieder diesen einen Satz, der ihn während seiner Kindheit begleiten sollte wie ein treuer, beschützender Hund: Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei.
Von diesem Tag an machten die Jungen einen großen Bogen um Aruc. Er vermutete, dass seine Mutter, Perchta, den Anführer der Bande, zur Rede gestellt hatte, nachdem sie ihn mit Ringelblumensalbe und heißer Honigmilch versorgt hatte und ihm eine seiner Lieblingsgeschichten erzählt hatte. Obwohl seine Mutter ihm nichts über ihre Begegnung mit Perchta erzählt hatte, musste sie auf den sonst großmauligen, groben Jungen Eindruck gemacht haben. Wann immer er fortan in die Nähe von Ullren kam, senkte er seinen Blick, dämpfte seine laute auftreiberische Stimme und machte sich so schnell es ging aus dem Staub. Von jenem Tag an, traute sich keiner der Jungs mehr Aruc zu belästigen.
„Zieh endlich den Korb nach oben“, riss ihn die ungeduldige Stimme seines Vaters aus seinen Gedanken. „Mach schon“. Obwohl es ihm noch immer schwindelte vor Höhenangst, versuchte er seine Schultern zu lockern und wiederholte unabläßig seinen Zauberspruch. Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei. Aruc atmete tief durch und konzentrierte sich auf die undichte Stelle des Dachs. Mit den Augen maß er ein passendes Stück Rinde im Korb ab und befestigte es mit feuchter Moosstopfe über dem Loch. „Na also geht doch“, kläffte Brac ungeduldig von unten. Aruc ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und seine Lippen entspannten sich zu einem zufriedenen Lächeln.
Eufe saß auf der Holzpritsche im Turmverlies und betastete ihren Kopfverband. Ullren hatte ihr befohlen ihn erst am nächsten Morgen abzunehmen und darauf zu schlafen. Wie sollte sie jedoch Schlaf finden? Sie war innerlich aufgewühlt, sie hatte Angst und gleichzeitig spürte sie ein verheißungsvolles Zittern am ganzen Körper. Gab es ein Leben außerhalb dieser grauen Mauern, die sie langsam erstickten? Wie war sie in diesen Turm gekommen? Wo kam sie her? Wer waren ihre Eltern und warum ließen sie es zu, dass Egom sie gefangenhielt? Selbst Ullren hatte ihr nie eine Antwort auf diese Fragen gegeben.
Im Traum sah sie sich einmal ohne Mittelfinger. Er fehlte einfach an ihrer linken Hand. Sie empfand mehr, als dass sie es regelrecht gesehen hatte, dass eine eigentümliche Kraft von ihr ausging. Es musste mit dem fehlenden Finger zu tun haben, aber auch mit Etwas, das vor ihr auf dem Boden lag. Sie konnte nicht sehen, was es war. Als sie Ullren fragte, was der abgeschnittene Finger zu bedeuten habe, erklärte sie ihr, dass der Mittelfinger ein Symbol für den Vater sei.
Es war dunkel und durch eine schmale Ritze der kalten Steinquader, die sie von der Außenwelt abschirmten, fiel ein dünner Strahl silbernen Mondlichts in ihren Schoß. Plötzlich funkelten kleine Glühwürmchen in ihrem Verlies. Es schien, als ob ein Stück Sternenhimmel in ihr Gefängnis Einzug gehalten hatte. Ehrfürchtig faltete Eufe die Hände und flüsterte: „Amo, lass mich die Antworten auf die Fragen finden, die du mir in meinem Traum gestellt hast. Lass mich erkennen wer ich bin, warum ich hier bin und wohin ich gehen soll.“
2. Die Flucht
Ullren lauschte. Ein Uhu gurrte schnarrend im Wald. Zwei Käuzchen begannen ein ausgedehntes Liebesspiel. Die hallenden Schritte der abgelösten Wachen entfernten sich langsam und verklangen allmählich auf den kalten Steinplatten des Kreuzganges, der zu den Gemächern des Festungsmeiers führte. Brac lag leise schnarchend neben ihr unter dem tannengrünen Samtbaldachin ihres Ehebettes und wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte bis die Alraunenwurzel Bracs Nervensysthem vollständig lahm legen würde. Er hatte ohne Hintergedanken ein volles Glas Met getrunken, das Ullren mit der Flüssigkeit aus dem Fläschchen ihres Taillenbeutels vermischt, und ihm vor dem zu Bett gehen gereicht hatte. „Bitte Amo lass die Flucht gelingen und hilf den Kindern ihren Weg zu finden“, flehte sie mit der Kraft ihres ganzen Herzens.
Egom hasste Amo und hatte jeglichen Kult der Naturgöttin verboten, die die Unterberger, bis zur Thronbesteigung Egoms, als ihre Erdmutter angebetet hatten. Stattdessen zwang er das Volk ihn zu verehren. Zu diesem Zweck hatte Egom eine goldene Statue, die ihn triumphierend auf einem Drachen reitend darstellte, auf dem höchsten Gipfel von Unterbergen errichten lassen.
Endlich waren Bracs Atemzüge gleichmäßig und sein Körper ruhte totenstarr auf der Bettstatt. Ullren schlug die, mit Gänsedaunen gefüllte, Leinendecke zurück und ließ sich lautlos auf den Boden gleiten. Obwohl sie wusste, dass Brac noch viele Stunden betäubt war, wagte sie nicht die Kammerfackel anzuzünden. Sie tastete in der Finsternis nach ihrem wollenen Unterkleid und warf es sich über ihren zitternden Körper. Sie fragte sich, ob es dem Nachtfrost zuzuschreiben war oder ihrer inneren Erregung, dass ihr Körper wie ein überspanntes Seil vibrierte und sie ihre Hände kaum unter Kontrolle halten konnte. Sie griff nach ihren wildledernen Stiefeln, die sie vorsorglich unter dem Bett versteckt hatte, schlüpfte barfuß hinein und schlich sich zur Tür, die leicht knarzte als sie den Knauf herunterdrückte. Vorsichtig spähte sie den spährlich beleuchteten Gang entlang. Keiner der Wachen durfte sie sehen. Unbemerkt und mit laut pochendem Herzen gelangte sie zur Kleiderkammer, wo sie die Rucksäcke, die sie für Eufe und Aruc gepackt hatte, vorsichtig aus ihrem Versteck holte.
Hoffentlich konnten Eufe und Aruc Schlaf finden. Die Flucht würde alles von ihnen abverlangen. Es war wichtig, dass sie ausgeruht waren. Obwohl Aruc nichts mehr ersehnte als dem Turm zu entkommen, wollte er zuerst nicht ohne seine Mutter gehen. Sie musste stundenlang auf ihn einreden bis er ihr glaubte, dass ihr keine Gefahr drohte, wenn sie alleine in Inthorm zurückblieb. Als sie die Angst in seinen Augen sah, hatte sie ihn umarmt und ihm zugeflüstert: „Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei“. Aruc hatte ihr geantwortet wie früher, wenn er sich als Kind in ihre Arme geflüchtet hatte: „ Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei.“ Es zerriss Ullren fast das Herz ihn gehen zu lassen, aber sie wusste, dass seine einzige Chance ein erfülltes Leben in Freiheit zu führen, die Flucht aus Inthorm war. Koste es was es wolle. Selbst wenn keiner der Unterberger sich vorstellen konnte, dass hinter den Höhlen die Freiheit lag. Ullren wusste es besser. Amo hatte ihr im Traum gezeigt, dass die Freiheit dort auf sie wartete.
Sie hastete den dämmrigen Gang entlang und erreichte die steile Wendeltreppe, die sie bis zum Haupttor der Festung bringen würde. Von dort aus musste sie unbemerkt in den Stall gelangen und die Ranzen in Falladas Satteltaschen verstecken. Sie gönnte sich keine Verschnaufpause und gelangte atemlos in den Innenhof von Inthorm. Obwohl es kalt war, war ihr Wollkleid feucht von den salzigen Schweißtropfen, die an ihren Armen und Rücken herunter rannen. Mit der Hand wischte sie sich eine klebrige Haarsträhne aus der Stirn. Immerhin war sie unbehelligt bis hierher gelangt. Im Stall roch es nach frischem Stroh, Pferdedung und Leder. Sie liebte diesen Ort. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, besuchte sie Fallada. Die prächtige Schimmelstute stand mit gespitzten Ohren in ihrem Verschlag und hatte Ullren bereits an ihren Schritten erkannt. „So meine Schöne, es ist soweit. Aruc und Eufe werden fliehen. Ich bitte dich meine Kinder sicher durch die Höhlen zu bringen. Versprich mir, dass du ihnen nichts geschehen läßt.“ Fallada schnaubte heftig und stupste Ullrens erhitzte Wangen mit ihren weichen Nüstern an. „Selbstverständlich passe ich auf die beiden auf. Mach dir keine Sorgen.“ Falladas Fell war weiß wie die Spitzen einer frisch gesprungenen Jasminblüte im Morgentau. Sie maß knapp neun Fuß und Ullren musste sich an ihrer welligen, silbergrauen Mähne, die fast bis zum Boden reichte, hochziehen, um auf ihren breiten Rücken zu gelangen. Ihre Vorder- und Hinterläufe waren ausgeprägt und fast so stark wie von einem Stier. Dennoch wirkte das Pferd grazil und königlich. Sie ließ niemanden außer Ullren und Aruc auf sich reiten. „Du wirst Eufe gern haben Fallada. Ich habe ihr schon so viel von dir erzählt. Endlich wird sie dich kennenlernen.“ Wieder schnaubte Fallada ungeduldig und peitschte ihren dichten Schwanz gegen die Holzwand der Box. Ullren musste unwillkürlich lächeln. „Eufe ist gut aufgehoben bei mir“. Durch Falladas Körper lief ein leichtes Schauern, während sie ihren edlen Kopf auf Ullrens Schulter legte. „Ich muss zurück und die Kinder holen Fallada. Du weißt was du zu tun hast. Danke meine Schöne, danke“, flüsterte Ullren und umarmte die Stute heftig. Fallada blieb gebückt vor Ullren stehen, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen.
Der Morgen graute. Nebelschwaden hingen dicht über den Moorfeldern, die Inthorm umgaben. Die Wachen froren unter ihren grobgewebten Sommerumhängen. Müde und gereizt gingen sie an der Festungsmauer auf und ab und ersehnten die Ablöse, um sich so schnell wie möglich mit einem heißen Krug Met auf ihren harten Holzbritschen in den Soldatenkammern auszustrecken. „Lang mache ich das doppelte Wacheschieben nicht mehr mit“, schimpfte der Bulligste von ihnen. Er nannte sich Veltron und war der Vater von Perchta, der Anführer der Bubenbande, der Aruc so böse zugerichtet hatte. Veltron hasste die Frau des Festungsmeiers und konnte es nicht verwinden, dass sein Stepke ausgerechnet vor einem Weib Schwäche gezeigt hatte und seit des Vorfalls nicht mehr der Redelsführer unter den Jungen war. Was bildete sich diese dahergelaufene Dorfschlampe mit ihren geheimnisvollen Kräutermixturen überhaupt ein. Als Hexe sollte sie verbrannt werden, genau wie dieses magere, verschreckte Hühnchen im Turmverlies. Schritte näherten sich. Er traute seinen Augen nicht. Was wollte ausgerechnet die Hexenschlampe mit ihrem missratenen Sohn und der Turmgefangenen zu dieser Stunde im Burghof? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Böse grinsend beschloss er ihren Plan zu durchkreuzen, was auch immer sie im Schilde führen sollte. Er würde sie bestrafen.
„Veltron öffne das Tor für mich und meinen Sohn. Wir bringen die Gefangene zur Moorfraune, um ihren Geist reinigen zu lassen. Brac befiehlt es, damit sie würdig sei, für Egom ihr Blut zu geben. „Herrin, zeig Bracs Bescheid, sonst wird dieses Tor weder für euch, noch sonst jemanden geöffnet“, entgegnete ihr Veltron gönnerhaft. „Du wagst es an meinem Wort zu zweifeln? Ich werde meinem Mann über deine Unverschämtheit Bericht erstatten und wehe sei dir Wächter“. Ullren versuchte hart und überzeugend zu klingen. Aber sie wusste selbst, dass sie nichts auszurichten vermochte, wenn Veltron sich ihr widersetzte. Der Wächter rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle und schaute sie herausfordernd an, ohne ein weiteres Wort an sie zu richten. Was sollte sie tun? Die Flucht musste durchgeführt werden, solange Brac betäubt war. Sie durften keine Zeit verlieren. Aruc und Eufe standen betreten neben ihr und sagten kein Wort. Ullren konnte ihre Angst und Mutlosigkeit förmlich riechen. Sie musste irgendetwas sagen, irgendetwas unternehmen. Amo was sollen wir tun? Hilf uns! Wir dürfen nicht hier, noch vor dem Anfang, verlieren! Von der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes, wo sich der Stall befand, hörte Ullren lautes Wiehern und Hufgestampfe. Obwohl sich die Szene am Tor in wenigen Sekunden abspielte, erschien es Ullren wie eine halbe Ewigkeit. Sie geriet in Panik, durfte sich aber weder vor den Kindern, noch vor dem Wächter etwas anmerken lassen. Es blieb ihnen nur ein Ausweg, der Sprung von den Zinnen in den Fluss. Allein bei dem Gedanken wurde Ullren übel. Ausserdem hatte sie dabei nicht bedacht, wie Fallada aus der Festung gelangen sollte. Wohl kaum mit Veltrons Einwilligung. Wieder wieherte Fallada und trat nervös gegen die Box. Ullren spürte die Botschaft ihrer Stute: „Mach dir um mich keine Sorgen, ich komme schon aus der Burg. Sie müßen es wagen.“ Ullren wurde schlagartig bewusst, dass Fallada recht hatte. Auf normalen Weg würden die Kinder nie aus der Festung gelangen. Sie mussten das Risiko auf sich nehmen und in den Fluss springen. Es war ihre einzige Chance.
Gefasst richtete sie sich an Veltron, der sie erwartungsvoll anstarrte und sich an ihren ratlosen Minen weidete.
„Wächter, wisse, dass ich diese Ungehörigkeit nicht durchgehenlassen werde und meinem Mann darüber berichten muss.“ Immer noch hoffte Ullren, dass Veltron doch noch das Tor für sie öffnen würde.
„So sei es Herrin, ich tue nur meine Pflicht.“ Veltron schaute sie herausfordernd an und grinste dabei.
„Aruc folge mir mit der Gefangenen. Wir werden mit deinem Vater über diesen Vorfall sprechen müssen“. Als sie ausser Sichtweite waren und hintereinander die steilen Stufen von Inthorm hinaufkletterten, erzählte sie Aruc und Eufe flüsternd von ihrem Plan. „Ihr müßt in den Fluss springen und ans andere Ufer schwimmen. Bis wir oben angelangt sind, ist es hell genug.“ „Mutter, du weißt doch, dass ich schwindelig werde in der Höhe. Das werde ich nie und nimmer über mich bringen“. Vor Angst hatte Aruc jegliche Vorsicht vergessen und laut gesprochen, so dass seine Worte in den hohen Gewölben der Burg widerhallten. „Leise Aruc, leise ich bitte dich“, flüsterte Ullren und legte ihrem Sohn den ausgestreckten Zeigefinger auf den Mund. Eufe war noch blasser als gewöhnlich und sagte kein Wort. Schritt für Schritt setzte sie einen Fuss nach dem anderen auf die Stufen und kam ihrem Turmverlies erbarmungslos näher. Besorgt beobachtete Ullren, dass sie am ganzen Leib zitterte. „Aruc, es gibt nur diesen einen Weg. Amo ist bei euch und wird euch beschützen. Es ist Eufes einzige Chance lebend aus Inthorm heraus zu kommen.“ Aruc ballte die Hände zu Fäusten und unterdrückte einen heftigen Aufschrei, der ihm die Kehle zuschnürte. „Aruc bitte, glaub an dich und an deine Stärke. Ich bin deine Mutter, ich weiß das du es kannst.“ Aruc war stehen geblieben und drehte sich zu Eufe um, die wie in Trance hinter ihm hergegangen war und ihren Blick starr zu Boden gerichtet hielt. „Warum sagst du nichts? Los sag endlich was“, herrschte Aruc sie ungehalten an. „Schließlich geht es um dein Leben, um dein Schicksal“. Aruc legte seine unbeholfenen Jungenhände auf Eufes gebeugte Schultern und schüttelte sie. „Aruc hör auf, lass sie“. Ullren war schützend hinter Eufe getreten und streichelte beruhigend über ihren zitternden Rücken. „Ich, ich kann doch nicht schwimmen“, stammelte Eufe schließlich leise ohne ihren Blick aufzurichten. Die Kapuze ihres Umhangs verdeckte ihr Gesicht. Lautlose Tränen tropften vor ihr auf den Steinboden. Ihr ganzer Körper vibrierte. Aruc hatte noch nie soviel Hoffnungslosigkeit und Trauer gespürt wie in diesem Moment, nicht einmal als er zerschunden und blutend vor der Holzwanne mit dem toten Kätzchen kniete. Wie konnte er es nur vergessen: Es gibt nichts zu fürchten. Ich bin stark und frei. Er würde nicht weiter als Opfer seiner Angst leben. Nein, er würde handeln, hier und jetzt. Er würde es schaffen Eufe zu befreien.
Aruc kniete vor Eufe auf der Treppe nieder und nahm ihre kalte, zitternde Hand in die seine. Er schaute ihr tief in die tränenüberflossenen Augen und erklärte mit fester Stimme: „Ich werde dich auf meinem Rücken tragen und auf die andere Seite bringen. Wir werden es schaffen. Du kannst dich auf mich verlassen.“ Ullren stand sprachlos hinter Aruc und Eufe und merkte erst, dass sie weinte, als Aruc sie besorgt fragte: „Mutter, was hast du? Warum weinst du?“ Lächelnd beeilte sie sich über die Augen zu wischen. „Nichts Aruc, nichts, es ist nur ... ich bin sehr, sehr stolz auf dich.“
Sie erreichten das Turmplateau ohne weiteren Zwischenfall und noch bevor die Wachen auf sie aufmerksam werden konnten, waren sie bereits hinter der Dornenhecke verschwunden, die Ullrens Garten vor neugierigen Blicken bewahrte. Ohne einen Laut von sich zu geben, winkte Ullren Aruc und Eufe zu der Eberesche, die meterhoch über die Zinnenmauer ragte. Mittlerweile war es fast hell geworden. Der Himmel war grau. Es war kalt und regnerisch.
Ullren beobachtete ihren Sohn und Eufe wie sie vorsichtig und konzentriert einen Schritt vor den anderen setzten, ständig bedacht darauf, auf keinen der Äste zu treten, die nach dem Gewitter der vergangenen Nacht überall verstreut lagen. Jeder Laut würde die Wachen auf sie aufmerksam machen. Aruc hatte Eufe an die Hand genommen und führte sie behutsam durch den Garten. Seine dunklen, dichten Locken hatten seine Kapuze auf die Schultern verdrängt. Tiefe Schatten betonten das dunkle Blau seiner Augen, dass an einen Sommerhimmel kurz vor Sturm erinnerte. Wie oft hatte Ullren ihn beobachtet, wenn er mit sehnsüchtigem Blick in die Ferne geschaut und gedankenverloren auf seiner breiten Oberlippe gekaut hatte, um sie im nächsten Moment verlegen anzugrinsen, wenn er sich ertappt fühlte. Ernst und Entschlossenheit lag jetzt in seinem Blick und Ullren wusste, dass ihr halbwüchsiger Sohn auf dem besten Weg war ein mutiger und guter Mann zu werden.
Ullren drehte sich nach allen Seiten um und vergewisste sich, dass keiner der Soldaten ihnen gefolgt war. Dann hastete sie leise zu Aruc und Eufe, die sie erwartungsvoll anschauten. Flüsternd erklärte Ullren: „Wir steigen über den Baum auf die Zinnen. Dort binde ich jeweils eine eurer Hände zusammen, damit ihr euch beim Sprung und unter Wasser nicht verliert.“ Ullren hielt inne und legte ihre Hand auf Eufes Schulter: „Du brauchst keine Angst zu haben Eufe. Aruc ist ein ausdauernder, sehr guter Schwimmer. Er wird dich sicher ans andere Ufer bringen.“ Aruc nickte und lächelte Eufe aufmunternd zu. „Fallada wird euch ans andere Ufer folgen. In ihren Satteltaschen habe ich Rucksäcke für euch versteckt. Darin findet ihr Kleidung, Proviant und einige Gegenstände, die euch nützlich sein werden. Ich bin im Gedanken immer bei euch. Unsere Liebe verbindet uns, wo auch immer ihr sein mögt. Amo beschütze euch.“
Eufe hielt krampfhaft Arucs Hand. Ihre Wangen waren erhitzt und gaben ihrem sonst blassen Gesicht einen rosigen Schimmer. Sie war fast so groß wie Aruc und schlank wie ein Gerte. Eine bernsteinfarbene Strähne hatte sich aus ihrem zurückgesteckten Haar gelöst und umrahmte ihr ausdrucksvolles Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den edel geschwungenen Brauen, die sich über den schräg stehenden aquamaringrünen Augen und der kräftigen Nase wölbten und ihr das Aussehen einer geschmeidigen Wildkatze verliehen. Zum ersten Mal fiel Ullren das Ausmaß von Eufes exotischer Schönheit auf, von der das Mädchen selbst nichts ahnte. Behende kletterte Aruc auf den Stamm der Eberesche und streckte seiner Mutter und Eufe die Hände entgegen, um ihnen beim Aufstieg zu helfen. Nacheinander hangelten sie sich über den längsten Ast bis auf die Zinnen. Allen dreien verschlug es den Atem beim Anblick des schwindelerregenden Abgrunds, der sich aus den Nebelschwaden gähnend vor ihnen auftat. Unerbittlich bannte sich der Fluß Unkam seinen Weg durch die Sümpfe in die Freiheit. Bevor sie es sich anders überlegen konnten, befahl Ullren rasch: „Schaut zum Horizont“. Sie löste ihren Ledergürtel und schlang ein Ende um Arucs linkes und das andere Ende um Eufes rechtes Handgelenk und band sie mit einem geschickten Knoten aneinander. Die Angst vor dem Sprung in die Freiheit, von den Wachen entdeckt zu werden und vor dem Abschied überfiel Eufe und Aruc wie ein lauernder Gauner aus dem Hinterhalt. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Nicht einmal die Blätter der Eberesche bewegten sich im kalten Morgenwind. Eine gnädige Leere bemächtigte sich ihrer Sinne. Wie aus weiter Ferne hörten sie Ullren. „Gebt mir eure Umhänge. Ja so ist es gut. Was immer geschieht verliert nie das Vertrauen in euch selbst. Amo ist mit euch. Ihr seid stark und frei.“
Sie hatten nicht mehr die Kraft sich umzudrehen, um nocheinmal in die gütigen Augen Ullrens zu blicken. Es gab nur noch diesen einen allesumfassenden Moment. Der Sprung in den Fluss, der sie in eine bessere Welt führen sollte. „Jetzt“, Ullren blieb auf den Zinnen zurück und sah wie die Körper von Aruc und Eufe in die Tiefe stürzten als wären sie leblose Puppen. Sie hatte ihre Hände gefaltet und betete leise. „So geht hin, euch selbst, eure Aufgabe und euren Weg zu finden. Amo schütze euch.“ Als sie Zeugin wurde wie Aruc und Eufe in den, vom rauhen Morgenwind aufgewühlten, Fluss eintauchten, riss sie die Stimme eines Wächters aus ihren Gedanken. „Herrin, was macht ihr da oben? Ich muss euch bitten mir zu folgen“. Ullren rührte sich nicht von der Stelle. Sie hielt ihre Augen gebannt auf das Wasser gerrichtet, um sich zu vergewissern, dass Aruc und Eufe den Sprung überlebt hatten. Doch kein Kopf tauchte an die Oberfläche. „Herrin, ich befehle euch meiner Anweisung nachzukommen“, rief der Wachsoldat ein zweites Mal und richtete drohend das Schwert auf sie. Ullren schreckte aus ihrer Starre. Sie durfte keinen Verdacht erregen. Sie musste Zeit für Aruc und Eufe gewinnen, bevor die Soldaten herausfanden, dass sie in den Fluss gesprungen waren. Es kostete sie ihre ganze Willensanstrengung sich nicht nocheinmal umzudrehen, um sicher zu gehen, dass sie inzwischen aufgetaucht waren. Langsam und so ruhig sie konnte kletterte Ullren über den Baum zurück auf das Turmplatteau. „Was ist geschehen, was hattet ihr auf den Zinnen zu suchen?“ Die Stimme des Wächters klang drohend. „Ruft meinen Mann“, verweigerte Ullren hoheitsvoll die Antwort. „Das haben wir bereits versucht. Er liegt bewusstlos in euren Gemächern. Ich muss euch abführen. Ich bitte euch, euch mir nicht zu widersetzen, sonst muss ich Gewalt anwenden.“ Ullrens einziger Gedanke galt Aruc und Eufe.
Vom Burghof ertönte lautes Wiehern und Stampfen. Holz splitterte. Der Wachmann neben ihr fluchte und trieb sie unsanft zur Eile an. „Das geht mit dem Teufel zu.“ Ullren wusste es besser. Fallada hatte die Bretterwand des Stalls durchbrochen und war aus dem Stand über die Festungsmauer gesprungen. Die Torwächter schrien aufgebracht durcheinander. Ullren ließ sich widerstandlos von dem Soldaten abführen. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Daran konnte kein Sterblicher irgendetwas ändern, nicht einmal Egom, dachte sie insgeheim und folgte dem Wächter, der sie an ihren Gemächern vorbei zum Eingang des Nordflügels führte. Bedrohlich ragte das schwere Eisentor mit spitzen Giftzacken vor ihnen auf. Ausgerechnet Veltron wartete dort auf sie. Von allen Wächtern wollte Ullren am wenigsten mit ihm zusammentreffen. „Wen haben wir denn da?“, grinste er Ullren unverschämt an und zeigte dabei eine Reihe schwarzer abgestorbener Zahnstumpen, die noch nicht gänzlich in seiner Mundhöhle verfault waren. Obwohl er eigentlich schon von der Morgenwache abgelöst sein sollte, um auf seiner Holzbritsche zu schnarchen, genoss er es Ullren als Gefangene vor sich zu haben. Er war bester Laune, obwohl mittlerweile die Flucht der Gefangenen bemerkt worden war. Ihm konnte das nicht angehängt werden. Brac musste sich dafür verantworten. Und da er sich von seinem eigenen Weib hinters Licht hatte führen lassen, erhöhten sich Veltrons Chancen beträchtlich ihn in Kürze als Festungsmeier abzulösen. Besser hätten sich die Dinge für ihn gar nicht entwickeln können. „Ich hoffe die Herrin hatte Zeit sich den Bescheid des Festungsmeiers zu holen“, richtete er sich übertrieben höflich an Ullren und zwinkerte dabei verschlagen.
Veltrons aufgedunsenes Gesicht, dass seinen übermäßigen Genuss von stark gebranntem Fusel nicht verhehlen konnte, verzog sich zu einer hämischen Grimasse. Die Haare hatte er sich mit einer groben Klinge selbst geschoren und auf seiner narbigen Kopfhaut zeigten sich zahlreiche, bereits eingetrocknete Blutspuren, von den Wunden, die er sich ungeduldig bei der Kahlrasur selbst zugefügt hatte. Die üppige Behaarung, die aus seinen fleischigen Ohren und der Zinkennase quoll und auf seinem massigen Handrücken wucherte, schuf den Anschein die Platte seines Kopfes wett machen zu wollen. Er hätte sich gerne der schönen Herrin etwas näher angenommen und sie sich gefügig gemacht. Meine Zeit kommt noch mein Täubchen, verlass dich drauf, begnügte er sich, Ullren im Gedanken zu drohen.
„Ich möchte sofort zu meinem Mann gebracht werden“, verlangte Ullren und konnte selbst hören, wie wenig überzeugend ihre Stimme klang. Sie wusste nur zu gut, dass Brac bis zur Abenddämmerung bewusstlos sein würde. Noch war es früher Morgen. Ausserdem, wie sollte sie ihm seine Betäubung und die Flucht von Eufe und Aruc erklären? Veltron rührte sich nicht von der Stelle und ignorierte gönnerhaft den Befehl der Festungsmeierfrau. Er ergötzte sich daran, dass sie ihm ausgeliefert war. Doch wollte Ullren ihm keinesfalls die Genugtuung geben sie schwach und ängstlich zu sehen. Gefasst schaute sie Veltron in die boshaften Augen und erklärte hoheitsvoll: „Ich hatte nicht die Gelegenheit mir die Anweisung meines Mannes schriftlich geben zu lassen. Nehmt mich gefangen, wenn ihr Angst habt, dass ich euch entfliehen könnte, ich werde mich nicht widersetzen.“ Was erlaubte sich diese eingebildete Schlampe. Veltron war außer sich, er hatte gehofft Ullren würde ihn bitten, nein betteln, um sie gehen zu lassen. Nun gut, sollte sie ihren Willen haben.
Erst als das kalte Wasser über Aruc zusammen schlug und Eufes Gewicht ihn bleischwer in die Tiefe zog, kam er zu sich. Verzweifelt versuchte er an die Oberfläche zu gelangen. Er nestelte an dem Knoten, der seine linke Hand mit Eufe verband, die leblos an ihm hing und ihn daran hinderte zu schwimmen. Seine Lungen drohten zu zerbersten. Panik hatte von ihm Besitz ergriffen. Er strampelte, zerrte an dem Lederriemen um sein Handgelenk und war unfähig an etwas anderes zu denken als an Luft. Er brauchte Sauerstoff. Arucs Bewegungen wurden langsamer, das dumpfe Tiefgrün des Flusses verwandelte sich in undurchdringliche Schwärze. Er spürte wie ihm langsam die Sinne schwanden. Plötzlich gab der Knoten nach. Mit letzter Kraft riss er seine Arme aus der Starre seines Todeskampfes und strebte wie ein aufgedunsener Moosklumpen der Oberfläche entgegen. Gierig wie ein Rudel hungriger Wölfe, die sich auf das noch warme Fleisch eines frisch gerissenen Hirsches stürzen, sog er die klamme Morgenluft in sich auf bis er das Gefühl hatte, dass ihm die Schläfen das Gehirn durch die Schädeldecke drückten. Sein Oberkörper schmerzte, sein linker Arm war ohne Gefühl. Wie mit einem Hammerschlag wurde ihm bewusst das Eufe nicht mehr bei ihm war und auf dem Grund des Flusses lag. Nein, nein sie durfte nicht sterben, sie vertraute ihm, er hatte ihr versprochen sie zu retten. In panischer Angst um Eufe tauchte Aruc erneut in das kalte Wasser und schwamm so schnell er konnte bis auf den Grund. Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Wieder spürte er wie ihm die Luft zum Atmen ausging. Er musste Eufe finden, er durfte nicht versagen. Die letzten Worte, die Ullren zu ihnen auf den Zinnen gesagt hatte, klangen wie der Gesang von Sirenen in seinen Ohren. Verliert nie das Vertrauen in euch selbst. Unter Aufgebot all seiner Kräfte suchte Aruc weiter, obwohl er der Ohnmacht nahe war. Verzweifelt tastete er sich auf dem schlammigen Grund des Flusses entlang. Plötzlich spürte er den samtenen Schleier von Eufes langen Haaren unter seinen Fingern. Fieberhaft packte er sie unter den Armen und entriss sie dem morastigen Flussgrund, indem er sich so fest er konnte mit beiden Beinen vom Boden abstieß. Eufe fest umklammert, schoss Aruc wie ein Pfeil an die Wasseroberfläche. Eufe war noch immer bewusstlos. Vom Turm hörte Aruc Rufe und lautes Wiehern. Die Wachen, ging es ihm durch den Kopf, sie sind auf uns aufmerksam geworden und verfolgen uns. Was wird mit Mutter geschehen? Was werden sie mit ihr machen? Denk an nichts, schwimm einfach, schwimm, hörte er die Stimme seiner Mutter im Gedanken. Aruc schwamm um ihrer aller Leben, wie er noch nie zuvor geschwommen war. Als ihn die Erschöpfung zu überwältigen drohte, gelangten sie mit der Hilfe eines großen Fisches, der sich ihrer erbarmt hatte, ans andere Ufer. Kaum spürte er festen Boden unter den Füßen, schleppte Aruc sich mit Eufe auf den Armen ans Ufer und bettete sie ins Gras. Immer wieder presste er seine Arme auf Eufes Oberkörper und versuchte das Wasser aus ihren Lungen zu drücken. „Komm schon wach Eufe, bitte. Du darfst nicht sterben“. Die Tränen strömten ihm hemmungslos über die Wangen. Lautes Hufgetrappel ließ ihn aufhorchen. Fallada preschte wie ein gleißender Blitz mit wehender Mähne auf ihn zu. „Schnell setze Eufe auf meinen Rücken. Beim Galopp wird sich das Wasser aus ihren Lungen lösen.“ Mit einem lauten Schrei hievte Aruc das leblose Mädchen auf die Schimmelstute und sprang hinter ihr auf den Pferderücken und umklammerte Eufe. Binnen weniger Sekunden stoben sie in gestrecktem Galopp in Richtung Wald davon. Schon nach der ersten Erschütterung begann Eufe Wasser zu spucken und kam keuchend zu sich. Aruc konnte sein Glück kaum fassen. Außer sich vor Erleichterung und Freude jubelte er: „Wir haben es geschafft! Eufe wir haben es geschafft! Wir sind frei!“ Dabei drückte er das verdatterte Mädchen so fest an sich, dass es keine Luft mehr bekam. „Aruc, ich ersticke. Wo sind wir? Was ist geschehen? Wo ist Ullren?“ Fallada hatte den rasanten Galopp, den sie vorgelegt hatte etwas gedrosselt, um Eufe nicht noch mehr zu erschrecken und das Reiten zu erleichtern. Aufgekratzt rief Aruc ihr zu: „Wir sind in den Fluß gesprungen. Du bist dabei ohnmächtig geworden und ich habe dich vom Grund herausgetaucht und ans Ufer gebracht. Na ja, genau genommen hat mir ein Fisch auch noch dabei geholfen.“ Obwohl Aruc sich alle Mühe gab seine Tat so nebenher wie möglich zu erzählen, hatte er sich noch nie so glücklich und mutig gefühlt. Er hatte seine erste richtige Heldentat vollbracht. Er hatte sie beide gerettet. Eufe versuchte sich zu ihm herumzudrehen und kam ins Schwanken. Wenn Aruc sie nicht von hinten festgehalten hätte, wäre sie vom Pferd gestürzt. „Vorsicht Eufe, pass auf, sonst fällst du noch runter.“ Eufe hielt sich krampfhaft an Falladas Mähne fest. Aruc legte seinen Kopf vertraulich auf ihre Schulter. Eufe wandte ihr Gesicht zu ihm, so dass sich ihre Wangen berührten und flüsterte: „Danke Aruc. Was würde ich nur tun ohne dich.“ Eufes Stimme zitterte. „Ach nicht der Rede wert, ich hab´s dir doch versprochen“, winkte Aruc ab und spürte wie seine Brust vor Stolz anschwoll. „Wir sind noch lange nicht in Sicherheit“, mischte sich Fallada nüchtern ein. „Egoms Wachen sind hinter uns her. Wir haben nur eine Chance, wenn wir so schnell wie möglich zu den Höhlen gelangen.“ „Zu den Höhlen, wir sollen durch die Höhlen?“ Aruc wurde es mulmig. Davon hatte seine Mutter nichts erwähnt. Jeder wusste, dass die Höhlen verboten und Herberge von so manch grausigem Bewohner waren. Jedenfalls war es das Lieblingsthema der Bubenbande von Inthorm gewesen über die Schrecken zu berichten, die auf Jeden warteten, der sich in die Steiner Höhlen wagen sollte. Eufe stutzte: „Mit wem redest du denn Aruc? Es ist doch niemand hier außer uns?“ „Ja eben, ich rede mit Fallada“, antwortete ihr Aruc selbstverständlich. „Wie kannst du denn mit Fallada reden? Ein Pferd spricht doch nicht.“ Eufe mochte ihr Leben bisher in einem Verlies im Turm verbracht haben, aber sie wusste das Tiere nicht sprechen konnten. „Da irrst du dich Eufe. Mutter hat mir beigebracht Fallada zu verstehen. Es ist ganz einfach. Du musst dich nur auf sie einlassen.“ Eufe spürte den warmen Pferderücken unter sich und bevor sie wusste was mit ihr geschah, bekam sie ihre Antwort von Fallada, die unaufhörlich weiter galoppierte: „Ja meine Schöne, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als du dir je in deinem Turmverlies hast träumen lassen.“
Ullren wurde von den Wachen vor dem Nordportal zurückgelassen. Hände und Beine mit harten Stricken so eng aneinander gefesselt, dass es ihr unmöglich war auch nur die geringste Bewegung zu machen. Die Giftzacken des Eisentors ragten so nahe an ihren Körper, dass die kleinste Schwächeerscheinung unweigerlich ihren Tod bedeuten würde, wenn sie nach hinten kippte und sich, die mit Skorpiongift getränkten Eisenspitzen in ihr Fleisch bohrten.
Ullren wusste nicht wie lange sie bewegungslos so dagestanden hatte. Waren es Minuten oder Stunden? Sie hatte jeglichen Zeitbegriff verloren. Es war totentstill, kein Laut, kein Geräusch, nur ihr eigener Herzschlag, der ihr in den Ohren toste. Mit schier übermenschlicher Kraftanstrengung hielt sie dem Verlangen stand sich anzulehnen. Ullren horchte auf. Schritte kamen näher. Es waren Bracs Schritte. Ullren kannte den holpernden, energischen Gang ihres Mannes nur zu gut. Was wird er mit mir machen?, schoss es ihr durch den Kopf. Was sollte sie ihm sagen? Brac wurde von einem der Wächter begleitet. Gott sei Dank, es war nicht Veltron. Bracs Gesicht hatte einen noch härteren Ausdruck als sonst. Er hatte sich nicht die Zeit genommen seinen Gehrock anzuziehen. Seine Haare hingen ihm wirr in die flammenden Augen. Außer sich vor Wut riss er Ullren von dem gefährlichen Portal weg. „Lass uns allein“, herrschte er den Wächter an, der sich unwillig entfernte und zwischen seinen schmierig gelben Zähnen, „aber nur einen Moment, hervorstieß. Als er außer Sicht- und Hörweite war umarmte Brac seine gefesselte Frau, um sie gleich darauf brüsk von sich zu stoßen. „Was hast du getan Ullren? Warum? Du hast dein eigenes Todesurteil unterschrieben und ich kann nichts für dich tun. Nichts hörst du, nichts. Egom hat mich aus Inthorm verbannt.Veltron ist der neue Meier. Ich bin von nun an verdammt dazu als Geächteter mein Leben zu fristen. Schuld daran ist diese Hexe.“ Bracs Gesicht war aschfahl und eingefallen, in seinem Blick lag Hoffnungslosigkeit und blinder Hass. „Sie hat mich und meine Familie zerstört, mir alles genommen. Ich bin nichts mehr, ich bin verloren. Du bist eine Verräterin. Du bist gegen mich. Du bist eben so wenig wert wie diese Hexe. Du hast mir meinen Sohn genommen, mein Leben. Oh wie ich euch hasse.“ Brac spuckte verächtlich vor Ullren aus und schlug ihr mit dem flachen Handrücken ins Gesicht. Sie verlor das Gleichgewicht und während sie wie ein Kartoffelsack auf den harten Steinboden fiel, streifte sie mit der linken Schulter eine der Giftzacken. Der stechende Schmerz explodierte in ihrem Kopf und verklebte ihre Sinne wie purpurrotes Siegelwachs. Ihr letzter Gedanke galt Aruc, Eufe und Fallada auf ihrem großen Weg.
3.Der Inhalt der Rucksäcke
Es dämmerte bereits. Fallada galoppierte ohne Unterlass mit Aruc und Eufe auf dem Rücken und ließ nicht eher nach, bis sie endlich die Baumgrenze zum Steiner Wald erreicht hatten und sicher sein konnten, dass die Verfolger fürs Erste abgeschüttelt waren. Fallada verlangsamte ihr Tempo erst als der dichte Laubwald sie in seinem schwarzen Schattenlabyrinth verschluckt hatte. Erschöpft kam sie unter einer riesigen Kastanie zum Stehen, deren Äste sich wie eine Laube über den moosigen Waldboden ausbreiteten. Aruc ließ sich stöhnend auf den Boden gleiten. Danach half er Eufe fürsorglich beim Absteigen. „Mir knurrt der Magen und ich kann kaum stehen, geschweige denn gehen, so weh tut mir mein Hinterteil und meine Schenkel“, brummte er gereizt und schaute Fallada dabei vorwurfsvoll an. Von der anfänglichen Euphorie der Flucht war bei ihm nicht viel übrig geblieben. Eufe sagte nichts und strich Fallada zärtlich über die weichen Nüstern und klopfte ihr die schweißverklebte Flanke. Das schöne Tier war gebannt von Eufes Lieblichkeit und schien keine Notiz von Aruc zu nehmen, der sich nur noch mehr ärgerte. Da ihn niemand beachtete, machte er sich an den Satteltaschen von Fallada zu schaffen und brachte die beiden Rucksäcke zu Tage, die Ullren fürsorglich für sie gepackt hatte. Erwartungsvoll öffnete er den Ranzen aus Sackleinen, der ein in Rindsleder gebranntes A auf dem Verschlußriemen trug. Gierig steckte er sich ein Stück salzigen Weizenkuchen in den Mund, den seine Mutter ihm reichlich in einem irdenen Töpfchen mitgegeben hatte. „Eufe, komm mach deinen Beutel auf und iss mit mir. Hier sind frische Möhren und Äpfel aus Mutters Garten Fallada.“ Die Schimmelstute schnaubte ihnen warme, nach Heu und Rosskraut duftende Luft ins Gesicht und machte sich genüßlich über die Leckerbissen her. Eufe hatte sich neben Aruc ins Gras gesetzt und war dabei ihren Proviant auszupacken. Eine Weile war es mucksmäuschenstill zwischen den Dreien. Zirpende Waldgrillen und das Rascheln der Kastanienblätter im Abendwind erfüllten ihren Rastplatz mit einer friedlichen Stimmung und ließ sie sich für kurze Zeit in Sicherheit wähnen. Kaum hatte Aruc seinen Hunger gestillt, machte er sich daran den restlichen Inhalt seines Rucksacks vor sich auszubreiten. Er brachte eine Adlerfeder, einen grünen Lederbeutel gefüllt mit getrockneten Kräutern, ein silbriges Band, ein Steinmesser und einen Kiesel zum Vorschein. Auch Eufe hatte ihren Beutel ausgepackt und alles daraus zu tage tretende auf einem Stein vor sich aufgereiht: eine schwarze Kerze, ein Holzrohr, ein in grün und blau Tönen schillernder Schmetterlingsflügel, ein rosenholzfarbenes Kristall und ein feines Goldkettchen, das ein Anhäger in Blattform zierte auf dem zwei Spiralen graviert waren, die in Herzform zusammenliefen. Eufe hielt das Schmuckstück staunend zwischen ihren Fingern. Ratlos sahen sich Aruc und Eufe an. „In der Satteltasche ist noch ein Brief an euch von Ullren“. Fallada schnaubte und peitschte mit ihrem langen Schweif lästige Fliegen von ihrem Rücken. Aruc sprang auf und nestelte an Falladas Satteltasche bis er den Brief seiner Mutter gefunden hatte. Er räusperte sich und las mit lauter Stimme:
Meine geliebten Kinder,
lasst Inthorm hinter euch und traut nur eurem Instinkt und eurem Herzen. Fallada wird euch sicher führen. Habt keine Angst vor den Höhlen. Gerade dort werdet ihr vieles über euch selbst und euren Weg erkennen. Die Gegenstände, die ich euch mitgegeben habe sind mir von meiner Mutter vermacht worden. Amo hat mir aufgetragen sie euch mit auf den Weg zu geben. Lasst euch nicht aufhalten, von Nichts und Niemandem. Denkt immer daran: All das was ihr euch vorstellen könnt, ist möglich. Es gibt nichts zu fürchten, ihr seit stark und frei.
Macht euch keine Sorgen um mich. Wenn es an der Zeit ist, werden wir uns wieder sehen.
Amo sei mit euch
In Liebe
Mutter
Als er geendet hatte, tropften salzige Tränen von Arucs Wangen auf das Pergament in seinen bebenden Händen. Eufe stand neben ihm und wischte sich mit dem Handrücken über die tränenden Augen. Keiner von ihnen sagte ein Wort bis Aruc mit heiserer Stimme verkündete: „Wir werden es schaffen Mutter. Du kannst dich auf uns verlassen.“ Fallada schnaubte zustimmend. Eufe nickte und wiederholte Arucs Worte entschlossen: „Wir werden es schaffen“. Sie hatte noch immer die Kette in der Hand und begann im Zwielicht der Dämmerung die Gravur des Blattanhängers genauer zu betrachten. Das eigentümliche Gefühl den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit gefunden zu haben bemächtigte sich ihrer. Die Kette war zu kurz für ihren Hals und zu lang für ihr Handgelenk. „Wo soll ich die Kette denn tragen?, wandte sie sich hilfesuchend an Aruc.
Umständlich nestelte er mit seinen etwas unbeholfenen Jungenhänden an dem Anhänger, der so fein gearbeitet war, dass er Sorge hatte ihn zu beschädigen. „Versuch es doch an einem deiner Fußgelenke“, überlegte er laut. Eufe befolgte seinen Rat und wand die Kette um ihr linkes Fußgelenk. Staunend betrachtete sie das glitzernde Goldband an ihrer schlanken Fessel. „Wir müßen weiter. Der Eingang zu den Höhlen ist unter dem Stein Kalypto verborgen“, ermahnte Fallada sie zum Aufbruch. „Was bedeutet Kalypto?“, fragte Eufe neugierig. „Verhüllende Nacht“, antwortete Fallada, was der Stute sofort leid tat, nachdem sie die erschreckte Miene von Eufe sah. „Und wo ist der Stein?“ mischte Aruc sich ungeduldig ein. Er hoffte dabei von seiner eigenen Angst abzulenken, die nach ihm schnappte, wie die Fallquetschen nach den Ratten, die sein Vater überall im Turm aufgestellt hatte. „Es bedeutet auch so viel wie Schleier“, versuchte Fallada das ängstliche Mädchen zu beruhigen. „Na das sind ja schöne Aussichten“. Aruc war beleidigt, dass Fallada auf Eufes Frage geantwortet hatte und von ihm keine Notiz nahm. „Ich weiß immer noch nicht nach welchem Stein ich Ausschau halten soll“, murrte Aruc ungehalten. Fallada vermied es weiterhin Arucs Frage zu beantworten und verfiel in einen schnellen Trab. Ihr Schweif fegte über die Büsche und niedrigen Kletterpflanzen des Waldes hinweg. Ab und zu verhakte sich ein Büschel ihres üppigen Schweifes und blieb hängen. Obwohl Fallada es hasste an Fell und Mähne gerissen zu werden, bemerkte sie es kaum. Sie mussten den Höhleneingang finden, bevor der letzte Rest Licht an die Nacht verloren war. Längst konnten die Drei die blassen Umrisse des Mondes ausmachen, der fast seine volle Gestalt angenommen hatte. Nach einiger Zeit verlangsamte Fallada ihr Tempo und machte an einem Bach halt. Gierig erfrischten sie sich an dem klaren, kühlen Waldquell und fühlten neue Lebenskräfte in sich aufsteigen. „Wo ist er nun der Stein Fallada?“ Aruc wischte sich über den Mund und schaute die Stute erwartungsvoll an. „Das wirst du wissen, sobald wir ihn gefunden haben.“ „Wie ... sobald wir ihn gefunden haben? Du weißt nicht wo der Stein ist gibs endlich zu! „Aruc“, versuchte Eufe zu vermitteln, „Ullren hat versprochen, dass Fallada uns sicher führen wird. Wir müssen ihr vertrauen.“ Aruc kämpfte innerlich gegen seinen Stolz. Schließlich war er es, der Eufe aus dem Fluss gerettet hatte. Warum sollte Fallada alles besser wissen und ihn noch dazu als dummen Jungen behandeln. Im Geiste sah er seine Mutter vor sich. Sie lächelte ihm zu und strich ihm begütigend über die Wange. Unwillkürlich erhob Aruc seinen Blick und sah wie über ihnen ein Steinadler seine Bahnen zog. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er wollte nicht werden wie sein Vater, rechthaberisch und mürrisch. Fallada hatte ihn schon auf ihrem Rücken getragen als er noch nicht einmal laufen konnte. Einlenkend streckte Aruc seine Hand aus und legte sie sanft auf Falladas Nüstern. „Tschuldige Mylady. Ich vertaue dir und werde dir folgen wohin du uns führst.“
4. Im Reich der Baumsänger
Vielstimmiger Gesang erfüllte die Kronen der mächtigen Sequoiadendronen. Die Zweige der Baumriesen wuchsen bis in die Wolken. Das Lied aus den Kehlen befremdlich schöner Frauen und Männer, deren ebenmäßige Gesichter mit blauen ineinander verschlungenen Blättern auf Stirn und Wangen bemalt waren, schwang in der frischen Morgenluft und begleitete die rythmischen Bewegungen ihrer grazilen Körper. Sie gehörten dem Volk der Baumsänger an, dass sich vor vielen tausend Jahren unter den Mammutbäumen niedergelassen hatte. Dort lebten sie fast sechshundertfünfzig Fuß hoch auf den Baumwipfeln, wo sie geschützt von den üppigen Laubdächern die Stadt Walden errichtet hatten. Statt Gassen und Straßen waren ihre dreistöckigen Häuser, die aussahen wie runde, mit Moos und Blättern bewachsene Holziglos, durch schwingende Brücken aus geflochtenem Hanf verbunden. Die Größe der Kosis, wie die Baumsänger ihre Häuser nannten, die sich wie Bienenwaben an die Äste schmiegten, richtete sich nach der bis zu siebzig Fuß breiten Dicke der Baumstämme. Vor und hinter den Kosis hatten die Baumsänger hängende Blumenbeete und Gemüsegärten angepflanzt. Die schönen Künste bildeten die Grundlage ihrer hohen Kultur, von der niemand wusste, woher sie stammte. Die hängenden Gärten von Walden waren nur eine der Meisterproben ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten. Sie bestanden aus unzähligen Schichten von wild gewachsenem Kautschukm, die die Baumsänger mit Erde und Humus beschichtet und allmählich mit Gemüse, Büschen, Blumen, ja sogar Bäumen bepflanzt hatten. Das ständig dichter und stärker werdende Wurzelreich verwandelte sich nach und nach in ein massives Erdplatteau, das sich homogen in die Baumkuppeln einfügte und aus Walden eine schwebende Stadt unter den Wolken gemacht hatte. Selbst Seen gab es in Walden. Die Erdbecken hatten die Waldener mit bunten Steinen und Kristallen besetzt und fingen darin das Regenwasser auf. Aufgrund des hohen Mineralanteils übte das Wasser eine energiespendende und heilende Wirkung aus. Es war keine Seltenheit für einen Baumsänger aus Walden tausend Jahre alt zu werden. Trotz des hohen Alters, das sie erreichten, blieben ihre Körper jugendlich und ihre Gesichter von den Zeichen der Zeit verschont. Sie wussten um die grenzenlosen Kräfte der Natur und nutzten dankbar ihre Schätze. Sie bereiteten köstliche Speisen aus den Blättern, Wurzeln, Samen, Körnern, Gemüse und Früchten, die ihnen der Wald großzügig schenkte. Mit harzbehandelten Gräsern und Kastanien webten sie herrliche Stoffe aus denen sie fantasievolle Gewänder nähten, die mit den farbenprächtigsten Mustern und Formen der Pflanzen- und Tierwelt des Waldes wetteifern konnten. Aus Rinde, Lianen und Hanf gewannen sie natürliche Baumaterialien für ihre architektonischen Wunderwerke. Mittelpunkt von Walden war das Seminarium Werden. Die Studierlauben, die einen Kreis bildeten waren von Rosenranken und wildem Wein umwuchert und durch Erker miteinander verbunden. Dort verbrachten die Baumsänger ihre Zeit mit Lesen, Schreiben und dem Studieren der Metalehren, die darauf ausgerichtet waren ihre Sinne zu erweitern und ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Telepathie stand ebenso auf dem Stundenplan wie die Materialisation von Wünschen, Traumdeutung und die Verständigung mit Tieren, Pflanzen und den Elementen wie Wasser, Feuer, Luft und Erde. Im angrenzenden Canticum wurde 24 Stunden gesungen. Für die Baumsänger war die Musik Lebenselexier. Sie besuchten das Canticum zu jeder Tages- und Nachtzeit, um sich von den magischen Gesängen in eine andere Dimension entführen zu lassen. Während Unterbergen trist war und unter dem Joch der Tyrannei zugrunde ging, war Walden Inbegriff von Harmonie und Schönheit. Leuchtende Schmetterlinge schwebten durch die flirrende Luft und ließen sich von Zeit zu Zeit auf den Seen treiben, die je nach den Edelsteinen aus denen ihr Grund beschaffen war, in allen Farben des Regenbogens schillerten: tiefes grünblau des Amazonit, goldenes Gelb des Citrin, dunkelrot des Granats, moosgrün des Achats, altrosa des Rosenquarzes, blassrosa des Jadesteins, nachtblau des Lapislazuli und im Glanz von Sternenstaub des blitzenden Glimmersteins. Besonderer Stolz der Waldener war ihr Turmalinsee,der allen Farben gleichzeitig schillerte. Magnetische Spannungen brachten die Steine auf dem Grund des Sees in Schwingung und erzeugten dadurch glockige Töne auf der Wasseroberfläche. Abgeschirmt von dem dichten Blätterwerk der Bäume, in Höhen, die kein bloßes Auge erfassen konnte, lebten die Baumsänger in vollkommener Freiheit. Anstatt eines Königs oder Ministers wurde von Ygdar, dem Baum der Weisheit, alle dreihundert Jahre unter den Frauen eine Hathore ernannt. Während ihrer Amtszeit war sie für das Wachstum, Gedeihen und Wohlergehen ihres Volkes und der Natur verantwortlich. Anläßlich der Wahl gab es ein großes Fest im Astrum, ihrem Theater. Von der Freiluftbühne aus, die sie Himmelssteg nannten, konnten sie auf der einen Seite bis weit über die abgeholzten verstümmelten Wälder von Unterbergen und auf der anderen Seite bis zu den glänzenden Seen und Tälern von Überbergen schauen. Die Waldener liebten es sich im Astrum zu präsentieren. Täglich gab es dort Liederabende, Poesie und Geschichtslesungen, Tanzdarbietungen, die Vorführung ausgefallener Roben und die Ausstellung von Gemälden, Möbeln, Schmuck und jeder Art von Kunstgegenständen. Schon in ihren ersten Lebensjahren wurden die Waldener Kinder spielerisch zu individuellem Ausdruck ihrer Begabungen inspiriert. Der Fantasie war keine Grenzen gesetzt.
Für die Baumsänger bedeutete Erschaffen und Ausdruck von Kunst die Verehrung Gottes, den sie nicht außerhalb von sich selbst suchten, sondern in ihrem eigenen Inneren.
Ygdar wölbte seine dichten Zweige huldvoll über die Köpfe der Waldener, die sich erwartungsvoll im Astrum versammelt hatten und hob mit wurzeltiefer Stimme seine Rede an. Hätte ein Nichtwaldener die Szene beobachtet, dem wäre Ygdars Ansprache wie das bloße Rascheln von Blättern im Wind erschienen. Die Waldener jedoch verstanden jedes Wort von ihm: „Meine geliebten Schwestern und Brüder. Wir sind heute hier versammelt um unsere neue Hathore zu ernennen. Ich habe mich lange beratschlagt mit dem Rat der Ältesten und unsere Wahl ist auf Lovan gefallen.“ Ein Raunen ging durch die Menge und alle Blicke waren auf eine Frau gerichtet, die selbst unter dem schönen Volk der Baumsänger besondere Aufmerksamkeit erregte. Ihre Augen waren groß und klar wie das Wasser eines Bergsees, ihre Lippen fein geschwungen, von der Farbe reifer Walderbeeren. Sie trug ein schillerndes, den blaugrünen Flügeln der Taubenfalter nachempfundenes, Kleid aus gesponnenem Heidekraut und Kobaltseide. Ihr langes Haar leuchtete im Sonnenlicht wie kupferglänzender Zimt. Sie trug es zu mehreren Zöpfen geflochten, die sie kunstvoll ineinander verschlungen hatte unter einem Kranz aus weißen Margeriten. Alles an ihr strahlte von innen. Ygdar fuhr fort: „Lovan ist besonnen und stark, großzügig und von feiner Gesinnung. Sie hat die Prüfungen in ihrem Leben würdevoll und mit Güte getragen und deshalb wissen wir, dass sie den Waldenern eine fähige Hathore sein wird und ihrem Volk mit Liebe, Weisheit und Mut dienen wird.“ Lauter Jubel ertönte und Ygdars Blätter raschelten rythmisch zu den stürmischen Beifallsbezeugungen der Umstehenden, die immer wieder Lovans Namen riefen und sie hochleben ließen. Nachdem sich der tosende Applaus gelegt hatte, trat Lovan aus der Menge und kniete sich unter die Blätterkuppel Ygdars. Mit klarer, samtener Stimme sang sie vor aller Augen den Schwur:
„Wir sind die Schwestern und Brüder der Bäume. Wir sind Teil der Natur. Walden ist unsere Heimat. Ich gelobe meinem Volk zu dienen, es zu führen und zu schützen. Ich gelobe durch mein Sein Harmonie, Schönheit und Liebe zu bringen.“
Ygdar neigte seine Zweige zu Lovan herab. Eine glänzende Liane streifte ihren Kopf. Andächtig richtete sie sich auf und ergriff den Pflanzenstrang, der sich wie von selbst aus dem Blätterwerk löste. Ehrfürchtig legte sie sich das glitzernde Gewächs um den Hals. Niemand sagte ein Wort. Alle starrten gebannt auf Lovan und schienen den Atem anzuhalten. Die silberne Liane war das Wahrzeichen der Hathore und verlieh ihrer Trägerin die Gabe sich in jedem Ausdruck der Schöpfung selbst zu erkennen. Als Lovan das Pflanzenband glatt und geschmeidig an ihrem Kehlkopf spürte, begannen ihre Augen zu leuchten. Ihre Brust hob und senkte sich heftig. Um ihre Lippen spielte ein entrücktes Lächeln. Nur der Rat der Ältesten, der aus den vorangehenden Hathoren gebildet war, konnte ermessen welche gewaltige Sinneswahrnehmung Lovan zuteil wurde. Tränen standen in ihren Augen. Sie fühlte sich eins mit dem kleinsten lebenden Organismus des Universums und zugleich mit der Unendlichkeit der Schöpfung. Bedingungslose Liebe erfasste ihr ganzes Denken, Fühlen und Sein. Es gab nichts außer Liebe in ihrem Herzen und den brennenden Wunsch zu dienen, zu verbinden und zu schöpfen. Andächtig beobachteten die Waldener den bewegenden Moment in dem aus der Baumsängerin Lovan ihre neue Hathore von Walden hervorging.
5. Abstieg in die Steiner Höhlen
„Ich glaube wir haben den Eingang gefunden.“ Fallada war vor einem flachen Felsen stehengeblieben, der vollständig mit Moos bedeckt war und sich kaum von dem Waldboden unterschied. Wo die Oberfläche des Steins das Moos nicht angenommen hatte, entblößte das fahle Licht des Vollmonds ein Bild: „Es sieht aus wie eine Fratze“, stellte Aruc beeindruckt fest. Eufe starrte gebannt auf die Moosfläche, die im Mondlicht wie schwarzes Blut auf dem Felsen klebte. Aruc hatte Recht. Sie konnte deutlich Augen und einen aufgerissenen Schlund erkennen aus dem eine lange Zunge bleckte. „Was hat dieses Symbol zu bedeuten Fallada?“ wendete sie sich an die weiße Stute, die sie in den wenigen Stunden seit ihrer Flucht innig in ihr Herz geschlossen hatte. „Ich weiß es nicht Eufe“, schüttelte Fallada heftig ihre Mähne. „Vielleicht ist es eine Art Siegelwappen“, mischte sich Aruc ein und beugte sich näher über den Stein. „Hier seht, die Augäpfel sind aus schwarzen Kristallen“, rief er aufgeregt und umkreiste den Felsen in der Hoffnung noch ein wichtiges Zeichen zu finden, dass sie bis dahin übersehen hatten. „Seht nur, ein gußeisener Haken, hier, hier unten. Er ist fast von der Baumwurzel verdeckt.“ Aruc zog und riss an dem Ring. Doch nichts geschah. Der Stein ließ sich keine Elle verrücken.
Mutlos setzte er sich auf den Stein, um gleich darauf mit einem gellenden Auaschrei aufzuspringen und sich sein Hinterteil zu halten. „Verdammt der Stein hat mir einen Schlag versetzt.“ Obwohl Eufe alles andere als zum Lachen zumute war, konnte sie nicht an sich halten bei dem Anblick des entsetzten Aruc, der sich weinerlich den Allerwertesten rieb, obwohl er noch wenige Minuten zuvor wie ein mächtiger Krieger um den Stein gepirscht war. „Du hast gut lachen. Dir hat der Stein ja keinen drauf gegeben“. Eufe legte entschuldigend ihre Hand auf Arucs Schulter: „Verzeih Aruc. Es hat bestimmt weh getan. Ich weiß ja, dass Du nicht wehleidig bist.“
„Schon gut, ich habe eine Idee. Ich weiß wie wir es machen. Mutter haein Seil in Falladas Satteltasche verstaut.“ Froh endlich wieder mit einer Idee Eindruck schinden zu können, machte Aruc sich an den Satteltaschen zu schaffen und brachte das Seil zu Tage. „Na also, damit können wir es schaffen. Was meinst du Fallada? Wenn ich es gut an dem Ring festmache und das andere Ende am Sattelknauf, dann kannst du den Stein vom Eingang der Höhlen wegziehen.“ Fallada schnaubte heftig. Ein Zittern durchlief ihren kräftigen Leib. „Lass mich nur machen. Das werden wir gleich haben.“ Aruc schlang das Seil durch den groben Eisenring und bemühte sich ihn keinesfalls mit der Hand zu berühren, um nicht noch einen Schlag versetzt zu bekommen. Er knüpfte ein Seilende mit einem doppelten Knoten, den ihm Brac an einem seiner seltenen guten Tage beigebracht hatte, an den Ring und das andere an Falladas Sattelknauf. Wenigstens habe ich etwas Brauchbares von meinem Vater gelernt, ging es Aruc dabei durch den Kopf. „Los Eufe, pack mit an, wir helfen Fallada.“ Zu Dritt stemmten sie sich mit aller Kraft gegen das Gewicht des Steins. Doch der Stein rührte sich keinen Millimeter. „Nocheinmal wir schaffen es“, ermutigte Fallada die schnaufenden Gefährten. „Eins, Zwei, Drei und looooooooos“, Fallada sprang aus dem Stand in Galopp. Das Seil spannte sich und zerriss krachend. Der Stein war unverrückt an der selben Stelle liegen geblieben.
Entmutigt ließen sich Eufe und Aruc ins Gras fallen, während Fallada mit hängendem Kopf zu ihnen zurücktrottete und schnaubte: „So geht es nicht. Wir müssen einen anderen Weg finden“.
Eufe war aufgestanden und streichelte Falladas weiche Nüstern. Die Wärme und der Geruch nach frischem Gras, der von der Stute ausging, beruhigten sie und halfen ihr beim Nachdenken. Ullren hatte ihnen doch Geschenke mit auf den Weg gegeben, die ihnen nützlich sein sollten. Die Lösung des Problems musste irgendwo in den Rucksäcken verborgen sein. Ja das war es. „Aruc, los lass uns nocheinmal alles aus den Rucksäcken holen und genau anschauen. Ich glaube, dass uns Ullren etwas mitgegeben hat, womit wir den Einang öffnen können.“
Aruc schaute sie mit großen Augen an. Natürlich, warum war er nicht eher drauf gekommen.
Eufe hatte ihren Rucksack bereits ausgepackt. „Schau nur Aruc, der Kristall leuchtet in der Dunkelheit. „Vorsicht Eufe, der Stein verteilt Schläge“, antwortete er ihr besorgt. Aber Eufe war bereits aufgestanden und hatte mit dem Kristall den Stein berührt. Nichts geschah. „Wenigstens hat er mir keinen Schlag versetzt“, tröstete sich Eufe selbst.
Sie nahm das Holzrohr und drehte es ratlos von einer Seite auf die andere. Danach betrachtete sie andächtig den Schmetterlingsflügel. Je nachdem wie sie ihn ins blasse Mondlicht hielt, glänzte er in verschiedenen Grün und Blautönen. Er war so fein, dass Eufe ihn kaum zu berühren wagte, um ihn nicht zu zerbrechen. Bei aller Schönheit dieses Naturwunders, konnte sie sich nicht vorstellen, dass es in irgendeiner Weise zur Öffnung des Steins beitragen konnte.
„Ich glaube wir müssen in deinem Rucksack suchen.“ Aruc hatte schon begonnen nacheinander die Adlerfeder, das Steinmesser, den Lederbeutel mit den Kräutern, das Band aus Silberhaar und den Kieselstein aus seinem Ranzen zu kramen. „Die Feder wohl kaum, der Kräuterbeutel ... eher nicht, Silberhaar ... nicht wirklich, dann haben wir noch den Kiesel und das Steinmesser.“ Noch immer mit gehörigem Respekt vor dem Stein warf Aruc misstrauisch den Kiesel nach dem Kalypto. Das Steinchen prallte auf dem Felsen ab und wieder passierte nicht das Geringste. „Bleibt also nur das Messer“ meldete sich Fallada zu Wort. „Schlaumeierin ... was soll ein Messer gegen einen Stein ausrichten“, antwortete Aruc hämisch, nachdem er den Kieselstein wieder in seinen Rucksack befördert hatte. „Was macht man mit einem Messer normalerweise?“, fragte Eufe unschuldig. „Schneiden natürlich“, antwortete Aruc ungeduldig. „Dann müssen wir versuchen den Stein aufzuschneiden“. „Wie meinst du das? Wir können doch keinen Stein mit einem Messer aufschneiden. Das ist unmöglich.“ Aruc ärgerte sich über die Einfältigkeit von Eufe. Na ja kein Wunder, sie hat schließlich die letzten vierzehn Jahre im Turm verbracht und konnte nicht so genau Bescheid wissen. „Dein Messer ist schließlich kein gewöhnliches Messer, sonst hätte es dir Ullren nicht mitgegeben“, beharrte Eufe. Fallada stampfte mit den Vorderhufen beipflichtend auf. Aruc überprüfte das Messer neugierig. Es war aus hartem Stein. Er fuhr mit der Fingerkuppe leicht über die Schneide und sofort tropfte sein Blut auf die Erde. „Flixtverkreuzkrampf“, fluchte Aruc und drückte einen einigermaßen sauberen Zipfel seines Leinenhemdes auf den Schnitt. „Also gut ich versuche es“. Vorsichtig setzte er die Klinge an der Mitte des Felsens zum Schnitt an und drückte mit aller Kraft zu. Mit einem lauten Krach zerbarst das Gestein in zwei Hälften und gab den Blick auf den Höhleneingang frei. „Wauu, habt ihr das gesehen. Ich habe ihn einfach zerbröselt. Wauu, wenn das die anderen gesehen hätten, dann würden ihnen vor Staunen die Augen übergehen und der Mund offen bleiben“. Aruc steckte das Messer in das Lederetui zurück, dass mit einer Adlerkopfgravur verziert war und schnallte es sich um die Hüften. „Mit diesem Messer gibt es kein Hindernis mehr für uns. Lasst uns den Weg in die Höhlen von Steinern antreten“, verbeugte er sich feierlich vor Eufe und Fallada. Die schauten sich vielsagend an und verkniffen es sich Aruc daran zu erinnern, dass er derjenige gewesen war, der am wenigsten an die Macht des Messers geglaubt hatte. „Folgt mir ich gehe voran“. Aruc wollte seinen Freunden um jeden Preis beweisen, dass er sich vor nichts fürchtete. Er schulterte seinen Rucksack und betrat als Erster die berüchtigten Steiner Höhlen von Untersbergen. Vor ihnen tat sich ein treppenartiger Abstieg aus Erde und Wurzeln auf, der steil in die absolute Finsternis hinabführte. Die Luft war modrig und abgestanden und es roch nach Fledermausdreck und feuchter Erde. Eisige Kälte umfing sie und Eufe und Aruc waren froh, dass Ullren ihnen warme Winterpelze und eine Satteldecke für Fallada eingepackt hatte. „Mir ist unheimlich Aruc“, flüsterte Eufe und hielt sich krampfhaft an seiner Hand fest. Überall ragten wild verzweigte Wurzeln aus dem Erdreich, die mit etwas Fantasie die Gestalt von grausigen Tierköpfen und seltsamen Fratzen hatten. Sie ging zwischen Aruc, der ihre Hand drückte, um ihr Mut zu machen und Fallada, die dicht hinter ihr schritt und Eufe ihren warmen Atem in den Nacken blies und versuchte sie aufzuheitern, indem sie die eigenartigen Wandformationen der Höhle kommentierte. „Die hier sieht aus wie ein Schweinskopf mit Zöpfen“. Aruc prustete los. „Und die wie eine zerrupfte Fledermaus mit Hörnern“, begann er mit Fallada einen Wettbewerb, wer sich die lustigtsten Vergleiche ausdenken konnte. Je tiefer sie in die Erde hinabstiegen, desto wärmer wurde es. Längst hatten sie ihre Winterumhänge wieder im Gepäck verstaut. In der Dunkelheit erhellten ihnen hunderte von blitzenden Glühwürmchen den Weg durch den unterirdischen Höhlengang. „Das sind meine Freunde, sie haben mich in der letzten Nacht im Turm besucht. Das sind unsere Schutzgeister“, hallte Eufes Stimme dumpf im Stollen wider. Die Wurzeltreppe führte sie immer weiter in die Tiefe. Der Stollen wurde an manchen Stellen so schmal, dass Fallada sich alle Mühe geben musste, um voranzukommen. Trotzdem blieb sie mehrmals stecken. Ihr silbrig weißes Fell war mittlerweile schwarz über und über mit Erde verschmiert. Aruc und Eufes Wanderhose und Kutte hingen ihnen dreckstarrend von den Laibern. Ihre Gesichter waren erdverkrustet. Keiner von ihnen sagte mehr ein Wort. Still setzten sie mechanisch einen Fuß vor den andern um so schnell wie möglich die Höhlen hinter sich zu lassen.
„Pssst, habt ihr das gehört“, Fallada hatte ihre Ohren gespitzt: „Es hört sich an wie ein Wasserfall“.
„Hoffentlich hast du recht Fallada. Ich sterbe vor Durst und es ist heiß und stickig hier unten“. Längst hatte Aruc sein überlegenes Anführergehabe aufgegeben. Während Eufe noch mit sich kämpfte ob sie zugeben sollte, dass sie nicht wusste, was ein Wasserfall war, machte der Erdgang eine scharfe Windung in der Fallada endgültig steckenblieb. Nur mit Hilfe von Aruc und Eufe, die sich gemeinsam an ihre Mähne hingen und sie forwärtszogen, konnte Fallada doch noch die Kurve kriegen. „Nicht so grob. Ihr reißt mir ja noch sämtliche Haare vom Laib“, beschwerte sie sich über die unsanfte Behandlung. Insgeheim war Fallada jedoch heilfroh, dass Aruc und Eufe sie, wenn auch unsanft, aus der starren Umklammerung der Höhle befreit hatten. Kaum waren sie um die Ecke gebogen, blieben sie vor Erstaunen wie angewurzelt stehen. Vor ihnen tat sich eine riesige mit purpurrotem Licht durchflutete Grotte auf, deren Wände aus Kristallen bestand, die sich violett im See spiegelten, der von einem Wasserfall gespeist wurde. In der Mitte des unterirdischen Sees wuchsen hunderte von weißen Rosen. Es roch nach nasser Erde, Narzißnektar und Algen. Über dem Wasser flirrten unzählige Lichter. „Da sind sie wieder unsere Schutzgeister.“ Eufe stand am Ufer des Sees und drehte sich andächtig wieder und wieder um die eigene Achse. Sie hatte noch nie in ihrem Leben etwas Schöneres gesehen. „Ich hoffe das Wasser ist trinkbar. Von der Schönheit allein können wir unseren Durst nicht stillen“. Aruc hatte sich bereits bäuchlings auf die Erde gelegt um mit der hohlen Hand nach Wasser zu schöpfen. „Halt warte Aruc“, wieherte Fallada. „Lass mich vorher trinken. Falls mit dem Wasser etwas nicht in Ordnung ist, bin ich weniger empfindlich als ihr“. Doch Aruc hatte schon einen großen gierigen Schluck gemacht. Die Flüssigkeit rann ihm weich und süß, wie der würzige Kleeblumenmet seiner Mutter durch die Kehle. Er fühlte sich erfrischt wie nie zuvor und sprang mit einem Satz auf die Beine. „Das ist das köstlichste Wasser, das ich je getrunken habe.“ Eufe und Fallada, ließen sich nicht zweimal bitten und sogen das flüssige Labsal in sich auf. Nachdem sie sich lachend und neckend mit samt ihren Kleidern im See gebadet und gewaschen hatten, rollte sich Fallada zufrieden auf dem Rücken bis sie eine bequeme Stellung gefunden hatte und Eufe und Aruc legten sich neben sie und betteten ihre Köpfe auf ihren warmen Bauch. Es dauerte nicht lange und alle Drei sanken in einen tiefen Schlaf.
6. Im Kerker von Inthorm
Ullren spürte einen stechenden Schmerz in ihrer linken Schulter. Sie konnte sich nicht bewegen und alles um sie herum war schwarz. Ihre Augen waren verbunden. Es dauerte eine Weile bis sie sich erinnerte was geschehen war. Nachdem Brac sie geschlagen hatte, musste sie sich beim Sturz an einem der Giftzacken des Eisenportals verletzt haben. Es konnte aber nur ein Kratzer sein, sonst wäre sie nicht mehr aufgewacht. Ihr Kopf schmerzte von der strafen Augenbinde. Ihre Lippen waren trocken und klebten aufeinander wie dickflüssiger Mehlleim. Sie versuchte sich aufzurichten, wurde jedoch von Fußketten und einem Eisenstrang, der sich um ihren Hals spannte, daran gehindert. Ullren stöhnte vor Schmerz und sank auf den kalten Steinboden zurück.
Wenn nur den Kindern nichts passiert ist, war alles woran sie denken konnte.
Plötzlich spürte sie einen Luftzug, der an ihrer Wange vorbeiwischte. Unwillkürlich stellten sich ihr die Haare zu Berge. Sie war nicht allein. Sie wurde beobachtet. Sie fühlte sich nackt und geschunden, obwohl sie das feine Gewebe ihres liebsten Sommerkleides auf ihrer Haut spürte. Sie hatte den Stoff eigenhändig gewebt. Es war hellgrün wie die prachtvollen Blätter des Ahorns, versetzt mit dem Ton reifer Saueräpfel, blassem Reseda und sattem erlenblattgrün. Sie hatte Wochen dabei in iher Kräuterküche zugebracht, um die verschiedenen Schattierungen zu mischen. „Schade, dass du keine Jungfrau mehr bist“. Der Sprecher hatte seine Stimme weder erhoben, noch drohend gedämpft. Dennoch, oder gerade wegen der scheinbaren Ruhe in der Stimme klang Ullren ihre bösartige Zerstörungswut schrill in den Ohren Die Worte schlängelten sich wie eine schuppige Schlange um ihren Körper, die im Begriff war ihr Opfer zu erwürgen. Egom kicherte gönnerhaft. Wieder strich ein Windzug über Ullrens Gesicht. Sie fühlte die verbitterte Kälte die von ihrem Gegenüber ausging. „Sie werden mir nicht entkommen, hörst du. Niemand wird meinen Plan durchkreuzen.“ Egom war ganz nahe an Ullren herangetreten und beugte sich über ihren zusammengekauerten Körper, „und du wirst mir sagen wo sie sind.“ Ullren würde nie mehr seinen Geruch vergessen nach saurem süßlich überpudertem Schweiß. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Brechreiz, der einen abgestandenen Geschmack von Maisfladen in ihrer Kehle zurückließ. Obwohl sie nichts sehen konnte, spürte Ullren, dass Egom sich wieder aufgerichtet hatte und sie von oben herab anstarrte. Noch bevor Ullren ihm etwas entgegnen konnte, pochte es an der Kerkertür. Es war ein dumpfes metallenes Klopfen auf schweres Blei, dass Egom durch die Arbeit von Hunderten von Sklaven aus seinen Mineralgruben gewann. Ein lautes Quietschen verriet, dass sich die Tür geöffnet haben musste. „Herr, ich habe euch eine Mitteilung zu machen.“ „Es ist besser eine wichtige Nachricht, die du mir überbringst“, schnauzte er den eingeschüchterten Wachmann an, der mit belegter Stimme antwortete: „Herr, ich konnte die Zigeunerin nicht finden...sie..., plötzlich war die Stimme des Wachmanns kaum noch zu hören und aus seiner Kehle drangen seltsame Geräusche wie beim Abschlachten eines verendenden Schweins. „Wie meinst du das?“, schrie Egom außer sich vor Wut. „Das wirst du mir büßen.“ Die Tür zu Ullrens Verließ wurde heftig zugeworfen und von außen verriegelt. Hastige Schritte, gefolgt von Schmerzensschreien hallten in der Dunkelheit an Ullrens Ohr bis ihr Echo in der Ferne verklang. Ullren wusste, dass Egom zurückkommen würde und zwar sehr bald. Trotzdem war sie erleichtert. Egoms Aufruhr bedeutete, dass die Kinder es geschafft hatten. Das erste Hindernis war überwunden. Obwohl Ullrens Körper überall schmerzte und jede kleinste Bewegung durch ihre Fesseln verhindert wurde, war sie zutiefst dankbar. Die Kinder waren frei. Diese Gewissheit gab ihr Ruhe. Sie vergaß den peinigenden Durst, die Kälte und die Schmerzen. Gnädig erhoben sie sanfte Traumschwingen aus dem frostigen Verlies.
Ullren wusste nicht wie lange sie geschlafen hatte. Das Gift benebelte ihre Sinne. Ihre Augenbinde war entfernt. Neben ihr stand eine Schale mit Wasser. Es war dunkel. Sobald sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte Ullren einzelne Umrisse im Kerker ausmachen. Hoch über ihr sah sie ein kleines vergittertes Fenster. Ullren überlegte, ob Egom zurückgekommen war um sie weiter zu verhören und sie bewusstlos vorgefunden hatte. Ausgerechnet Bracs Schlag, wegen dem sie die Giftzacke gesreift hatte, sollte ihr möglicherweise das Leben gerettet haben. Zumindest vorerst. In dem kalten Verlies gab es nichts, nicht einmal einen Stuhl, absolut nichts. Nur eine Mulde an der gegenüberliegenden Seite der groben Steinwand, die ihr wohl zur Verrichtung ihrer Notdurft dienen sollte. Ihre Hände und Füße waren an einem verrosteten Ring, der in die Wand geschlagen worden war, angekettet und gaben ihr nur soviel Bewegungsfreiheit, um auf die andere Seite der Zelle zu gelangen. Es stank erbärmlich nach gärenden Exkrementen. Aus der Dunkelheit blitzten gelbe Rattenaugen vor ihr auf, die verschwanden sobald sie sich bewegte. Ullren ergriff mit zitternden Händen die Blechschüssel neben ihr und trank gierig das abgestandene Wasser bis sie ihren Durst gelöscht hatte. Sie schloss ihre Augen und wartete. Sie erhoffte ein Zeichen, eine Antwort. „Amo gib mir Kraft, lass mich erkennen wie ich diesem Gefängnis entfliehen kann“. Ullren bemerkte erst, dass sie laut gesprochen hatte nachdem sie ein hämisches Lachen über ihr hörte. Veltrons Sohn Perchta sah höhnisch zwischen den Gitterstäben des Kerkerfensters auf sie herab und genoss sichtlich seine Macht. „Soll ich auf dich pissen oder lieber Schweinescheiße über dich schütten oder beides du Hexe?“ Für einen Moment zog der dichte Wolkenschleier auf und silbernes Mondlicht erhellte die drohende Erscheinung des Halbwüchsigen. Er hatte sich das Gesicht und den bloßen Oberkörper mit Ruß geschwärzt. In seinen weit aufgerissenen Augen flackerte Hass und Verachtung. Er kaute auf einem langen Pflanzenstengel, der unter der Bevölkerung als Teufelsstrang bekannt war und eine berauschende Wirkung ausübte wenn sich seine Bitterstoffe mit Speichel vermischten. Perchta zog ein langes Messer aus seiner Hosentasche und setzte es sich an seinen Unterarm. „Jetzt zeig ich dir, dass ich keine Angst vor dir habe. Ich habe vor niemandem Angst“. Perchta schnitt sich mit einem kurzen Aufheulen in seinen linken Arm kurz unterhalb von seinem Bizepsmuskel. Den Blutstrom fing er in einem Holzeimer auf, der neben ihm stand. Ullren wandte entsetzt ihr Gesicht ab. Kurze Zeit war es still bis sie das Rauschen eines Flüssigkeitsstrahls wahrnahm, der auf eine dickflüssige Masse traf. Instinktiv drehte Ullren sich ruckartig auf die Seite, so weit es ihre Ketten zuließen und entging um Haaresbreite dem Inhalt des Eimers, den Perchta wutentbrannt über sie entleert hatte. Nur ein paar stinkende Spritzer einer Mischung aus Blut, Urin und Kot trafen sie im Nacken. Abscheu und Ekel verschlugen ihr den Atem. Ihr Puls raste. Sie konnte es nicht verhindern, dass sie am ganzen Laib zu zittern begann. Perchta spuckte durch die Gitterstäbe auf sie hinunter und schlurfte befriedigt pfeifend davon. Mit dem letzten Rest des Wassers aus ihrer Trinkschale säuberte sie sich fieberhaft ihre besudelte Haut. Wie konnte dieser Junge es wagen, wie konnte er es wagen? Ullren empfand blinde Wut. Er sollte es büßen, er sollte vor ihr auf allen Vieren kriechen und um Vergebung winseln. Oh wie sie diesen Abschaum eines Menschen hasste. Ullren schluchzte vor Erniedrigung. Nein, dass waren nicht ihre Gedanken. Nein, sie würden es nicht schaffen ihren inneren Himmel zu zerstören. Amo ist die Liebe, die Vergebung, die Schönheit und alles Gute und Göttliche in uns. In ihrem Kopf pulste zuerst leise, dann immer lauter eine Stimme, die wiederholte: „Sei still und wisse mein Kind. Ich bin Gott.“ Ullrens angespannte Züge glätteten sich. Einem Impuls folgend begann sie leise zu singen:
Ich bin in deinen Händen, ich bin ganz ruhig und frei. Ich schwebe zu den Wolken. Ich bin auf meinem Weg zu dir.
Das Mondlicht warf silberne Reflexe auf die modrigen Steinquader in ihrem Verlies. Der penetrante Geruch der Exkrementenlache, die Perchta nach ihr geschüttet hatte, vermischte sich mit der Ausdünstung abgestandenen Schimmels und fauliger Erde. Ullren fröstelte und versuchte sich so weit es ihre Fußketten erlaubten dem Gestank zu entwinden. Was würde mit ihr geschehen? Was würde Egom mit ihr machen? Ullren stellten sich sämtliche Haare zu Berge bei dem Gedanken an den Tyrannen. Wo waren Aruc, Eufe und Fallada jetzt? Ullren zweifelte keinen Moment daran, dass Amo ihnen gutes Geleit schenkte und vor allen Gefahren beschützte, die in der Höhlenwelt auf sie lauern mochten. Was war mit Brac geschehen? Erinnerungen überfielen sie wie schwirrende Motten, die sich vom Licht einer Pechfackel anlocken ließen und jämmerlich verbrannten.
Obwohl er sie geschlagen hatte, empfand sie ihm gegenüber keinen Groll. Ullren bedauerte ihren Mann aus tiefstem Herzen. Er war nicht immer so gewesen. Sie hatte ihn in der Schmiedewerkstatt kennengelernt. Niemand konnte schöner Gebilde aus dem rotglühenden Eisen zaubern als er. Zwei Wochen nach ihrer ersten Begegnung, hatte er sie auf dem Hof ihres Vaters besucht und ihr schüchtern eine bemalte Holzkiste und einen Strauß selbstgepflückter Sumpfdotterblumen überreicht.
Obwohl ihm fast alle heiratsfähigen Mädchen des Dorfes zu Füßen lagen, glühten seine Ohren wie bei einem unbedarften Schuljungen als Ullren sein Geschenk mit fliegenden Händen auspackte. Nie hatte sie etwas Schöneres bekommen. Brac hatte ihr einen kunstvoll verschnörkelten Wunschreif geschmiedet an den er an zierlich ineinander greifenden Kettengliedern verschiedener Länge, Blumen, Vögel, Schmetterlinge, Bienen und Blätter gehängt hatte, die er in feinster Schmiedearbeit gefertigt hatte. Als er ihr einen Monat später einen Heiratsantrag machte, stimmte Ullren ohne zu zögern zu. Sie war sich sicher in Brac einen guten Mann gefunden zu haben, der sie aufrichtig liebte. Außerdem konnte sie es nicht erwarten endlich ihre eigene Familie zu gründen, um den Schikanen ihrer Stiefmutter zu entrinnen. Nachdem Ullren ihren Sohn Aruc zur Welt gebracht hatte, nahm Brac die Stelle als Festungsmeier in Inthorm an. Was Ullren anfangs als großes Glück ansah, stellte sich sehr schnell als Alptraum heraus. Aus dem ehemals liebevollen und sanften Schmiedemeister wurde nach und nach ein zynischer, böser und launischer Diener Egoms, der sich seiner Frau und seinem Sohn entfremdete. Eines Tages legte Brac ihr ein Neugeborenes in die Arme und befahl ihr sich um das Kind zu kümmern. Ullren liebte es von Stund an wie eine Mutter und taufte es Eufe, was soviel wie fein und scheu bedeutete. Trotzdem konnte Ullren nicht verhindern, dass Brac das Mädchen, sobald es laufen konnte, in das Turmverlies sperrte. Ullren schloss die Augen. Es konnte nicht mehr lange dauern bis Egom zurückkam, um sie zu verhören.
Die Zigeunerin
Egom humpelte wie ein verwundetes Wild von einer Seite seines Gemachs zur anderen. Immer wieder schlug er mit seinem Gehstock gegen die Wand. Selbst seinen Thron malträtierte er mit zornigen Hieben und wurde nur noch wütender als sich ein Edelstein aus der Fassung an der Armlehne löste. Furios peitschte er den verschnörkelten Bronzestab gegen sein kostbares Sitzmöbel aus Gold für das er ein Vermögen ausgegeben hatte. „Wache, Wacheeeee“, brüllte er mit überkieksender Stimme. „Bringt mir auf der Stelle die Zigeunerin und wenn du jeden Stein von Unterbergen einzeln umdrehen musst, um sie zu finden. Bring sie mir. Hörst du, ich brauche sie sofort hier im Turm“. Der Soldat machte auf dem Absatz kehrt und wäre fast gegen die verschlossene Tür gelaufen, so eilig hatte er es Egoms Befehl auszuführen. „Tölpel. Kein Wunder, dass ihnen die Flucht gelungen ist. Ich bin nur von Idioten und Nichtsnutzen umgeben“, hallte Egoms gellende Schreierei in den Ohren des Soldaten, der sich im Laufschritt davon machte, um die Zigeunerin zu suchen. „Ich muss sie finden, koste es was es wolle. Koste es was es wolle“, wiederholte Egom monoton und es war nicht klar, ob er damit Eufe, oder die Zigeunerin meinte. Sein Wutanfall hatte ihn erschöpft. Mühsam wuchtete er seinen schweren Körper über die Stufen, die zu seinem Thron führten und setzte sich atemlos auf das purpurfarbene Sitzkissen. Auf seiner weißen Tunika hatten sich Schweißflecken gebildet. Seine Kapuze war verrutscht. Er bot den grotesken Anblick eines Scharfrichters an, der sich unbeobachtet fühlte. Er brauchte das Blut der Jungfrau. Nur dadurch würde er allmächtig und unsterblich werden. Lautes Pochen riss ihn aus seinen Gedanken. „Wer wagt es mich zu stören?“ „Hoheit ich bringe die Zigeunerin auf euren Befehl“. Erleichterung schwang in der Stimme des Soldaten, der noch immer sein Glück kaum fassen konnte. Gerade als er sich aufmachen wollte, um die Zigeunerin zu suchen, galoppierte sie in den Vorhof der Festung. Er wusste, dass er knapp einem grausamen Tod in Egoms Kerker entkommen war, hätte er sie nicht gefunden.
„Lass sie eintreten.“ Hastig richtete sich Egom auf und rückte seine Kapuze hastig zurecht. Die schwere Eisentür zu seinem Gemach wurde aufgestoßen und eine dunkelhaarige Frau trat vor den Thron und knickste tief. „Ihr habt nach mir rufen lassen Majestät“. Sie war hochgewachsen und trug ein langes schwarzes Kleid, dass ihre schlanke Figur betonte. Ein großer Rubin an einer schweren Goldkette baumelte von ihrem Hals auf ihr Dekoltée, dass einen großzüigen Einblick auf ihre festen Brüste bot. Sie hatte ein schönes Gesicht. Das intensive indigoblau ihrer Augen verlieh ihr eine geheimnisvolle Aura. Die Zigeunerin war der einzige Mensch in Unterbergen, den Egom insgeheim bewunderte. Er hatte sie reich belohnt für die Prophezeihung, die sie ihm gemacht hatte. Ausser der Rubinkette, trug die Zigeunerin einen großen Diamantring an ihrem linken Ringfinger und blaue Saphirarmbänder an beiden Handgelenken.
„Wie kann ich Euch dienen Herr?“ Ihre kühlen Augen waren wachsam auf Egom gerichtet und nahmen einen harten Ausdruck an als er zeeterte: „Wo warst du so lange? Weißt du nicht was geschehen ist? Der Jungfrau ist die Flucht gelungen. Das vermaledeite Weib des Turmmeiers hat ihr geholfen. Und jetzt ist sie einfach aus dem Turm verschwunden.„ Beherrscht antwortete die Zigeunerin: „Majestät die Sicherheit von Inhtorm ist nicht meine Sache. Ich war im Wald, um das Opferritual für die schwarze Sonne vorzubereiten.“ Obwohl sie vorgab vollkommen gelassen zu sein, brodelte es in ihr. Wie konnte das passieren? Sie wusste, dass Egom sie verantwortlich machen würde, wenn es nicht gelang die Jungfrau der schwarzen Sonne zu opfern. Es würde ihren eigenen Tod bedeuten, daran gab es keinen Zweifel. Ihren Einfluß auf Egom verdankte sie einzig seiner Gier nach dem Blut der Jungfrau. Wenn sie ihm nicht mehr nützlich sein konnte würde er sie ebenso vernichten wie alle anderen. Ohne ein weiteres Wort an die Zigeunerin zu richten, ließ Egom sich auf seinen Thron fallen. Er hatte sich so aufgeregt, dass er kaum noch zu Atem kam. Rasselnd versuchte er Luft in seine kranken Lungen zu pumpen. Ein Diener brachte ihm ein Fläschchen mit einer zähflüssigen Tinktur, die er gierig trank. Die Zigeunerin blieb steif vor dem Thron stehen und wartete. Nach einer Weile erhob Egom sich und trat so dicht vor sie, dass sie seine unnatürlich geweiteten Pupillen hinter seiner Maske erkennen konnte: „Bring mir das Mädchen und ich gebe dir was immer du willst. Wenn ich allmächtig und unsterblich geworden bin, sollst du gemeinsam mit mir regieren. Falls du jedoch versagst...“ Der bedrohliche Unterton seiner heiseren Worte war nicht zu überhören. Egoms abgestandener Atem streifte das Gesicht der Zigeunerin, die nur mit Mühe ihren Abscheu verbergen konnte. Unwillkürlich setzte sie einen Schritt zurück: „Majestät gebt mir eure besten Männer. Ich werde noch im Morgengrauen aufbrechen und sie zurückbringen. Das verspreche ich euch.“ „Ich wusste doch, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe. Wenigstens dir kann ich vertrauen. Du wirst es nicht bereuen meine Schöne. Verlass dich drauf.“ Egom kicherte zufrieden und klatschte zweimal in die Hände. Einer seiner Leibwächter erschien mit einem Silbertablett auf dem er eine Karaffe aus geschliffenem Kristall mit einer roten Flüssigkeit und zwei langstieligen Kelchgläsern trug. „Trink ein Glas Stierblutwein mit mir vor deiner Reise. Das wird dich stärken.“ „Verzeiht Herr. Ich denke es ist besser ich mache mich sofort auf den Weg. Jede Minute ist kostbar“, beeilte sich die Zigeunerin abzulehnen. „Schickt mir die Soldaten so schnell es geht. Ich werde einstweilen versuchen herauszufinden, wo ich die Jungfrau finde.“ Wieder knickste die Zigeunerin tief. Ohne eine Antwort von Egom abzuwarten, verließ sie sein Gemach. Noch brauchte er sie und diese Macht über ihn wollte sie ihn deutlich spüren lassen. Die Zigeunerin wusste wie man mit Menschen seines Schlages umzugehen hatte. Sie versuchten ihre Unsicherheit und ihren Mangel an wahrer Stärke durch Grausamkeit zu vertuschen. Solange sie ihm keine Angst zeigte, hatte er keine Gewalt über sie.
Während die Zigeunerin in ihre Gedanken versunken den Innenhof der Festung überquerte und dem Stalldiener zurief, ihr Pferd zu bringen, überlegte sie fieberhaft. Es gab nur einen Ausweg. Übelkeit bemächtigte sich iher. Sie würde ihre Mutter besuchen, das heißt das was noch von ihr übrig war, und ihr den Kristall abnehmen. Sie hätte ihn von Anfang an nicht aus der Hand geben sollen, um ihn der alten Zigeunerin ins Grab zu legen. Ein verbittertes Lächeln umspielte ihren Mund. Ihre Mutter hatte bis über den Tod hinaus über sie bestimmt. Über sie und alle Menschen in ihrer Umgebung. Sie war an allem Schuld. Sie hatte ihr das Neugeborene in die Arme gelegt und befohlen es Egom zu bringen und ihm zu prophezeien dass er es der schwarzen Sonne opfern sollte und ihr Blut ihn unsterblich und allmächtig machen würde. An ihrem Sterbebett musste sie ihrer Mutter versprechen den Kristall der alten Zigeunerin mit ins Grab zu legen. Doch jetzt brauchte sie ihn. Durch den Kristall konnte sie alles sehen was in der Gegenwart geschah. Nur so konnte sie den Ort ausfinding machen, an dem sich die Jungfrau befand. Seit Wochen war sie im Wald unterwegs, um die notwendigen Zutaten für das Opferritual zu sammeln. Ihre Mutter hatte ihr genaue Anleitungen gegeben. So musste sie einen Frosch suchen, der einen roten Fleck auf dem Bauch trug. Außerdem eine blaue Blume, die während einer einzigen Nacht blühte. Den Zahn eines wilden Ebers, eine violette Silberdistel und die Wurzel eines schwarzen Grashalms. Die Zigeunerin brauchte Monate bis es ihr endlich gelungen war alles zusammenzubringen. Und ausgerechnet jetzt, wo sie sogar die abgeworfene Haut eines Feuersalamanders gefunden hatte, ausgerechnet jetzt musste die Jungfrau aus dem Turm verschwinden. Es blieb nur dieser eine Auswege. Sie musste das Grab ihrer Mutter schänden. Angeekelt von dem Gedanken rümpfte die Zigeunerin ihre Nase. „Ich habe sie im Stall, neben den Schweinen untergestellt. Ich hab mich schon an den strengen Geruch gewöhnt“, entschuldigte sich der Stallknecht unbeholfen bei ihr und riss sie aus ihren Gedanken. „Ja, Ja, ist schon gut.“ Die Zigeunerin ließ sich von dem jungen Mann, der sie im Stillen anhimmelte, in den Sattel helfen und galoppierte ohne sich zu bedanken, oder ihn auch nur eines Blickes zu würdigen aus der Festung. Sie lenkte ihr Pferd zu der abgelegenen Lichtung auf der ein Zigeunerfriedhof entstanden war. Obwohl Egom seit der Prophezeiung nichts mehr gegen Zigeuner hatte, und sie auch auf dem Untersberger Friedhof ihre letzte Ruhe finden hätte können, wollte ihre Mutter trotzdem hier begraben werden, unter den ihren. Die Zigeunerin band ihr Pferd an den wurmstichigen Zaun, der die Lichtung umschloss und wanderte zwischen den mit Beifuß und Wegerich bewachsenen Gräbern zu einem frisch aufgeworfenen Erdhügel. Sie blieb davor stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Wie zu erwarten gewesen war, blieb alles ruhig und nur das Zwitschern der Spatzen war zu hören, die sich die Lichtung als bevorzugte Nestregion ausgesucht hatten. Keiner der Untersberger verirrte sich je hierher, aus Angst vor den bösen Geistern der Begrabenen. Selbst die Zigeuner kamen nur zu den Bestattungen. Auf einer Holzlatte, die aus dem Grabhügel stakte, stand ein Datum unter dem Namen Ekstel. Die Zigeunerin raffte ihr Kleid in der Taille und rollte den Stoff so lange um ihre Hüften bis sie bis zu den Knien nackt war und genügend Beinfreiheit hatte. Ihr Blick fiel auf einen verfallenen Schuppen, den die Totengräber nützten, um ihre Werkzeuge aufzubewahren. Entschlossen stieß sie die Tür mit einem Fußtritt auf. Es roch nach modriger Erde. Spinnweben wehten im Wind. Ein Spaten lehnte neben der Tür. Wahrscheinlich war es sogar derjenige mit dem ihre Mutter eingegraben worden war, ging es der Zigeunerin durch den Kopf. Sie hatte nicht eine Träne vergossen bei der Beerdigung. Sie wusste, dass ihre Mutter sie nur für ihre selbstsüchtigen Zwecke benützt hatte. Die Zigeunerin empfand ihren Tod nichts weiter als eine Befreiung. Sie musste sich beeilen, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Es schauderte sie bei dem Gedanken in der Nacht allein auf dem Friedhof zu sein. Nach Stunden härtester Schaufelarbeit hatte sie es endlich geschafft und den Oberkörper von Ekstel freigelegt. Es stank erbärmlich. Der Zersetzungsprozess war bereits eingetreten und sie musste sich den Ärmel ihres Kleides vor Mund und Nase halten, um nicht die äztenden Dämpfe einzuatmen. Maden und Würmer krochen aus dem verwesenden Fleisch. Der Kristall lag unversehrt auf Ekstels Brust. Die verwesenden Hände der Toten waren darum gefaltet. „Verzeih Mutter, du brauchst ihn jetzt nicht mehr.“ Mit einem wilden Aufschrei des Ekels schlug sie auf die bereits unkenntlich gewordenen Finger der Toten. Die Kristallkugel rollte neben die Leiche und blieb in der Grube liegen. Mit größter Überwindung, einen Zipfel ihres Kleides schützend um ihre Hände gehüllt, ergriff die Zigeunerin hektisch den Kristall und rannte ohne sich noch einmal umzusehen zu ihrem Pferd. Es war ihr egal, dass das Grab offen blieb. Bis es entdeckt worden war, hätte sich längst alles erledigt. Sobald Egom sie zur Mitherrscherin machte, konnte ihr niemand mehr etwas anhaben.
7. Die Untersberger Glühmandln
„Sieh nur wie friedlich sie schläft. Das schöne goldene Haar und ihre geschmeidigen Glieder“, hörte Eufe eine zirpende Stimme neben sich. Es dauerte nicht lange und eine zweite, etwas dunklere Stimme antwortete: „Wir müssen sie warnen.“ „Bevor es zu spät ist“, ließ sich die erste Stimme erneut vernehmen. Eufe traute sich kaum zu atmen und wagte es nicht ihre Augen zu öffnen. Fallada und Aruc schliefen fest und atmeten regelmäßig und in tiefen Zügen. Plötzlich spürte sie ein zartes Streifen auf ihrem bloßen Arm, so als würde ihr jemand mit einer Gänsefeder über die Haut streicheln. „Wach auf schönes Mädchen, wach auf“, raunte die erste Stimme von ihrer Schulter aus in ihr linkes Ohr. „Wir müssen dir eine wichtige Mitteilung machen“, half die zweite Stimme von ihrer rechten Schulter aus nach. Vorsichtig öffnete Eufe die Augen und sah in die gutmütigen Gesichter von einer klitzekleinen Frau und einem fast ebenso kleinen Mann, die nur etwa so groß waren wie Eufes Handteller. Sie sahen aus wie Miniaturmenschen mit Kleidern aus Blättern und Gräsern. Das Männlein hatte eine halbe Haselnussschale auf dem Kopf. Das Weiblein hatte ein vierblättriges Kleeblatt kunstvoll um ihre granatapfelroten kurzen Locken drappiert. Sie waren von einem Glanz umgeben, der wie Sternenstaub um sie herum wirbelte und Eufe fragte sich, ob sie träumte. „Wer seit ihr?“ flüsterte sie verdutzt und richtete sich langsam auf, während die Strahlenmenschlein sich behende auf ihrem rechten und linken Bein niederließen. „Wir sind Untersberger Glühmandln. Darf ich vorstellen, die bezaubernde Liesli“, verbeugte sich das Männlein galant vor Eufe und lüftete dabei die Haselnussschale auf seinem Kopf, „und der holde Kaliman“, flötete das Weiblein mit einem etwas verunglückten Knicks bei dem sie ihren steifen Rock aus Kastanienblättern umständlich raffte. „Wir sind hier um euch zu warnen. Du und deine Gefährten müsst euch sofort auf den Weg machen. Ihr seit in der Höhle der Kormoraner, die jeden Augenblick auftauchen können. Wir kennen einen geheimen Steig, der euch in den Spinndlwall bringt. Es ist das Reich von Sikull. Sie ist gefräßig und gefährlich......“. „So treib dem Mädchen doch keine Angst ein Liesli“. „Ich treib ihr doch keine Angst ein, ich warne sie nur, dass wird man schließlich noch dürfen.“ „Nein, weil es schließlich keinen anderen Weg gibt und sie...“ „Immer weißt du alles besser.“ Eufe konnte ihre Augen nicht trauen. Das musste ein Traum sein. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete waren die beiden Untersberger Glühmandln immer noch da. Während Liesli und Kaliman sich zankten, schüttelte Eufe Aruc und klopfte auf Falladas Bauch. „Wacht auf Aruc, Fallada, wacht auf, wir müssen weiter. Bitte wacht auf.“ Keiner der beiden rührte sich. „Warum wachen sie nicht auf? Was soll ich tun?“ Eufe war außer sich vor Angst und Verzweiflung. „Was ist mit ihnen geschehen?“ „Beruhige dich meine Schöne. Sie haben wahrscheinlich nur zu tief in den See geschaut, wenn du meinst was ich weiß äh, wenn du weißt was ich meine“, tätschelte ihr Kaliman beruhigend den linken Oberschenkel. Eufe schaute das Untersberger Glühmännlein verständnislos an. „Wie soll sie wissen was du meinst Kali? Du und deine Besserwisserei“, keifte Liesli ihren Gatten an, um sich für seine vorhergehende Zurechtweisung zu rächen. Würdevoll erklärte sie Eufe und versuchte so gelehrt wie möglich dabei zu klingen: „Also meine Liebe, sie haben zu hastig und zu viel aus dem See getrunken und sind betrunken. Das Wasser des Sees ist kein normales Wasser, sondern Höhlenrauschwasser.“ „Aber ich habe auch daraus getrunken und ich spüre nichts.“
„Du hast wahrscheinlich weniger als die beiden getrunken und verträgst mehr, was mich allerdings wundern sollte. Du bist die magerste und kleinste. Na ja Größe soll nicht unbedingt auf Stärke schließen lassen. Das sieht man schließlich an meinem Beispiel“, tippte sich Liesli an die freche Stupsnase. „Bitte, bitte helft ihnen, bitte“, flehte Eufe inbrünstig. „Liesli Gute, bleib hier mit der Maid und pass auf sie auf. Ich pflücke Höllkraut, damit wir ihre Freunde wieder auf die Beine bringen.“
„Kaliman Guter, das ist ein feiner Zug von dir“, waren sie wieder ein Herz und eine Seele. Welch eigenartige Geschöpfe, dachte Eufe, zänkisch und liebenswürdig zugleich. Kaliman breitete ein Paar durchsichtige Schwingen aus, die wie Libellenflügel aussahen und flog surrend in den Wasserfall. Binnen weniger Sekunden war er verschwunden.
„Mach dir keine Sorgen meine Liebe, er ist gleich wieder zurück.“ Eufe versuchte sich ruhig neben Fallada und Aruc zu setzen und zu warten. Nervös begann sie ihre Nagelhaut an den Ecken aufzureißen bis sie blutete. „Lass das, so ein schönes Kind und so eine Unart auch“, zeeterte Liesli und flatterte auf ihre Schulter. Zart streichelten ihre Flügel über Eufes Wange und etwas milder sagte sie: „Tu dir nicht selber weh meine Schöne. Du bist nicht Schuld.“ Eufe hatte aufgehört an ihren Fingern zu zupfen und schaute Liesli mit großen Augen an. Wieso wusste dieses kleine Geschöpf, dass sie sich schuldig fühlte. Seit sie denken konnte, fühlte sie sich schuldig. Dafür, dass sie im Turm eingesperrt gewesen war, dafür das Ullren jetzt allein in Inthorm war und sie nicht wussten was mit ihr geschehen würde, dafür das Aruc und Fallada mit ihr in Gefahr waren und sogar dafür, dass sie nicht einmal wusste, woher sie kam. Liesli schwieg eine Weile. Sie strich bedächtig über ihr aus Gänseblumen und Grashalmen geflochtenes Hemdchen. Ein dumpfes Poltern unterbrach sie. „Oh nein, dass müssen sie sein. Wo bleibt nur Kaliman?“ Eufe war so aprupt aufgestanden, dass Liesli fast heruntergefallen wäre und sie vorwurfsvoll anschaute. „Entschuldige Liesli, aber ich muss meine Freunde retten. Ich muss irgendetwas tun.“ Liesli schaute sich ratlos um und versuchte Kaliman in der Höhle zu entdecken. Nichts, nicht das entfernteste Anzeichen von Kali. „Er muss wohl in eine abgelegene Höhle geflogen sein, weil er in der Nähe kein Höllkraut gefunden hat“, versuchte sie ihn vor Eufe zu entschuldigen. „Aber wir können nicht länger warten Liesli. Wir müssen uns irgendetwas einfallen lassen“. Eufe war außer sich. Was konnte sie nur tun? Es musste doch irgendetwas geben. Der Rucksack, ja, natürlich. Ullren musste ihnen irgendetwas mitgegeben haben, dass sie vor Gefahr beschützte.
Eufe ergriff fieberhaft ihren Rucksack und brachte seinen Inhalt der Reihe nach zu Tage. Im Licht der Höhle blieb das rosenholzfarbene Kristall dunkel. Holzrohr, Flügel, Kristall, Kerze. Nichts schien ihr brauchbar um sich damit gegen die Kormoraner zur Wehr zu setzen. Vielleicht finde ich etwas unter Arucs Sachen? Adlerfeder, Kräuterbeutel, Silberband, Kieselstein. Das Steinmesser, dass ihnen schon einmal geholfen hatte, steckte in Arucs Gürteltasche. Sollte sie die Männer mit dem Messer bedrohen und im Ernstfall sich und ihre Freunde damit verteidigen? Das Getrampel von schweren Stiefeln und ein schreckliches Kratzen als ob Eisen über Steine schleifen würde, ließ Eufe das Blut in den Venen gefrieren. Liesli summte aufgeregt um sie herum und quietschte immer wieder: „Kali wo bleibst du nur Kaaaaaaalllliiiiiiii“. Eufe kaute angestrengt auf ihrer Oberlippe. Im Stillen wiederholte sie immer wieder, denk nach Eufe, denk nach. Sie durfte nicht untätig zuschauen wie...Noch immer lagen Fallada und Aruc regungslos neben ihr auf dem Boden. Die Kormoraner waren bereits so nahe, dass sie einzelne Wortfetzen verstehen konnte: „...rieche Fleisch... du...“ Es waren böse, unmenschliche Stimmen. Eufe drückte ihre rechte Hand gegen ihre Brust. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die Luft anhielt. In ihrer Todesangst rief sie laut: „Es gibt nichts zu fürchten. Ich bin stark und frei.“ Noch im selben Augenblick begann sie gleichmäßig zu atmen und konnte wieder klare Gedanken fassen. Aufmerksam ließ sie ihre Augen über Ullrens Geschenke gleiten. „Ich hab´s“, rief sie so plötzlich, dass Liesli aus dem Gleichgewicht geriet und es diesmal nicht verhindern konnte und rücklings von Eufes Schulter stürzte. „Liesli, die schwarze Kerze“, schrie Eufe aufgeregt. „Ja und, deshalb brauchst du mich ja nicht so zu erschrecken“, maulte das Untersberger Glühweiblein mürrisch und rückte sich das ramponierte Kleeblatthütchen auf ihrem zerzausten Lockenkopf zurecht. „Was ist nun mit der schwarzen Kerze?“ „Ich muss diese Kerze anzünden Liesli. Ich brauche Feuer, wie mache ich Feuer hier?“ Liesli war froh, dass sie endlich etwas tun konnte und umschwirrte die Kerze dreimal mit ihrem Sternenstaubglitter bis sie sich entzündet hatte. „Krachderlei, dass habe ich gut gemacht“, triumphierte sie strahlend, um gleich darauf einen gellenden Hilfeschrei nach Kaliman auszustoßen. Trampelnd und schnaufend brachen die Kormoraner aus dem Stollen in die Grotte. Eine wilde Horde von dunklen pockennarbigen Männern, die anstelle ihrer linken Hand einen Eisenring mit langen Stacheln an der Innenseite ihrer Armstumpfe gebunden hatten. Das also erklärte das entsetzliche Kratzen, dass sie von weitem gehört hatte, schoss es Eufe durch den Kopf. Ihre Schädel waren kahlrasiert und, von rotglühenden Eisen, die in ihre Haut gestemmt worden waren, mit vernarbten schwarzen Brandmalen gekennzeichnet. Alle trugen das gleiche Symbol. Ein nachoben und daneben ein nach unten verlaufender Blitz. Ihre Arme und Beine waren mit Eisenspitzen gespickt, die mit Säure in die Haut geätzt und darin eingewachsen waren. Um den Hals trugen sie die gleichen Stachelringe, die sie als Handersatz hatten. Ihre Gesichter waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, von tiefen Schnittwunden, die, um die Narben wulstig wuchern zu lassen und um sie schmerzunempfindlicher zu machen, mit Salz behandelt worden waren. Obwohl Eufe nicht einmal in ihren wildesten Alpträumen im Turm schrecklicheren Monstern begegnet war, stellte sie sich schützend vor ihre Freunde, die schwarze Kerze zitternd in ihrer linken Hand vor sich haltend. Laut betete sie: „Bitte hilf uns Amo, steh uns bei!“ Die Höhle hallte wider vom furchtbaren Gelächter der entsetzlichen Kreaturen. Plötzlich sprühte eine Funkenfontäne aus der Kerzenflamme und umhüllte die Kormoraner mit dichtem Nebel. Aus ihrem hämischen Lachen wurden gellende Schmerzensschreie. Die Höhlenmänner krümmten sich und rieben sich die Augen während brüllten: „Ich bin blind, ich sehe nichts mehr...“ Eufe hörte ein Summen an ihrem Ohr und Kaliman landete mit einer riesigen Ladung violetten Höllkrauts, die ihn fast gänzlich verdeckte, auf ihrer Schulter. Ohne auch nur eine Frage zu stellen, befahl er Eufe: „Steck ihnen das Kraut in den Mund, schnell“. Im Bruchteil einer Sekunde hatten Fallada und Aruc Höllkraut auf ihren Zungen und erwachten aprupt aus ihrer Ohnmacht. Eufe rief so laut sie konnte:
„Folgt mir. Wir müssen fliehen.“ Kali und Liesli waren bereits vorausgeflogen und erwarteten sie in der Nähe des Wasserfalls. Fallada wieherte schrill und sprang donnernd auf ihre Vorderbeine. Aruc rollte sich zur Seite, während er geistesgegenwärtig die beiden Rucksäcke schnappte, die Eufe hastig zusammengepackt hatte und rannte wie von einer Hornisse gestochen hinter ihnen her. Bevor die Kormoraner reagieren konnten, waren Eufe, Aruc und Fallada hinter Kaliman und Liesli in einem Seitengang der Höhle verschwunden. „Was ist passiert Eufe, ich kann mich an nichts erinnern. Wer sind diese kleinen Flugmännchen?“, keuchte Aruc. „Wir sind keine kleinen Flugmännchen, sondern Untersberger Glühmandln“, erklärten Kaliman und Liesli hoheitsvoll und musterten den schnaufenden Aruc geringschätzig. „Sobald wir in Sicherheit sind erklär ich euch alles“, antwortete Eufe abgekämft. „Jetzt ist keine Zeit dazu, wenn die Kormoraner uns einholen ist es um uns geschehen. „Das hat sie gut erkannt“, ließen sich Kaliman und Liesli erneut vernehmen, während sie stolz, jeder auf einem Ohr Falladas saßen und im Takt des strammen Trabs, den die Stute vorgelegt hatte, auf und abhüpften, so dass die Nussschale und das Kleeblatt auf ihren Köpfchen von einer Seite auf die andere rutschten. Der Stollen war so niedrig, dass Eufe und Aruc hinter Fallada herlaufen mussten. „Dann sag mir wenigstens wohin wir rennen“, gab Aruc nicht auf, obwohl er kaum sprechen konnte, weil sein Herz gegen seine Rippen hämmerte. Noch bevor Eufe antworten konnte, zirpte Liesli von ihrem hohen Ross herunter: „Wir sind auf dem Weg in den Spinndlwall. Es ist das Reich Sikulls. Mehr darf ich dir nicht verraten, sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit meinem Gemahl“, fügte sie mit einem anklagenden Seitenblick auf Kaliman hinzu. Doch der war so glücklich auf Falladas Ohr, dass er die Bemerkung von Liesli einfach zu überhören schien. „Wer ist Silkul?“, bohrte Aruc weiter. „Nicht Silkul, Siiiikull“, berichtigte Liesli ihn schulmeisterisch. „Also gut wer ist Siiiikull?“, presste Aruc mühsam hervor und rannte murrend weiter, bis Fallada aprupt stehen blieb und sich zu ihm umdrehte: „Aruc es ist keine Zeit für Erklärungen. Eufe und die Glühmandln haben uns das Leben gerettet. Aber die Gefahr ist noch lange nicht gebannt.“ Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, preschte Fallada weiter und Aruc spürte wie ihm die Schamesröte ins Gesicht schoss. Mit gesenktem Blick lief er weiter und war dankbar, dass Eufe ihm die Hand reichte und ihm zuflüsterte. „Ich weiß auch nicht wer Sikull ist“.
8. Das Wiedersehen
Lovan stand vor dem Ältestenrat, der sich im Morgengrauen im Astrum versammelt hatte. „Ich habe euch zu dieser Stunde gerufen, um euch zu bitten meinem Plan zuzustimmen. Ich habe mich entschlossen die Jungfrau aus dem Turm zu befreien und nach Walden zu bringen.“ Lange herrschte Schweigen unter den Baumsängerinnen, die vor Lovan das Amt der Hathore inne hatten. Endlich ergriff Lovans direkte Vorgängerin Darlim das Wort: „Seit Menschengedenken leben wir in Frieden und im Einklang mit der Natur. Wir meiden den Kontakt zu Unterbergen und das aus gutem Grund. Warum willst du dich in Egoms Regierung einmischen Lovan?“ „Darlim du weißt das es keine Regierung ist. Er ist ein Tyrann, der alles um sich herum zerstört. Wenn die Jungfrau der schwarzen Sonne geopfert wird, dann wird er seine Herrschaft bis weit über Unterbergen hinaus ausdehnen. Wir haben lange vor seinen Grausamkeiten die Augen verschlossen. Noch ist es Zeit ihn aufzuhalten. Wir dürfen nicht mehr länger warten. Wir müssen handeln.“ Wieder herrschte Stille bis die mächtige Baumkrone Ygdars über ihnen zu rauschen begann und sie seine stämmigen Worte vernahmen: „Lovan hat recht. Egom muss Einhalt geboten werden. Es ist die richtige Entscheidung.“ Lovan verneigte sich ehrerbietig vor Ygdar und den ehemaligen Hathoren, die einen Kreis um sie gebildet hatten. Eine nach der Anderen küsste sie auf die Stirn und wünschte ihr Schutz und Segen. Lovan brach noch in der selben Stunde zu den Kelter Felsen auf, wo ihr ehemaliger Gemahl Jalam unter den Adlern lebte. Er hatte sie vor vielen Jahren verlassen, nachdem ihre neugeborene Tochter Laka auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Lovan war damals fast an ihrem Schmerz zerbrochen. Und wenn es ihr auch noch so schwer fiel ausgerechnet ihn, um Hilfe zu bitten. Wenn es irgendjemand gab dem es gelingen konnte die Jungfrau aus den Klauen Egoms zu befreien, dann war Jalam es. Niemand konnte sich mit ihm messen an Mut, Ausdauer und Stärke. Im Gedanken an Jalam vertieft sprang sie geübt zwischen den Ästen von Baumkrone zu Baumkrone. Je näher sie dem Kelter Felsen kam, desto heftiger schlug ihr Herz. Wie er wohl aussah nach all den Jahren? Was würde Jalam sagen? Würde er sie nach Inthorm begleiten? Es dauerte Stunden bis sie den Horst der Kelter Adler erreichte hatte. Endlich ragten die Kelter Felsen mächtig und erhaben vor ihr auf. Dichte Wolken umschwebten die zerklüfteten Bergspitzen, die selbst im Sommer schneebedeckt waren. Der Adlerhorst war auf mittlerer Höhe in die steilste der Felswände gebaut. Etwas abseits bemerkte Lovan eine Holzhütte, die an die Kosis in Walden erinnerte. Es gab keinen Zweifel. Jalam musste sie gebaut haben. Ebenso wie das Katapult, dass Lovan zwischen den Blättern entdeckte, als sie nach einem Weg suchte, um die Kelter Felswand zu besteigen. Ihre Hände wurden feucht. Es gab kein Zurück mehr. Lovan atmete tief durch und stellte sich auf den Wurfarm der Holzschleuder. Mit geübten Blick maß sie die in den Fels geschlagene Einbuchtung vor der Hütte. Sie durfte sie nicht verfehlen, sonst würde sie abstürzen. Lovan zog aufgeregt an einem Hanfstrang, der über ihr hing. Der schwere Hebelarm rasselte nieder und Lovan wurde mit einem hohen Salto aus der Baumkrone direkt vor die Hütte geschleudert. Obwohl sie aus der Übung war, gelang ihr eine perfekte Landung. Gekonnt fing sie den Schwung ab indem sie ihr linkes Bein nach hinten ausstreckte und mit dem rechten Standbein abfederte. Ihre Arme hielt sie horizontal von sich gestreckt. Jalam hatte ihr das beigebracht. Sie durfte als erste seine Erfindung benutzen, nachdem er wochenlang an seiner Konstruktion getüftelt hatte. In Walden hatte es sich allerdings nicht durchgesetzt, weil das dichte Blätterwerk der Mammutbäume die Sicht zu sehr einschränkte und es deshalb zu gefährlich es zu benützen. Hier am Adlerhorst jedoch war es die perfekte Lösung um einen gefährlichen und langwierigen Aufstieg über die Felswände zu umgehen. Mit erhitzten Wangen richtete sie sich lächelnd auf und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihren Blumengeschmückten Zöpfen gelöst hatte. Gerade als sie an die Tür der Hütte klopfen wollte, öffnete sie sich von innen. „Antar ich habe dir doch gesagt, dass du mir nicht die Äpfel vor die...“. Wie vom Blitz getroffen blieb ein Hüne von einem Mann auf der Schwelle der Hütte stehen. Er musste sich gerade gewaschen haben. Seine langen Haare hingen ihm nass in die Augen. Er hatte sich nicht die Zeit genommen ein Hemd anzuziehen und stand mit bloßem Oberkörper vor ihr. Er war sonnengebräunt und noch schöner als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Sein Körper war wie in Stein gemeisselt, muskelgestählt und sehnig. Er sah wild und verwegen aus. „Eehhh....., ich dachte es wäre einer der Adler, ein ...hm... Freund von mir. Ich habe nicht mit hmmm... Besuch gerechnet“,stotterte er als er sich halbwegs gefasst hatte. „Wo kommst du her? Ich meine..., wie eehhhhh warum bist du hier?“, verhaspelte er sich und lief dabei puterrot an. Lovan stand mit offenem Mund vor ihm. Ihr war heiß und kalt gleichzeitig. Sie hatte nicht geahnt welche Wirkung Jalam immer noch auf sie ausübte. Nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft gelang es ihr, ihre Stimme einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr Kehlkopf sich verengte und ihre Worte heiser klangen: „Ich bin hier, um dich zu bitten mich nach Inthorm zu begleiten, um die Jungfrau aus dem Turm zu befreien. Ich bin zur neuen Hathore von Walden erwählt worden. Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht den Pakt Egoms mit der schwarzen Sonne zu verhindern. Doch alleine kann ich es nicht schaffen. Ich brauche deine Hilfe Jalam.“ Als Lovan seinen Namen ausgesprochen hatte, glaubte sie eine Träne in Jalams rechten Augenwinkel zu sehen. Immer noch standen sie an der Türschwelle. Ihre Blicke trafen sich. Ohne eine weitere Frage zu stellen antwortete Jalam mit ruhiger Stimme: „Ich muss mir nur ein Hemd anziehen, dann können wir aufbrechen“.
9. Sikull und die hohen Faune
Nach einer Weile ging der Tunnel steil bergab und verwandelte sich in eine feuchte Rutschbahn. So sehr sich Eufe und Aruc bemühten nicht hinzufallen, mussten sie dennoch ihren Weg auf allen Vieren fortsetzen. Selbst Fallada hatte alle Mühe sich mit ihren Hufen gegen den Hang zu stemmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und abzurutschen. Liesli und Kaliman zogen es deshalb vor, ihren Ehrenplatz auf Falladas Kopf vorläufig zu räumen und stattdessen neben ihnen herzuschwirren und von Zeit zu Zeit „Vorsicht, so passt doch auf“, zu kreischen und damit die Totenstille zu durchbrechen, die auf ihnen lastete. Die Luft war abgestanden. Es stank nach Fledermausdreck, der ihnen Brechreiz verursachte.
„Vielleicht haben wir ja Glück und Sikull läßt sich nicht blicken“, versuchte Liesli die Gesellschaft aufzuheitern. Kaliman beschränkte sich auf einen tadelnden Seitenblick in ihre Richtung und zog es vor zu schweigen. „Na ja, viel Hoffnung gibt es allerdings nicht“, plapperte Liesli weiter. „Wer ist denn nun diese Silkulk?“, erkundigte sich Aruc ungeduldig bei den beiden Untersberger Glühmandln. „Siiiiikull“, konnte es Liesli sich nicht verbeissen ihn erneut zurecht zu weisen. „Kali, sag du es ihm, sonst heißt es wieder ich übertreibe“, forderte Liesli ihren Ehegatten auf und stieß dem kleinen Mann ihren Ellbogen unsanft in die Seite. „Also sowas, auuuuuuuuaaaaa. Lass mich gefälligst in Ruhe du Furie“. „Zankt euch doch nicht dauernd, dafür ist nun wirklich weder der geeignete Ort noch der passende Zeitpunkt“, schnaubte Fallada und peitschte mit ihrem erdverkrusteten Schweif nach den beiden, die sich eiligst in Sicherheit brachten und wieder in schönster Eintracht schimpften: „Zackdipack, lass mir meinen Kali in Ruhe“. „Untersteh dich meinem Lieschen zu nahe zu rücken“. Fallada trottete ungerührt weiter. „Nur die Ruhe. Ich hab schon aufgepasst euch nicht zu treffen“. Eufe hatte sich still verhalten, weil sie jede Art von Streit verabscheute. „Spannt uns nicht weiter auf die Folter, was ist nun mit Silkull?“, machte Aruc dem Zwist ein Ende und sprach den Namen absichtlich falsch aus. „Siiiiiiiikull“. Diesmal war es Kaliman, der übertrieben auf die richtige Aussprache des Namens pochte und verschwörerisch hinzu fügte, „ist ein Riesenskorpion. Sie ist die letzte Überlebende des Pterygotus-Clan, der vor über 500 Millionen Jahren über Unterbergen herrschte“. „Und warum flüsterst du plötzlich?“, wollte Aruc wissen. „Weil Sikull alles was sich bewegt mit ihren Giftscheren zerquetscht und auffrisst“, antwortete Liesli an Kalis statt. Eufe stellte insgeheim bewundernd fest, dass Liesli die seltene Kunst beherrschte flüsternd zu schreien. Fallada peitschte wieder nervös mit ihrem Schwanz hin und her, weshalb Liesli und Kaliman weiterhin auf Sicherheitsabstand blieben und grantig auf die weiße Stute hinunter schauten. „Und wieso seit ihr dann noch am Leben, wenn sie alles auffrisst was ihr in die Quere kommt?“, flüsterte jetzt auch Aruc. „Weil wir ihr noch nicht in die Quere gekommen sind“, zuckte Kaliman betont unbeteiligt mit den Schultern. „Das soll wohl ein Witz sein. Seit Stunden jagt ihr uns Angst ein wegen dieser verdammten Silkull...“ „Siiiikull“, verbesserte ihn Liesli. „Ja von mir aus, Siiiiiikull und ihr wisst nicht einmal ob sie wirklich existiert? Das soll wohl ein Witz sein!“, ereiferte sich Aruc. „Mein junger Herr, wir haben ein ausgesprochen umfangreiches Nachrichtennetz. Sonst hätten wir euch bestimmt nicht gefunden und aus den Klauen der Kormoraner gerettet“, bemühte sich Kaliman die Ruhe zu bewahren. Doch verriet sein hochroter Kopf wie empört er war. „Genau“, pflichtete Liesli ihm ausnahmsweise bei und verschränkte beleidigt die Hände vor der Brust. Eufe schaute nachdenklich von einem zum anderen. Sie alle waren nur ihretwegen hier. Warum sollten sie weiter ihr Leben unnötig riskieren? Sie konnten immer noch umdrehen. Egom war nur hinter ihr her. „Ich gehe alleine weiter“, bestimmte sie entschlossen, obwohl ihr nur der Gedanke daran den Magen umdrehte. „Wenn es Amos Wille ist, werde ich es schaffen.“ Plötzlich war jede Vorsicht vergessen. Aruc, Fallada, Kaliman und Liesli redeten aufgebracht durcheinander. Eufe verstand kein Wort. Es war egal, sie würde sich nicht von ihrem Entschluss abringen lassen. Auch wenn sie bebte vor Angst. Plötzlich riss sie ein lauter Schlag, der gespenstisch durch die Höhle hallte, aus ihren Gedanken. Aruc stand dicht vor ihr und hatte in die Hände geklatscht. Ausser seinen heftigen Atemzügen, war kein Laut zu hören. Er fuhr sich mit seinen lehmigen Fingern durch die wilden dreckstarrenden Locken und Eufe musste unwillkürlich denken, wie gereift er wirkte seit sie aus Inthorm geflohen waren. „Eufe, ich habe geschworen dich zu beschützen. Fallada und ich haben Mutter versprochen bei dir zu bleiben. Wir gehen gemeinsam, ganz egal was passiert. Wir bleiben zusammen.“ Mit einer Hand umfasste er Eufes klamme Finger, mit der anderen umgriff er Falladas Hals. Liesli und Kaliman hatten sich zu beiden Seiten auf Arucs Schultern niedergelassen und demonstrierten damit, dass sie ihm seinen Mangel an Respekt huldvoll vergeben hatten. Fallada senkte ihren Kopf und blies Eufe warme nach Gras und Stall duftende Luft ins Gesicht. Eufe konnte kein Wort über die Lippen bringen. Sie ließ ihren Blick von einem zum anderen wandern. Trotz der Dunkelheit, der Angst und Erschöpfung empfand sie das Gefühl inniger Zugehörigkeit. Sie sah Ullren im Geiste vor sich mit ihren schönen liebevollen Augen. Aruc schien Eufes Gedanken erraten zu haben: „Es gibt nichts zu fürchten. Wir sind stark und frei“, wiederholte er mit lauter und fester Stimme das Mantra seiner Mutter.
„Aruc“, flüsterte Eufe „bestimmt hat uns Ullren etwas mitgegeben, was uns gegen Sikull beschützen wird.“ „Du hast recht“, antwortete ihr Aruc und ließ im gleichen Moment seinen Rucksack von der rechten Schulter auf die Erde gleiten. Im hellen Schein einer Glühwürmchenschar, die Kali und Liesli stolz als ihre Cousins und Cousinnen vorstellten, begann er Stück für Stück auszupacken. Das Messer steckte bereits in seiner Gürteltasche, den Lederbeutel mit den getrockneten Kräutern legte er vor sich auf die Erde, die Adlerfeder drehte er mehrere Male dicht vor seinen Augen bis er sie vorsichtig zurück in den Rucksack gleiten ließ. Den kleinen Kieselstein beachtete er kaum, während das silbrige Band seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es sah aus wie ein Pflanzenstrang. „Warum bindest du es dir nicht um“, wollte Eufe wissen. „Aber warum, ich brauche keine Kette, sondern etwas, womit wir uns gegen Sikull verteidigen können.“ „Los Aruc, lass dich nicht lange bitten, wer weiß wofür es gut ist“, ließ sich Liesli ungefragt vernehmen und flatterte kokett auf Arucs Schulter. Woraufhin sich Kaliman eiligst in die Brust warf und eingeschnappt auf Eufes Kopf Platz nahm. „Also gut, wenn ihr meint. Von mir aus“. Umständlich nestelte er an dem Band. Plötzlich hörten sie ein pfeifendes Geräusch in unmittelbarer Nähe, gefolgt von einem lauten Knall. Der Ton erinnerte an eine dünne Lederpeitsche, die surrend durch die Luft schnitt. Liesli und Kaliman kreischten erschrocken auf und versteckten sich unter Falladas dichter Mähne. Eufe und Aruc fassten sich an den Händen. Fallada blähte ihre Nüstern und witterte. „Was war das? Woher kam dieses Knallen?“ Aruc hatte sich das Band in die Tasche gesteckt und schaute hilfesuchend zu Fallada. „Springt auf, sofort.“ Aruc half Eufe fieberhaft mit zitternden Händen beim Aufsteigen und sprang hinter ihr auf Falladas Rücken. Erneut krachte es hinter ihnen und Fallada galoppierte mit donnernden Hufen durch den, von den Glühwürmchen spärlich erleuchteten, Stollen. Peitschende Fangarme schlugen hinter und neben ihnen auf den Boden und ließ die trockene Erde aufplatzen. Fallada wieherte erschrocken als sich ein dünner Strang um eine ihrer Hufen wickelte. Sie stolperte und fast wäre Eufe dabei von ihrem Rücken gestürzt, hätte Aruc sie nicht festgehalten. Fallada hatte sich in Sekundenschnelle wieder unter Kontrolle und galoppierte verbissen weiter. Karli und Liesli waren immer noch unter ihrer Mähne in Sicherheit gegangen und wären für nichts in der Welt aus ihrem Versteck herausgekommen. Mit einem Mal machte der Erdgang eine scharfe Biegung und Fallada musste ihr Tempo verlangsamen, um nicht zu stürzen. Zu beiden Seiten tat sich ein schwindelerregender Abgrund vor ihnen auf. „Schaut nicht nach unten und bewegt euch nicht“, schnaubte die Stute und preschte weiter. „Schaut euch nicht um, egal was pa...“. Pfeifend surrte etwas durch die Luft. Eufe duckte sich instinktiv und sah wie vor ihr Funken sprühten, die kurz aufflammten, um gleich darauf zu verrauchen, so als wäre es nur ein Gespinst ihrer panischen Angst gewesen. Sie spürte Arucs festen Griff um ihren Bauch und seinen rasenden Herzschlag. Wenn Fallada auch nur einen Fehltritt machte, dann... „Amo hilf uns, hilf uns“. Ihr Hilferuf verklang lautlos in der Dunkelheit und Eufe war es als ob die Worte an ihrer statt in die Schlucht stürzten und an den zerklüfteten Felswänden zerschellten. Weiße Schaumflocken wehten aus Falladas Maul und blieben auf ihren schweißbedeckten Flanken kleben. Im nächsten Moment sah Eufe ein flammendes Blitzen, gefolgt von Falladas durchdringendem Schmerzensschrei. Die mächtige Stute sank mit beiden Vorderläufen auf die Knie und bemühte sich verzweifelt nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eufe krallte ihre Hände in ihre Mähne, Aruc hatte seinen Griff gelockert und versuchte sich mit einer Hand an Falladas Schwanz festzuhalten. Mit angehaltenem Atem erwarteten sie den nächsten Schlag. Fallada wieherte dumpf und kam mühsam auf die Beine. Wieder krachte es, diesmal jedoch war es das Splittern von zerberstendem Holz. Aruc musste wissen, wer oder was sie verfolgte und was hinter ihnen vor sich ging. Er konnte sich nicht mehr länger beherrschen und drehte sich um. Das Blut gefror ihm in den Adern. „Oh nein“, war alles was er herausbrachte. Eufe drehte sich um und folgte Arucs angstgeweiteten Augen. Was sich wie das Splittern von Holz angehört hatte, waren die aufbrechenden Panzer von zwei Ponygroßen Tausendfüßlern. Nie hatten sie etwas Grauenvolleres zu Gesicht bekommen. Die überdimensional langen Fühler der leblosen Insekten die sie als Peitschen benützen bei der Jagd ihrer Opfer, waren aus ihren augenlosen Köpfen gerissen worden und hingen quer über dem Abgrund. Sikull, so hoch wie eine ausgewachsene Buche, hatte mit ihren Hammerscheren ihre ellendicken Chitinpanzer zerschmettert. Gierig schlürfte der Monsterskorpion vor ihren schreckgeweiteten Augen die geleeartigen kürbisfarbigen Innereien, die aus den wurmartigen Rümpfen ihrer Beute quollen, in ihren Kopf. Sie war zu beschäftigt, um sich um die Freunde zu kümmern. „Los, dass ist unsere Chance. Solange sie frisst, wird sie uns nicht verfolgen“, trieb Aruc die Schimmelstute an, die am Ende ihrer Kräfte war. Mittlerweile war der Steinstieg so schmal geworden, dass Fallada nichts anderes übrig blieb als mit äußerster Vorsicht einen Huf vor den anderen zu setzen, um keinen Fehltritt zu machen und in den gähnenden Abgrund zu stürzen. Aruc und Eufe spürten wie die Stute bebte. Aruc hatte seinen Arm um Eufes Taille gelegt und klammerte sich krampfhaft an Falladas Mähne fest. Als er mit seinen Fingern Liesli versehentlich in den Arm zwickte ertönte ein mürrisches „AAAAuuuuuuaaaaa“ und ihr rampuniertes Kleeblatthütchen tauchte aus Falladas silberweißem Rosshaar auf. Von Kaliman fehlte weiterhin jede Spur. „Auuuuuaaaaa, du hast mich gezwickt,...auuuuaaaa...so eine Fre...“, als Liesli Sikull erblickte, blieben ihr die Worte im Halse stecken. Eilig wühlte sie sich wieder in Falladas Mähne und kurz darauf spitzte Kaliman daraus hervor. „ Sikull, Sikull, sie hat uns gefunden, Sikull...“ wiederholte er aufgeschreckt. „Wir sind verloren. Wir müssen fliehen, wir müssen uns retten...“. „Was meinst du was wir gerade machen?“, konnte es Aruc sich nicht verbeißen. Kaliman stutzte und klappte seinen Mund ohne weitere Erwiderungen zu. Fallada strömte der Schweiß aus allen Poren. Unaufhörlich balancierte sie weiter über den Steg, der jetzt steil bergab führte. Sikulls Schmatzen hinter ihnen war verstummt. Stattdessen hörten sie ein lautes Klatschen, gefolgt von einer Wasserfontäne, die aus dem Abgrund empor schoss und den schmalen Höhlenweg hinter ihnen überschwemmte. Wo noch vor kurzem Sikulls schwarzer Panzerlaib mit senkrecht nach oben gerecktem Klammerschwanz die gesamte Höhe des Erdschachts eingenommen hatte, waren lediglich Algen, Plankton und ein paar abgenagte Stücke der abgeschlachteten Tausendfüßler übrig geblieben, die nicht mit der Woge in die Tiefe gerissen worden waren. Der Weg führte weiter steil bergab. Fallada musste höllisch aufpassen, um nicht auszurutschen. Ein Schwarm von Fledermäusen rauschte dicht über ihren Köpfen hinweg. „Also so was, unverschämt, konnte es sich Liesli nicht verkneifen ihren Unwillen kund zu tun. „Pssst, so beherrsche dich doch...“, wies sie Kali prompt zurecht. „Du hast mir gar nichts zu verbieten, ich kann mich beschweren wann ich will und so lange ich will“, wollte Liesli diese Zurechtweisung nicht auf sich sitzen lassen. Ein platschendes Geräusch tief unter ihnen brachte die beiden Streithähne aprupt zum Schweigen. Fallada wieherte entschlossen. „Haltet euch fest. Wir müssen es bis zum Ende des Steinstiegs schaffen. Es kann nicht mehr weit sein.“ Die Höhle hallte wieder vom donnernden Galopp den Fallada vorlegte, obwohl sie kaum zwei Schritte vor Augen sehen konnte und noch immer die Schlucht zu beiden Seiten in die Tiefe stürzte. Glücklicherweise war der Weg inzwischen wieder eben geworden. Gurgelnde Geräusche drangen gespenstisch aus der finsteren Schlucht zu ihnen empor. Eufe schauerte es. Gänsehaut ließ die feinen goldblonden Härchen auf ihren Armen zu Berge stehen. Was sollen wir nur tun, wie kommen wir nur heil aus dieser Höhle? Vertraue und sei ruhig, hörte sie eine Stimme in ihrem Inneren. Eufe schloss die Augen und gab sich Falladas rythmischen Bewegungen hin. Sie spürte Arucs gepressten Atem in ihrem Nacken. Liesli und Kaliman gaben keinen Laut mehr von sich. Fallada gab ihr Letztes. Schaumfetzen wehten aus ihrem Maul und blieben auf Eufes Händen kleben, die sich an ihrer Mähne festklammerten. Eufe befürchtete das die Stute jeden Moment zusammenbrechen würde. Plötzlich rief Aruc hinter ihr: „Wir sind gerettet! Weiter Fallada, nur noch ein paar Meter. Dann haben wir es geschafft“. Eufe öffnete die Augen. Verblüfft bemerkte sie, dass sich der schmale Höhlengrat wie von Zauberhand verbreitert hatte. Der Abgrund lag hinter ihnen. Vor ihnen tat sich ein offenes Salzsteinportal auf, das in goldgelbes Licht getaucht war. Am Ende ihrer Kräfte preschte Fallada durch das Tor. Sie zitterte am ganzen Laib wie Espenlaub. Ihr Fell dampfte. Sie war durch und durch naßgeschwitzt. Aruc und Eufe sprangen von ihrem Rücken und umarmten die Schimmelstute stürmisch. „Danke Fallada, du hast uns gerettet. Du bist die Beste!“, riefen Eufe und Aruc im Chor. Lieslis Lockenköpfchen tauchte aus Falladas Mähne auf: „Sonst hätte uns Sikull jetzt in ihren Klauen“. „Oder einer der Riesentausendfüßler“, bekräftigte Kaliman seine Gattin und tauchte neben ihr aus dem Haarwust der erschöpften Stute auf. „Schon gut. Ich habe Ullren doch versprochen auf euch aufzupassen“, wehrte der mächtige Schimmel die Lobeshymnen bescheiden ab. „Außerdem hat der Spurt sich gelohnt. Seht nur“. Erst jetzt bemerkten die Freunde wohin sie geraten waren. Ihre unersättlichen Blicke verfingen sich in einem Dickicht aus wuchernden Fikusbüschen, Riesenfarnen, Elefantenstauden, Lianen und bizarren, wild rankenden Kletterpflanzen. Manche hatten spitz zu laufende hellgrüne Blätter mit roten Adern, oder waren von dunklem, fast schwarzem Grün und andere schimmerten bläulich und hatten schwarze Sprenkel. Sie sprießten bis weit über ihre Köpfe hinweg und formten ausladende Fächer, die sich zu einem wogenden Blätterdach verbanden. Würziger Duft von Rosmarin und Basilikum, vermischt mit dem schweren Aroma von Arrudakräutern betäubte ihnen die Sinne. Liesli und Kaliman kamen als erste zu sich: „Das muss Immergold sein, das Reich der hohen Faune“. Auch Aruc hatte sich inzwischen wieder gefasst und fragte neugierig: „Wer sind die hohen Faune?“ Eufe starrte noch immer andächtig in den Blätterhimmel über ihnen. Ihr Gesicht war in goldenes Licht getaucht, das ihr ein magisches Leuchten verlieh.“ Ihr habt noch nie etwas von den hohen Faunen gehört?“ Liesli war fassungslos. So sehr, dass sie freiwillig das Wort Kaliman überließ, der beflissen erklärte: „Die hohen Faune sind mächtige Magiere. Sie zeigen sich in mancherlei Formen. Als Geigenspieler, Sänger und Tänzer. Es heißt, wer ihnen nahe kommt, läßt sein altes Leben hinter sich und verwandelt sich.“ Fallada schnaubte und scharte mit den Hufen. Ein heftiger Schauer fuhr durch ihren großen stämmigen Laib, so erschöpft war sie noch immer von der anstrengenden Flucht und mehr noch von der Anspannung mit samt der Last ihrer Freunde in die Tiefe zu stürzen. Eufe streichelte ihr zärtlich über die Flanke. „Wie meinst du das verwandelt?“, wollte Aruc es genauer wissen.
„Es heißt, dass die Faune die Gabe haben jedes Lebewesen so zu sehen wie es wirklich ist. Durch ihre Berührung wird die Seele sichtbar.“ „Wie soll denn eine Seele aussehen?“, wollte Aruc wissen. „Ich weiß es auch nicht wie Luft irgendwie“, zuckte Kali seine dünnen Schultern. „Hihihihihihihihahahaha“, kicherte Liesli gönnerhaft. „Wie sieht Luft denn aus...hihihihihihihihhahahahahahah. Luft kann man doch gar nicht sehen Kali.“ Das Glühmännlein setzte sich beleidigt auf einen Rosmarinstrauch, der so groß war wie ein Baum. Er liebte den Duft von frischen Kräutern und drückte sein etwas breitgeratenes Stupsnäschen gierig in die satt grünen Nadeln. Ihr würziger Geruch nach Holz, Erde und Tannennadeln war so umwerfend, dass er rücklings abstürzte und Fallada mit einem Satz unter den Strauch sprang, um den schwindeligen Kaliman noch rechtzeitig auf ihrem breiten Rücken aufzufangen. „Uwwwwauuuu, dass zizieht sosooo richtiigg in deden Kokokopf“, stotterte Kali benommen und ließ sich genüßlich von der besorgten Liesli umschwirren, die sich aufgeschreckt um ihn kümmerte. Eufe hatte sich ein Stück weit von der kleinen Gruppe entfernt und strich geistesabwesend über die Blätter, die sich ihr aus allen Winkeln der Höhle entgegenstreckten und sich vor ihr zu verbeugen schienen. Wie sieht meine Seele aus?, ging es ihr durch den Kopf. Eufe war vollkommen erfüllt von diesem Gedanken. Unvermittelt begann sie Musik zu hören. Einzelne Töne verbanden sich zu einer betörenden Melodie, die eine schmerzende Sehnsucht in ihr erweckte. Vor ihren Augen flimmerten Farben, die nach und nach Bilder vor ihr auferstehen ließen. Sie sah weite Kornfelder, die in der roten Abenddämmerung im Wind wogten, verschneite, unberührte Wälder, sonnenüberflutete Wiesen voller Schlüsselblumen, das tiefe Blau eines Sommerhimmels, kristallklare Seen in denen sich Berge spiegelten und hohe Bäume, die ihre Blätter sacht im Wind wiegten. Lange stand sie unbeweglich da und schien ihre Freunde nicht zu hören, die nach ihr riefen. Als sie sich umdrehte, strahlte ihr Gesicht vor Glück. Lächelnd kam sie ihnen entgegen. „Ich weiß jetzt wie meine Seele aussieht.“ Fallada, Aruc, Liesli und Kaliman schauten sie verdutzt an. Eufes grüne Augen blitzten, ihre Haut hatte einen rosigen Schimmer angenommen. Ihr langes Haar umwallte ihr schönes Gesicht wie ein goldener Seidenschleier. „Eine Seele besteht aus Farben, Tönen und Bildern. Das ist es was die Faune sehen.“ „Ich verstehe es immer noch nicht. Wie soll eine Seele denn Farben, Bilder und Töne haben?, fragte Aruc sie ungläubig und legte ihr besorgt den Arm um die Schultern. „Kannst du denn auch sehen wie meine Seele aussieht? Eufe schaute ihn unverwandt an. Aruc war ihr forschender Blick unangenehm, so als ob sie in ihn hineinsehen könnte und dort alles wovor er selbst Scheu hatte es zu finden, vor ihr sichtbar werden würde. Eufe ergriff seine Hand: „Deine Seele ist blau, ein seltenes, tiefes Blau. Es ist genauso als würde ich auf den Grund eines Bergsees schauen, der über und über mit Gras und Schlingpflanzen bewachsen ist und vom Mondlicht glitzernd erhellt wird. Ich sehe weite Hügellandschaften voller wild wachsender Kornblumen. Von weit her höre ich Trommeln.“ Aruc stand fassungslos vor ihr. Wie konnte Eufe diese Bilder und Töne sehen? War sie doch als Gefangene im Turm groß geworden und hatte nicht viel mehr gesehen außer ihrer Kammer und Mutters Garten.
10. Die Festung Inthorm
Jalam saß vor Lovan auf Antars Rücken, seinem engsten Freund und König der Adler vom Kelter Felsen. Sie flogen über Walden den Bergen entgegen. Der Wind riss ihnen den Atem aus den halboffenen Lippen und zerrte an ihren Kaputzen. Jalam war es gewohnt mit Antar zu fliegen und amüsierte sich innerlich über Lovans kindliches Staunen. Obwohl sie anfangs nur zaghaft auf den Rücken des Adlers geklettert war, rief sie immer wieder wie ein kleines Mädchen: „Ich fliege, ich fliege...“ Obwohl Antar gleichgültig zu sein schien, kannte Jalam seinen Freund besser und wusste nur zu gut wie sehr ihn Lovans Begeisterung schmeichelte und zu neuen Höchstleistungen anspornte. Das war auch gut so, denn es würde nicht ganz einfach sein, die Jungfrau aus dem Turm zu befreien. Jalam ließ seine Blicke über die Landschaft unter ihnen schweifen. Walden hatten sie mittlerweile hinter sich gelassen. Vor ihnen breiteten sich weite Felder aus, auf denen Bauern arbeiteten und aus der Höhe aussahen wie eine Schar fleißiger Ameisen, die sich mühten das Heu rechtzeitig in die Scheunen einzubringen, um für den Winter vorzusorgen. Je näher sie Inhtorm kamen desto karger wurde die Landschaft. Kaum ein Baum hatte den radikalen Abholzungen Egoms standgehalten. Statt ihren breiten Stämmen und blattreichen Ästen, waren nur traurige Stümpfe übriggeblieben, die wie wulstige Narben aus dem Boden stakten. Lovan war still geworden. Jalam versuchte sie aus den Augenwinkeln zu beobachten. Ihre langen Haare hatte sie zu einem straffen Zopf an ihrem Hinterkopf geflochten. Über einer enganliegenden braunen Kautschukhose trug sie ein kurzes Überkleid aus brombeerroter Farnwolle. Ihr bodenlanger Umhang aus ungefärbter Kastanienseide wehte wie das gehisste Segel eines Flagschiffs hinter ihnen im Wind. Sie sieht aus wie eine stolze Kriegerin, stellte Jalam insgeheim bewundern fest. Er wusste was Ullren empfand. Die gefällten Bäume, die sich wie Mahnmale über ganz Steinern ausbreiteten, waren für einen Baumsänger wie der Anblick grausam enthaupteter Leichen ihrer eigenen Brüder und Schwestern. Er wollte ihre Hand ergreifen, ihr etwas Tröstendes sagen, ihr das Gefühl geben, dass er sie verstand, dass er bei ihr war. Doch er tat nichts von alledem. Statt dessen starrte er zwischen Antars ausgestrecktem Hals nur sturr geradeaus. Er wusste nicht was er Lovan sagen sollte. Wie konnte sie ihm je verzeihen. Er hatte sie verlassen, in ihrer tiefsten Stunde. Er war geflüchtet. Er hatte seinen eigenen Schmerz über ihr Leiden gestellt. Jahr für Jahr hatte er sich immer wieder vorgenommen sie zu besuchen, ihr zu erklären, dass er sich nach allem was passiert war nicht mehr gut genug fühlte ihr Mann zu sein, dass er sich die Schuld an dem Tod ihrer Tochter gab. Warum musste er an ihrer Krippe eingeschlafen sein? Warum hatte er den Aasgeier nicht bemerkt, bevor er ihnen die abgekauten Stücke ihrer drei Tage alten Tochter vor die Füße gespuckt hatte? Vergangene Wunden begannen aufzubrechen. Jalam wischte sich mit der Hand über die nassen Augen. Er war froh, dass er seine Tränen dem Fahrtwind zuschreiben konnte. Nach einer Weile stimmte Lovan ein Lied an. Es war eine Weise, die Jalam seit seiner Kindheit kannte und nicht mehr gehört hatte, seit er aus Walden weggegangen war.
Ich bin, ich war, ich werde sein immerdar. Ich kenne Dich, ich führe Dich, ich weiß um Deinen Weg. Wer könnte Dich beherrschen, wer könnte Dich verletzen. Ich bin bei Dir, Du bist Teil von mir. Ich bin, ich war, Ich werde sein immerdar.
Langsam ging die Sonne unter. Himmel und Erde verschmolzen am rotglühenden Horizont.
Inthorm ragte kerzengerade in den von dunklen Gewitterwolken verhangenen Sommerhimmel. Die groben Steinquader bildeten eine kantige, lückenlose Festung aus kalten, undurchdringlichen Granitwänden. „Jalam, wie kommen wir in die Burg? Egom hat sie hermetisch abriegeln lassen“. Lovan beugte sich vor und versuchte Jalams Gesichtsausdruck zu deuten. Mit starren Augen folgte er dem aufgeplusterten Adlerkopf, der nach einer Maueröffnung spähte. „Ich weiß es noch nicht, aber Antar wird einen Weg finden, verlass dich drauf“. Der Adler zog einen großen Kreis über den Turmzinnen und ließ sich aprupt senkrecht in die Tiefe fallen. Lovan krallte sich an Jalams Rücken. „Jalam, was ist... was macht Antar...“. Lovan erstarben die Worte auf den Lippen wie zappelnde Fische, die auf den Verkaufspritschen des Steinerner Marktes langsam verendeten. Auf den Zinnen von Inthorm zeichneten sich die Umrisse eines Vogels ab, der so groß war wie ein Drache. Seine messerscharfen Krallen waren wie spitze Fleischerhacken nach ihnen gekrümmt. Sein mörderisches Kreischen hallte in hundertfachem Echo von den Bergen wider. Noch bevor Jalam etwas erwidern konnte, streifte Antar im Sturzflug einen Mauervorsprung unterhalb der Zinnen, der im selben Augenblick rasselnd eine Öffnung freigab. Jalam brüllte: „Spring Lovan, jetzt, spring...“. Antar strauchelte und glitt knapp an den monumentalen Schwingen des Vogelgiganten vorbei. Lovan spürte Jalams kräftige Hände, die sich wie Eisengurte um ihre Taille legten. Er riss sie von Antars Rücken und hechtete mit ihr in die schmale Maueröffnung. Ohne sie los zu lassen, rollte er sich geschickt ab und verhinderte dabei, dass Lovan beim Aufprall mit dem Kopf gegen die Mauer schlug. Lovans Herz hämmerte bis in die Schläfen. Wie von weitem hörte sie Jalams Stimme, die ihr immer noch so vertraut war, als ob er sie nie verlassen hätte: „Alles gut, alles gut Lovan“. Gemeinsam kauerten sie sich in den schmalen Schacht, der Egom und seinen Wächtern zu Beobachtungszwecken im Fall einer Belagerung dienen sollte. „So Antar jetzt kannst du zeigen, wer der König vom Kelter Felsen ist“, murmelte Jalam zu sich selbst. An Lovan gerichtet, die ihn fragend anschaute: „Das ist ein Hansakan. Er ist Antars Todfeind. Sie kommen nicht nach Walden, weil sie Bäume verabscheuen“ Jalam hatte beide Hände zu Fäusten geballt und beobachtete angespannt den Kampf der beiden Vögel. Antar war dem ersten Angriffsmanöver von Hansakan souverän ausgewichen und beschrieb einen großen Kreis über Inthorm, um Zeit zu gewinnen. Sein Gegner, der den Adler um ein Vielfaches überragte, war mit drei Flügelschlägen in seiner Nähe und versuchte ihn mit seinen Krallen zu packen. Obwohl Antar blitzschnell abdrehte, hatte Hansakan ihn im Nacken erwischt. Ein Büschel Adlerfedern wirbelte durch die Luft und blieb vor Jalam und Lovan auf dem Turmvorsprung liegen. „Autsch“, grinste Jalam in Lovans Richtung und versuchte die Sorge um seinen Freund mit Galgenhumor zu überspielen. „Wir müssen Antar helfen Jalam. Wie können wir ihm nur helfen?“, Lovan war außer sich. „So wie ich Antar kenne, wäre es ihm äußerst unrecht, wenn ich ihm zu Hilfe eilen würde. Noch dazu in der Gegenwart der schönen Hathore von Walden“. Trotzdem tastete er fieberhaft nach lockeren Steinquadern, die er als Wurfgeschosse gegen Hansakan einsetzten konnte. Das laute Kreischen des Greifers hatte die Turmwächter alarmiert, die aufgeregt auf den Zinnen zusammenliefen und den Kampf verfolgten. Jalam zog Lovan tiefer in den Mauervorsprung, um nicht entdeckt zu werden. Nach mehreren gescheiterten Versuchen Antar zu packen, schrie das gefiederte Greifmonster so entsetzlich auf, dass ihnen der Atem stockte. Wutentbrannt voll blindem Hass stürtzte sich Hansakan erneut auf Antar, der dem Angriff wehrlos abzuwarten schien. Erst als Hansakan mit seinem spitzen Schnabel mit aller Wucht nach Antars Kopf hackte, um ihn zu spalten, drehte sich der Adler im letzten Moment auf die Seite und tauchte unter dem Greifvogel weg wie ein flinker Biber, der in einem seichten Bach schwimmend behende den Steinen auswich. Seiner Zielscheibe beraubt, rammte sich Hansakan den Hackenschnabel, so hart und schwer wie Blei, selbst in die Brust. Eine Blutfontäne sprudelte in den Himmel und der Greifer stürzte tot in die Tiefe. Antar schoss wie ein Pfeil hoch über die Zinnen von Inthorm hinaus und stieß einen siegreichen Schrei aus. „Na also Junge, ich hab mir schon Sorgen gemacht“, flüsterte Jalam erleichtert. Er formte mit beiden Händen eine Sprechmuschel und ahmte die guturalen Schreie der Adler nach. Kurz darauf entschwand Antar aus ihrem Gesichtkreis. „So jetzt ist es an uns zu zeigen was in uns steckt. Im Morgengrauen kommt Antar zurück, um uns zu holen. Wir haben eine Nacht im Turm, um die Jungfrau zu befreien. Egal was passiert Lovan, vertraue mir. Versprich mir das.“ Lovan blickte in Jalams entschlossene Augen und antwortete: „Ich vertraue dir Jalam“. Behende robbten sich die beiden Baumsänger durch den Aussichtsspalt. Als geübte Kletterer bereitete es ihnen keinerlei Schwierigkeiten sich lautlos an den Felsvorsprüngen der meterhohen Mauer herunterzuhangeln, die am Eingang des Wachturms mündete. Ein Soldat schritt mürrisch davor auf und ab, während die Zinnenwächter aufgeregt durcheinander schrien bis eine herrische Stimme dem Tumult ein Ende bereitete: „Wer ist dafür verantwortlich?“ Einer der Wachen antwortete: „Ein Adler war es“. „Wie konnte das passieren? Warum ist keiner von euch eingeschritten? Seit ihr noch bei Sinnen? Ihr wisst doch, dass Egom Hansakane fast genauso verehrt wie Drachen. Wenn Egom davon erfährt, läßt er den Verantwortlichen hinrichten. Los bergt gefälligst die Leiche ihr nichtsnutzigen Idioten“. Jalam drehte sich zu Lovan um und legte seinen Zeigefinger auf seinen Mund. Mittlerweile war es dunkel geworden und unzählige Sterne zeigten sich am Firmament. Im Innenhof von Inthorm lag der Kadaver des Hansakan. Aus dem aufgerissenen schwarzen Federleib des Raubvogels quollen Gedärme und halbverdaute Fleischreste von Ratten, Katzen, Hunden, sogar Kühen. Veltron starrte hasserfüllt aus seinen zusammengekniffenen Augen: „Ihr glaubt doch nicht, das ich wegen euch Nichtsnutzen meine Stellung bei Egom riskiere. Los bewegt euch. Los macht schon. Kein Adler würde unter normalen Umständen einen Hansakan besiegen. Jemand muss ihm geholfen haben. Findet den Schuldigen und bringt ihn zu mir. Es ist mir egal wie lange ihr sucht. Wenn ihr beim Morgengrauen immer noch nicht wisst wer es war, dann werfe ich das Los. Wehe dem Getroffenen. Ich werde ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen und mit Pech bestreichen, an denen ich Hansakans Federn befestige, um ihm Egom vorzuführen.“ Jalam gab Lovan ein Zeichen hinter ihm zurück zu bleiben. Geduckt pirschte er sich von hinten an den Wachsoldaten heran und drückte ihm beide Zeigefinger an die Schläfen bis er lautlos ohnmächtig zusammensackte. Lovan eilte an Jalams Seite. „Und wie finden wir heraus wo Egom die Jungfrau gefangen hält?“,schaute sie ihn besorgt von der Seite an. „Da verlasse ich mich ganz auf deinen weiblichen Instinkt“. Hinter dem Wachturm gelangten sie in einen Schacht der mehrere Biegungen machte und schließlich vor einer Falltür aus massivem Eichenholz mündete. Jalam stemmte sich mit aller Kraft gegen die Falltüre, die quietschend aufsprang. Lautlos betraten sie einen Saal, dessen Wände mit Wappenschildern und Waffen behangen waren auf denen Egoms Symbol des fliegenden Drachen eingraviert war. In der Mitte befand sich ein goldener Thron, dessen Rücken- und Armlehnen Edelsteine verzierten. „Das muss Egoms Empfangssaal sein“, flüsterte Lovan.
„Leise Lovan, ich höre Schritte. Schnell, bevor sie uns finden.“ Jalam zog Lovan mit sich in den Schatten neben dem offenen Kamin, hinter einen mannshohen Stapel aus aufgeschichteten Brennholzknüppeln. Zwei finster dreinblickende Wächter stürmten durch die Tür. „Ich hab die Schnauze voll von dieser Herumschikaniererei. Eigentlich war es Veltrons Wache und jetzt sollen wir für ihn büßen. Dieser Dreckskerl.“ Laut schimpfend näherten sich die Wachen dem Kamin. Jeden Moment mussten sie Lovan und Jalam hinter dem Holzstapel entdecken. Bevor Jalam sich aufrichten konnte, um zum Schlag auszuholen und ihnen zuvorzukommen blieb einer der beiden Wächter stehen und flüsterte seinem Kumpanen etwas ins Ohr. Lovan klopfte das Herz bis zum Hals. Sie spürte Jalams breite Brust in ihrem Rücken, die sich in gleichbleibendem Rythmus hob und senkte. Er war warm und stark. Unwillkürlich erinnerte sie sich an ihren ersten Kuss, als er sie im Mondlicht auf einen der höchsten Baumwipfel von Walden geführt hatte, sie von hinten umarmte und ihren Kopf langsam zu sich herumdrehte bis sich ihre Lippen berührten. Die heisere Stimme des zweiten Wächters riss sie aus ihren Gedanken: „Ja der Plan gefällt mir Jung, wir holen die Hexe aus dem Kerker, verstecken sie in der Burg und holen Verstärkung, die wir auf ihre Fährte ansetzen. Und dann brauchen wir sie nur noch gemeinsam mit den Anderen gefangen nehmen und ihr die Schuld an dem Tod des Hansakans geben. Egom wird sie sowieso töten, also kommt es nicht darauf an, ob es früher oder später passiert.“ Die beiden Wächter lachten hämisch und verließen das Turmgemach. Jalam und Lovan wechselten einen kurzen Blick und folgten den beiden Männern lautlos in sicherem Abstand. Sie hatten Glück, dass die Nacht bereits hereingebrochen war und die Gänge der Festung nur spärlich mit Pechfakeln beleuchtet waren. Lovan zog sich die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht. Jalam hatte sich Gesicht und Hände mit Ruß aus dem Kamin geschwärzt. Die Wächter eilten vor ihnen im Laufschritt durch die weiten Trakte der Burg. erschien es Lovan und Jalam hetzten hinter ihnen her durch die nicht enden wollenden Gänge der Festung. Endlich blieben die beiden Männer vor einer Eisentür stehen. Ein schwerbewaffneter Soldat schob davor Wache und ging auf und ab. Sie unterhielten sich kurz mit ihm und begannen aufgeregt zu gestikulieren. Plötzlich zog einer der Soldaten ein Messer und rammte es dem Kerkerwächter kaltblütig in den Bauch, der mit schmerzverzerrtem Gesicht vornüber fiel und tödlich getroffen liegen blieb. Hektisch rissen die Angreifer die schwere Schlüsselkette aus den leblosen Händen ihres Opfers. Unter wutenbrannten Fluchsalven suchten sie fieberhaft nach dem richtigen Schlüssel bis es ihnen schließlich gelang in das Verlies einzudringen. Blitzschnell setzte Jalam hinter ihnen her. Lovan blieb an der Tür stehen, um sicher zu gehen, dass ihnen niemand auflauerte. Während die beiden Wächter sich über die Gefangene beugten, hechtete Jalam in einer Flugrolle durch die Luft und kam hinter den überrumpelten Männern zum Stehen. Er nützte den Überraschungsmoment und drückte ihnen seine beiden Daumen wie Schraubstöcke in den Nacken. Damit legte er ihr zentrales Nervensysthem lahm, so dass sie sich weder bewegen noch sprechen konnten. Nachdem er die Soldaten aneinander gefesselt hatte, schloss er die Kette der Gefangenen auf, die schaudernd dem Vorgang zugeschaut hatte. „Keine Angst. Du bist gerettet. Wir sind gekommen, um dich zu befreien“, beschwichtigte Jalam sie. Behutsam hob er Ullren vom Boden auf und trug sie aus dem Verlies. Lovan verriegelte die Tür hinter ihnen. „Du hast nichts mehr zu befürchten“, versuchte Lovan der zitternden Ullren Vertrauen einzuflößen. „Wir lassen nicht zu, dass Egom dich der schwarzen Sonne opfert.“ Jetzt erst verstand Ullren, dass sie eigentlich Eufe suchten. „Ich bin nicht die Jungfrau. Ich bin Eufes Ziehmutter. Ich habe ihr mit zur Flucht verholfen. Ich habe sie gemeinsam mit meinem Sohn in die Höhlen geschickt, weil es der einzige Weg ist Egom zu entkommen. Bitte helft ihnen. Es darf ihnen nichts zustoßen.“ Jalam hatte Ullren auf dem Boden abgesetzt. Immer noch war sie so geschwächt von dem Gift, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Jalam hob sie erneut auf seine Arme: „Mach dir keine Sorgen, sobald wir dich in Sicherheit gebracht haben, suchen wir sie. Egom wird sie nicht bekommen“. Lovan nickte ihr aufmunternd zu. „Darf ich wissen, wen ich mit mir herumtrage?“ Jalam lächelte ihr verschmitzt zu. „Oh verzeiht Herr“. Ullren schoss die Schamesröte in die Wangen. „Mein Name ist Ullren.“ Jalam deutete eine Verbeugung mit seinem Kopf an und stellte sich galant vor: „Ich bitte euch mich nicht Herr, sondern Jalam zu rufen. Ich bin Jalam vom Kelter Felsen.“ Es versetzte Lovan einen Stich, dass Jalam seine Herkunft verleugnete. Er war Waldener und Baumsänger, genau wie sie und nichts würde das je ändern. „Und das ist Lovan, Hathore der Baumsänger aus Walden.“ Ullren schaute beide ehrfürchtig an. Endlich hatte sie den Beweis, den lebendigen Beweis, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als Unterbergen. Nur mit Mühe konnte sie ihre Tränen zurückhalten. Sie versuchte Worte zu finden, doch die Tränen rannen ihr unaufhaltsam über die Wangen. Sie brachte keinen Ton über die Lippen. „Schon gut Ullren. Alles gut. Komm wir müssen so schnell wie möglich auf die Zinnen gelangen, bevor uns Egoms Wachen finden. Kennst du den Weg aus der Burg?“ Lovan sah sie eindringlich an und für den Bruchteil einer Sekunde schien es beiden Frauen, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Ullren versuchte sich in der Dunkelheit zu orientieren. „Wir sind im Westteil der Festung. Nicht weit von hier befindet sich ein Geheimgang, der bis zu den Zinnen führt.“ „Sehr gut. Ich hoffe nur Egoms Männer sind noch dümmer als sie aussehen“, grinste Jalam und rannte, Ullren in seinen Armen, gefolgt von Lovan in die Richtung aus der sie gekommen waren. Ohne weitere Zwischenfälle gelangten sie zum Geheimgang und schafften es, dank der Schlüsselkette, die Jalam den betäubten Soldaten abgenommen hatte, mühelos den mit einem Wappenschild getarnten Zugang aufzusperren. Jalam kroch als erster in den schmalen Schacht, dicht hinter ihm gefolgt von Ullren und Lovan. Sie mussten sich bücken und ihren Weg in absoluter Dunkelheit ertasten. Keiner sagte ein Wort. Sie hofften inständig, so schnell wie möglich, an das Ende des Schachtes zu gelangen. Nach einer Weile verbreitete sich der Geheimgang und mündete vor einer Wendeltreppe, die sich steil nach oben schraubte. Ohne eine Pause zu machen stiegen sie Stufe für Stufe höher bis sie an eine Lucke gelangten. „Dieser Ausgang führt uns direkt zu den Zinnen, wo die Wachablösung der Soldaten stattfindet“, stieß Ullren atemlos hervor. Das Treppensteigen hatte sie all ihre Kraft gekostet. Jalam drehte sich zu den beiden Frauen um: „Antar erwartet uns erst im Morgengrauen. Ich werde vorgehen. Sobald die Luft rein ist, hole ich euch nach.“
Jalam stieß vorsichtig die Luke auf und fand sich unter den Burgzinnen wieder. Immer noch war es dunkel. Wind und Kälte schnitt ihm durch das feingewebte Leinenhemd, dass ihm Lovan als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Die gefallene Temperatur war ein sicheres Zeichen dafür, dass es nicht mehr lange dauern konnte bis der Morgen graute. Niemand schien das Verschwinden der drei Wächter bisher bemerkt zu haben. Trotzdem machte sich Jalam keine falschen Hoffnungen. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie sie finden würden und . Um keinen Preis durften Egoms Soldaten Lovan und Ullren in die Hände bekommen. Nur über seine Leiche. Etwa zehn Meter von ihm entfernt gingen zwei Soldaten mit langen Lanzen bewaffnet auf und ab. Außer den Sohlen ihrer Stiefel, die ein rythmisches „Ptaki Ptaka“ auf die Steinquader klopften, blieb es still. Die restlichen Soldaten suchten nach den Komplizen des Adlers, der Hansakan besiegt hatte. Jalam presste sich dicht an die Mauer und verschmolz mit ihr wie ein Feuersalamander, der, je nach Temperatur seiner Umgebung, die Farbe ändern konnte. Es gab nur einen Ausweg. Er musste die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich lenken und sie so lange auf Abstand halten bis Antar sie holen kam. Die Nacht war sternenklar. Ein dichtes Spalier aus Hecken zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er pirschte bis an die grüne Mauer heran, die, genau in der entgegengesetzten Richtung des Wachturms, unter den Zinnen stand. Ohne einen Laut von sich zu geben, schlüpfte er zwischen den Stauden hindurch und hätte fast ein lautes „Howoohoooow“ von sich gegeben, so beeindruckt war er von dem Anblick, der sich ihm bot. Ein geheimer Garten voller duftender Blumen, hohen Gräsern und blühender Büsche lag vor ihm im fahlen Sternenlicht. An allen Ecken glitzerten Glühwürmchen auf. Jalam fühlte sich fast an Walden erinnert. Eine ungewöhnlich hohe Eberesche ragte bis weit über die Zinnen hinaus. Das war die Rettung. Er würde Lovan und Ullren holen und mit ihnen auf den Wipfel klettern und dort Antars Rückkehr abwarten. Er konnte nicht länger das Risiko eingehen, dass die Wachen Lovan und Ullren entdecken würden. Ebenso lautlos wie er gekommen war, pirschte sich Jalam zurück zur Luke des Geheimgangs. Als er sie öffnete knarzte das morsche Holz in den schmiedeeisernen Verankerungen. Jalam schlug das Herz bis zum Hals. Er stand still wie eine Salzsäule und wartete. „Hey, wer da, wer ist da?“, hörte er einen der Soldaten rufen. „Zeige dich“, kam die Stimme langsam näher. Jalam musste handeln. Mit einem Ruck drehte er sich um, rannte auf den überraschten Wachposten zu und drückte ihm beide Daumen in die Schläfen. Bevor der Soldat wusste was ihm geschah lag sein Körper reglos zu Jalams Füßen. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. An die Mauer gedrückt rannte er zurück zum Geheimgang. Lovan hatte sich auf den Boden gesetzt und Ullrens Kopf in ihren Schoß gebetet. „Schnell wir müssen hier raus. Ich trage Ullren.“ „Ist Antar zurück?“. Lovan schaute ihn hoffnungsvoll an. „Nein noch nicht, aber hier ist es zu gefährlich für euch. Es gibt einen Turmgarten, wo wir uns verstecken können bis Antar zurück kommt.“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen als der Hall von harten, hastigen Schritten durch das Gewölbe donnerte. „Los, das sind die Wachen, wir müssen so schnell wie möglich raus hier.“ Ullren war aufgewacht und so benommen, dass sie kaum wahrnahm, was um sie herum geschah. „So meine Schöne. Ich trage dich jetzt in deinen Garten. Dort klettern wir auf die Eberesche.“ Lovan versetzten Jalams Worte einen Stich. Sie empfand das gleiche Unbehagen wie zuvor als er sich als Jalam vom Adlerfelsen von Kelt vorgestellt hatte. „Lovan, komm folge mir, es ist keine Zeit mehr.“ Mit der fast bewusstlosen Ullren im Arm rannte Jalam aus dem Geheimgang und wäre fast über einen Wachsoldat gestolpert, der sich über den leblosen Körper seines Kumpanen bückte. Die zu Tode erschrockene Ullren auf dem Arm, hatte Jalam keine andere Wahl als sich mit einem Tritt in den Hoden, seines Gegners zu entledigen, gefolgt von einem gezielten Schlag gegen seinen Hals in Höhe des Adamsapfels. Mit dem röhrenden Grunzen eines balzenden Frosches, sackte der Soldat in sich zusammen und begrub seinen Kumpanen unter seinem massigen Körper. Jalam lief weiter in Richtung Turmgarten. Lovan blieb ihm dicht auf den Fersen. „So hier gehts durch, hier durch die Hecken.“ Jalam zwängte sich mit Ullren durch einen schmalen Spalt zwischen den Büschen. Als Lovan hinter ihm den Turmgarten betrat, war sie ebenso beeindruckt wie Jalam von der verträumten Schönheit des Gartens, der in starkem Kontrast mit dem Rest der unwirtlichen Festung stand. „Das ist ja unglaublich Ullren. Was für ein wundervoller Garten.“ „Ich habe ihn ganz allein gepflanzt“ ,lächelte Ullren schwach. „Wir klettern auf die Eberesche und verstecken uns fürs erste in ihrem Wipfel, trieb Jalam sie zur Eile an. Lovan war als erste am Baum angelangt und kletterte mit geübten Bewegungen, so grazil und leichtfüßig wie ein Eichkätzchen auf die Zweige. Jalam setzte Ullren vor dem Stamm auf dem Boden ab und schwang sich auf einen der untersten Äste. Mit einer Hand am Stamm abgestützt, reichte er Ullren seine rechte Hand, Lovan streckte Ullren ihre linke Hand entgegen und gemeinsam zogen sie die geschwächte Ullren auf den Baum. Am Horizont zeichnete sich der erste Lichtstreifen ab. Antar konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Von der anderen Seite des Heckenspaliers brüllte eine herrische Stimme drohend: „Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Noch zwei von uns. Wir müssen es mit einer ganzen Horde zu tun haben. Los sucht in allen Ecken nach den Aufständlern, überall. Sie dürfen uns nicht entkommen.“ Lovan und Jalam, der Ullren auf seinem Rücken trug, kletterten so schnell sie konnten auf den höchsten Ast. Kaum hatten sie sich auf der Astgabel zusammen gekauert und so gut es ging unter dem dichten Blätterwerk versteckt als eine Gruppe von Egoms Soldaten in den Garten stürmte. Wütend und schreiend trampelten sie durch die Beete, verwüsteten das Gras und zerschlugen mutwillig mit ihren Lanzen und Schildern die Blumen und blühenden Büsche. Ullren presste sich die Hand vor den Mund um nicht laut aufzuschreien. Heiße Tränen rannen ihr über die eingefallenen Wangen. Lovan streichelte ihr wortlos über den bebenden Rücken, während Jalam versuchte die Umrisse Antars am Horizont auszumachen. Doch so sehr er sich bemühte den Adlerkönig zu entdecken, konnte er nichts erkennen, was auf Antar schliessen liess. Eine Gruppe von vier Soldaten war inzwischen unter der Eberesche stehen geblieben und bemühte sich in der Dämmerung zu erkennen, ob sich jemand in den Zweigen des Baumes versteckt hielt. Jalam, Lovan und Ullren hielten den Atem an. „Los du und du, ihr klettert auf den Baum, und seht nach“, befahl ihr Anführer, den Ullren sofort erkannte. Es war Veltron. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, was er mit ihr machen würde, wenn er sie in die Hände bekam. Von Minute zu Minute wurde es heller. Selbst das dichteste Blattwerk konnte sie bald nicht mehr vor den lauernden Augen der Soldaten verbergen. Schon war einer der Wachen unbeholfen und ächzend auf den Stamm geklettert als ein Vogelschrei über ihnen ertönte. „Antar, das ist Antar“, flüsterte Jalam erleichtert und entdeckte den Adler, der über ihnen kreiste und zur Landung ansetzte. Die Soldaten rannten aufgeregt durcheinander und versuchten ihn mit ihren Speeren zu treffen. Antar wich ihren Angriffen aus und ließ sich majestätisch auf den Zinnen nieder. Jalam ahmte einen guturalen Laut nach, den der Adler erwiderte. Weitere Soldaten waren zusammengelaufen und formierten sich unter Veltrons Kommando: „Eins, Zwei, Drei und Schuss“. Bevor ein Speerregen auf Antar niederging, hatte der Adler sich zum Baumwipfel aufgeschwungen und betont gelassen auf die Krone gesetzt. Jalam ging für einen Moment aus der Deckung und wäre fast von einer Lanze in den Arm getroffen worden. Lovan schrie entsetzt auf. „Lovan, Ullren hier zu mir, duckt euch und springt auf Antars Rücken, sobald ich das Zeichen dazu gebe.“ Die beiden Soldaten, die von Veltron auf den Baum gehetzt worden waren, versuchten mit ihren Lanzen nach ihnen zu stechen. Jalam kletterte auf einen niedrigeren Ast und gab Lovan und Ullren Deckung. „Springt“. Für einen kurzen Moment drehte er sich um und vergewisserte sich, dass Lovan und Ullren unverletzt auf Antars Rücken geklettert waren. Einer der Soldaten nützte Jalams Unaufmerksamkeit aus und hieb mit der Lanze nach ihm. Obwohl er Jalam um Haaresbreite verfehlte, entzweihte er mit dem Schlag den Ast auf dem Jalam stand. Der Baumsänger konnte sich im letzten Moment an einem Zweig über ihm festhalten. Dafür gelang es dem Soldaten ihn an einem Bein zu packen. Als Jalam sich mit einem Tritt aus dem Schraubstockgriff des Soldaten befreite, brach auch dieser Ast. Jalam stürzte ab und riss den Soldaten mit sich. Im letzten Moment blieb er an einer Astgabel hängen, auf der er bewusstlos liegen blieb. Jalam war mit dem Kopf gegen den Baumstamm geschlagen und hatte sich eine klaffende Platzwunde an der Schläfe und blutende Abschürfungen an beiden Armen zugezogen. Der Soldat hatte weniger Glück und blieb nach dem harten Aufprall leblos, mit merkwürdig verdrehten Beinen, vor dem Baum liegen. Lovan saß vor Ullren auf Antars Rücken und hatte die Szene entsetzt beobachtet. Als Jalam zum zweiten Mal abgestürzt war, hechtete sie ohne zu zögern von Antars Rücken, um Jalam zu Hilfe zu eilen. In der Zwischenzeit hatte Veltron den Befehl erteilt Jalam mit Gewalt vom Baum zu holen. Vier Soldaten erklommen nach einander den Stamm der Eberesche und versuchten sich in die Nähe des Baumsängers zu hangeln, der immer noch nicht zu sich gekommen war. Veltron hatte die Speersalven inzwischen eingestellt, um seine eigenen Soldaten nicht zu gefährden. Lovan nützte diesen Moment. Sie ließ sich mit einem riskanten Sprung mehrere Meter tief neben Jalam auf die Astgabel fallen und hoffte inständig, dass sie ihrer beiden Gewicht aushalten würde. Ohne auf die Soldaten zu achten, die mit ihren Lanzen und Speeren nach ihnen stachen, nahm Lovan Jalams blutenden Kopf behutsam in ihre Arme und wischte ihm das Blut von der Stirn. Er öffnete stöhnend die Augen und rieb sich seine linke Schulter. Lovan lächelte ihn erleichtert an. „Du bist abgestürzt und warst einen Moment lang ohnmächtig.“ Obwohl Lovan nach aussen hin ruhig wirkte, raste ihr Herz. Jalam richtete sich benommen auf. Beim Anblick der Soldaten, die versuchten in ihre Nähe zu gelangen, kam seine Erinnerung schlagartig zurück. Ohne sich um die Wunde auf seiner Stirn zu kümmern, nahm er Lovan bei der Hand und gemeinsam sprangen sie auf den nächst höher gelegenen Ast. Unter sich hörten sie die Soldaten fluchen. In zwei Sätzen gelangten sie auf den Baumwipfel, wo Antar und Ullren sie angespannt erwarteten. Kaum waren Jalam und Lovan auf Antars Rücken gesprungen als der Adlerkönig mit seinen mächtigen Schwingen ausholte und Inthorm hinter sich ließ. Als Abschiedsgruß schickte Veltron ihnen einen Pfeilhagel hinterher, der nur haarscharf an ihren Köpfen vorbei pfiff. Von starkem Rückenwind begünstigt, stieg Antar immer höher bis sie außer Reichweite der Pfeile und in Sicherheit waren.
11. Eufe and Arucs Bestimmung
Fallada trabte voraus mit gespitzten Ohren und geblähten Nüstern. Eufe hielt sich dicht hinter ihr, gefolgt von Aruc und den beiden Untersberger Glühmandln, die hinter ihnen her flogen.
Obwohl ihnen der Magen knurrte und sie sich kaum noch an ihre letzte Mahlzeit erinnern konnten, waren sie vollkommen im Bann des Faunenreichs Immergold. Nie hatten sie einen bezaubernderen Platz gesehen. Je tiefer sie in die Grotte eindrangen desto heller wurde sie. An den Kalksteinwänden blühten weiße Lilien und aus den Mauerritzen sprossen duftende zart violette Lavendelbüschel. Es war still und sie hörten nur das Echo ihrer eigenen Schritte. Nach einiger Zeit erklang von weither Gesang, der immer näher kam, je weiter sie voranschritten. Die Sängerin balancierte wie eine tanzende Ballarina von Ton zu Ton.
Eufe war stehen geblieben und lauschte.
Terum, terum, terum, digatupan digatusaluman, kaliragu, kaliragu, kaliragu, anumau, anumau, ipasu, elixadorilauah.
Ein Licht erstrahlte vor ihr.
Das Licht wurde heller und heller bis es in einer Fontäne aus flüssigem Silber kulminierte und die Gestalt einer biegsamen Feder annahm, die so groß war wie Fallada, wenn sie sich aufbäumte. Eufe wagte nicht sich zu rühren. Sie konnte nichts mehr außer dem Gleißen der Lichterscheinung um sich wahrnehmen, die immer weiter sang:
Katikatum iu, ia, isa, ele, katikatum api atima, sapau, aligu uuiuu ahhahhhhahhhhaaaahaaaaaa euuuuffffeeeeeeeeeeeeeeeeee euuuuuuufffffeeeeeeeeeeeeee
Ein Lufthauch fuhr über Eufes Stirn und Nase, über ihr Haar und ihre Augen, die sie geschlossen hatte. Es war ihr als ob sie sich in Licht aufgelöst hätte. Als sie die Augen öffnete, sah sie eine wunderschöne Frau vor sich, die einen geflochtenen Kranz aus weißen Seerosen auf ihrem Kopf trug. Ihr Haar fiel in weichen Wellen wie sämiger Honigwein über ihre Schultern. Ihr schlanker Körper war mit einem bodenlangen perlmuttschimmernden Kleid bedeckt. Sie verbeugte sich vor Eufe und sprach:
„Du bist gekommen, um zu verwandeln: Angst in Liebe, Gewalt in Güte, Widerwärtigkeit in Grazie, Hochmut in Einfachheit, Trostlosigkeit in Freude, Häßlichkeit in Schönheit, Trennung in Einheit.“
Langsam verblasste das Bild der Faunsängerin vor Eufes Augen: „Wo ist sie?“ Eufe dreht sich mehrmals um die eigene Achse. „Wo ist wer, von wem sprichst du?“, schüttelte Aruc den Kopf. „Also ehrlich, seit wir in diese Grotte geraten sind, bist du eigenartig. Dauernd tust du so, als wären wir überhaupt nicht hier. Du faselst von komischen Geschichten über Farben und Töne. Und jetzt suchst du auch noch jemanden, der gar nicht da war“. Eufe schaute verwirrt von einem zum anderen. Keiner ihrer Freunde schien die Faunsängerin weder gesehen noch gehört zu haben. „Aber habt ihr denn nicht die Faunsängerin bemerkt? Sie war hier vor mir, genau da wo jetzt Fallada steht. Sie hat gesungen und zu mir gesprochen...“
Aruc schaute sie noch immer verständnislos an. Liesli und Kaliman lächelten vielsagend. Fallada trat dicht vor sie und blies ihr ihren warmen Atem ins Gesicht, der nach Huflattich und Klee roch. „Blümchen nur dir ist die Faunsängerin erschienen, weil sie eine Botschaft für dich hatte. Verwahre die Nachricht gut in deinem Herzen. Irgendwann wirst du ihren Zusammenhang verstehen“. Fallada schnaubte: „So und jetzt gehen wir weiter bis wir etwas Essbares gefunden haben.“ „Die erste vernünftige Idee heute“, maulte Aruc und setzte sich an die Spitze der Truppe. Er wollte zu gerne wissen was genau Eufe in ihrer Vision erblickt hatte. Aber wenn sie sich ihm nicht von alleine anvertraute, dann würde er sie auf keinen Fall fragen. Aruc war so in seine Gedanken versunken, dass er um ein Haar gegen einen mannshohen Strauch gelaufen wäre, dessen Zweige sich fast bis zum Boden bogen, so schwer war er mit köstlich duftenden Brotfrüchten behangen. Liesli und Kali jubelten entzückt und ließen sich schnurstracks auf einem der Äste nieder, um mit ihren gierigen Mäulchen in das weiche Fruchtfleisch zu beißen, dass nicht nur aussah wie frisch gebackene Weizenfladen, sondern auch so schmeckte. „Mmmmmhh, köstlich, mmmmmmmmmhhhhhhhhhhh wuuuuunnnnnnndddddeeeeeerrrrrrbaaaaaaaaaarrrr“, Liesli und Kali konnten sich nicht genug über die Köstlichkeit der unerwarteten Speise auslassen. Aruc, Eufe und Fallada zögerten. Sie mussten unwillkürlich an ihre schlechte Erfahrung mit dem Höhlenrauschwasser denken. Währenddessen schmatzten die beiden Glühmandln fröhlich vor sich hin. „Also ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich habe so grossen Hunger, dass ich das Risiko eingehe“, fasste Aruc sich ein Herz und biss in eine Brotfrucht. Von seinem zufriedenen Blick angespornt, folgten Eufe und Fallada seinem Beispiel. Bald kauten alle zufrieden an den Früchten, die so groß waren wie Blumenkohlköpfe. Sie waren so beschäftigt mit ihrem Mahl, dass sie nicht bemerkten, dass sie beobachtet wurden. Aus einiger Entfernung starrten ihnen aus der Dunkelheit des Blätterdickichts böse Augen entgegen. Nachdem sich die Freunde satt gegessen hatten und sich den süßen Nektar der Blätter in den Gaumen tropfen ließen, senkten sich ihre Lieder unter bleierner Müdigkeit. Fallada rollte sich unter den Brotfruchtstrauch. Aruc und Eufe betteten sich dicht an ihren warmen Bauch gepresst in das weiche Gras. Liesli und Kali zogen es vor auf Falladas Kopf Platz zu nehmen, um sich auszuruhen. Es dauerte nicht lange und alle fünf waren in einen tiefen und traumlosen Schlaf versunken.
Aruc erwachte als erster. Er blinzelte und rieb sich die Augen. Liesli und Kali hatten sich in Falladas Mähne gekuschelt, Eufe lehnte an ihrem auf und abwogenden Bauch. Ihr Gesicht war unter ihrem dichten welligem Haar verborgen und Aruc konnte nur erahnen, dass sie, ebenso wie die anderen, fest schlief. Es war still, unheimlich still. Aruc setzte sich auf und versuchte im Halbdunkel etwas zu erkennen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Um ihn herum konnte er nichts als Farne, Büsche und blühende Pflanzen ausmachen, die er nie zuvor gesehen hatte. Vielleicht bildete er es sich nur ein. Obwohl er es sich nicht zugeben wollte, fühlte er sich unbehaglich, als Einziger wach zu sein und Alle um ihn herum schlafend zu wissen. „Reiß dich zusammen und leg dich wieder hin“, versuchte er sich selbst gut zuzureden. Trotzdem konnte er keinen Schlaf mehr finden und wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Schließlich setzte er sich auf. Er spürte eine Beule in seiner rechten Hosentasche und brachte das Pflanzenband zu Tage. Er hatte es ganz vergessen im Eifer des Gefechts auf der Flucht vor Sil äh Sikull verbesserte er sich selbst im Stillen und musste unwillkürlich an Lieslis neunmalklugen Gesichtsausdruck denken, wenn sie ihn korrigierte. Das Band glitzterte silbrig im Dämmerlicht der Höhle. Aruc drehte es dicht vor seinen Augen, um etwas Ungewöhnliches daran zu entdecken, aber es schien keinerlei Besonderheiten aufzuweisen. Anstatt es in seiner Hosentasche herumzutragen, konnte er es sich ebenso gut umbinden. Kaum hatte er das Band um seinen Hals gelegt und im Nacken verschnürt, begann es auf seiner Haut zu vibrieren als ob kräftige Finger ihn massieren würden. Intuitiv drehte er sich um. Aus dem Zwielicht starrten ihn gelbe giftige Augen an. Ohne mit der Wimper zu zucken sprang Aruc mit einem Satz auf die Beine und stellte sich schützend vor seine Freunde. Er wusste genau was zu tun war. Seine unterschwelige Angst hatte einer fast unheimlichen Ruhe platz gemacht, die er bis dahin nicht an sich kannte. Er hatte gerade noch Zeit das Steinmesser aus seinem Gürtel zu reissen, bevor sich ein massiger Laib aus der Finsternis auf ihn stürzte. Aruc rollte sich geschickt unter dem schuppigen Bauch der Riesenechse auf die Seite. Der peitschende Schwanz der Echse schlug neben ihm auf den Boden und spritzte ihm Erde und Wurzeln ins Gesicht. Aruc strauchelte und fiel auf die Knie. Seine Augen brannten, dass er kaum etwas sehen konnte. Die Echse senkte ihren Kopf bis sie auf Augenhöhe mit Aruc war. Er hatte nur diese eine Chance. Ohne eine Sekunde zu zögern, bohrte er sein Messer tief in die Pupille der Riesenechse. Mit einem entsetzlichen Schrei sakte das Ungetüm in sich zusammen. Aruc stand unbewegt vor dem zuckenden Laib des tonnenschweren Tieres, dass sich vor ihm wälzte. Mit gebieterischer Stimme rief er: „Ich verschone dich, aber wage nie wieder in unsere Nähe zu kommen, sonst nehme ich dir auch das Licht deines zweiten Auges. Jetzt mach dich fort.“ Kaum hatte Aruc zu Ende gesprochen, wuchtete sich das Reptil mühsam auf seine faltigen Beine, die so dick wie Baumstämme waren, und kroch zurück in die Dunkelheit. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Aruc wahre Macht. Er wusste das nicht die Stichwunde seinen Gegner besiegt hatte, sondern die entschlossene Stärke mit der er sich der Echse gestellt hatte. Um seinen Hals spürte er das Silberband, das sich weich an seine Haut schmiegte. Regungslos starrte er in die Dunkelheit. „Aruc, Aruc“, hörte er Eufe atemlos hinter sich rufen. „Aruc“. Wie aus einem Traum erwachend, drehte er sich langsam um. Fallada, Eufe, Liesli und Kali standen mit offenen Mündern unter dem Brotbaum. Eufe hatte sich als erste gefasst. Sie rannte auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. „Du hast eine Riesenechse besiegt. Du warst ganz allein, nur mit deinem Messer und du hast sieg in die Flucht geschlagen. Du bist ein Held“, jubelte Eufe, dass sie kaum zu Atem kam. Fallada blieb vor Aruc stehen und verbeugte sich vor ihm. „Du gehörst zu den nobelsten und stärksten Kriegern. Zu denen, die sich selbst besiegen und deshalb keinen Feind mehr besitzen.“ Liesli schwirrte aufgeregt um Aruc herum und küßte ihn mit einem saftigen Schmatz auf die Wange. Selbst der sonst eifersüchtige Kaliman war so begeistert von seiner Tat, dass er sich mit keiner Silbe beschwerte, sondern nur immer wieder raunte wie ein indischer Brahmane seine Gebete: „Zackdipackzackdipackzackdipack...“.
Aruc kaute auf seiner Oberlippe und grinste verlegen als er die staunende Bewunderung in den Gesichtern seiner Freunde las. Was sein Vater wohl sagen würde, wenn er ihn sehen könnte? Ohne es sich eingestehen zu wollen, war es immer Arucs größter Wunsch gewesen mutig zu sein und große Taten zu vollbringen, um ihn stolz zu machen. Wie gerne würde er seiner Mutter über seine Abenteuer in den Höhlen erzählen und ihre zärtliche Hand auf seinem Kopf spüren, wenn sie ihm liebkosend übers Haar strich. Fallada scharte mit den Vorderhufen. „Lasst uns aufbrechen. Wir wissen nicht was sich sonst noch alles in diesem Höhlendschungel verbirgt“, mahnte sie ihre Freunde zum Aufbruch. Aruc schulterte seinen Rucksack als Erster. Zuvorkommend hob er Eufes Bündel vom Boden auf und setzte Liesli und Kali auf Falladas Rücken. Nichts an ihm erinnerte mehr an den unsicheren,zuweilen rechthaberischen Jungen aus Inthorm. Aus seinen Augen strahlte großzügige Gelassenheit. Eigenschaften, die nur denjenigen zu eigen sind, die sich ihres wahren Selbstwertes bewusst sind. Brüderlich fasste er Eufe an der Hand und die Freunde machten sich erneut auf den Weg. „So tief sind wir noch nie in die Höhlen eingedrungen“, flüsterte Liesli beklommen und schaute Kali besorgt an. „Stimmt meine Liebe“, gab er ihr außnahmsweise recht. „Ich hoffe unsere Freunde wissen was sie tun.“ „Nur gut, dass sie uns bei sich haben, um sie zu führen“, raunte Liesli zurück. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung mehr wo wir sind“, gestand Kali seiner Frau zögernd. „Aber Liebster, du hast doch gesagt, dass...“. Ja ich weiß, aber ich kann mich nicht mehr erinnern.“ „Wir müssen es ihnen sagen. Vielleicht ist es besser umzukehren?“ Liesli hatte in der Aufregung vergessen zu flüstern. Fallada spitzte ihre Ohren und fragte: „Umkehren, warum umkehren?“ Liesli hüstelte nervös und nickte Kali aufmunternd zu. “Wir, wir wiwissen dden Wweg niccht mehr“, brachte er schließlich mühsam heraus. „Wie meinst du das? Ihr habt doch gesagt wir sind auf dem kürzesten Weg durch die Höhlen. „Wir sind noch nie so tief in die Höhlen eingedrungen“ versuchte Liesli Kali in Schutz zu nehmen, der schuldbewusst eine graue Stelle auf Falladas weißem Fell fixierte. „Wie lange ist es her, dass ihr den Weg verloren habt?“, schnaubte Fallada empört .
„Fallada, wer sagt denn, dass wir den Weg verloren haben?“, versuchte Aruc zu vermitteln. „Vielleicht sind wir ja richtig?“ „Und wenn nicht, dann haben wir Pech?“ „Nein so mein ich es nicht“, blieb Aruc ruhig und schaute ernst von einem zum anderen. „Unser Weg ist nicht vom Zufall bestimmt. Wir sind geleitet. Amo ist bei uns.“ Eufe spürte den kräftigen Druck seiner warmen Hand. Sie spürte, dass er recht hatte. Wenn sie vertrauten, konnte ihnen nichts passieren. Fallada schnaubte und schüttelte ihr schmutzverkrustetes Fell so heftig, dass Erde, Staub und alles was sich auf der Wanderschaft in ihrer langen, dichten Mähne verfangen hatte durch die Luft wirbelte. Aruc streichelte bedächtig über Falladas Rückenfell, drückte aufmunternd Eufes Hand und grinste gutmütig als sich Liesli und Kali auf seine linke und rechte Schulter niederließen und ihn erwartungsvoll anblickten: „Wo sollen wir hingehen Aruc?“ Aruc schloss die Augen und stand eine Weile still vor ihnen. Keiner wagte seine Konzentration zu unterbrechen. Schließlich öffnete er die Augen und begann entschlossen in seinem Rucksack zu kramen. Er legte die Reste des Reiseproviants auf die Seite. Das Steinmesser hatte er sich nach dem Kampf mit der Riesenechse wieder in den Gürtel gesteckt. Das silberne Band schmückte seinen Hals. Vorsichtig legte er die Adlerfeder, den Lederbeutel mit den Kräutern und den grauen Kieselstein vor sich auf die Erde. Noch immer traute sich keiner von seinen Freunden mit ihm zu sprechen. Nicht einmal die vorlaute Liesli fand es angebracht sich einzumischen. Aruc wog die Adlerfeder in seiner linken Hand und drehte den Kieselstein zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Kurz darauf hüllte er beide Gaben seiner Mutter wieder in den dafür vorgesehenen Wildlederlappen und begann seine Aufmerksamkeit vollkommen dem ledernen Beutel mit den Kräutern zu widmen. Aruc schien es als stünde seine Mutter neben ihm, als er die einzelnen Kräuter in die Schale seiner bloßen Hand ergoss. Er spürte ein kribbelndes Gefühl, so als ob sich das Blut in seinen Venen gestaut hatte und wieder zu fließen begann. Er sah seine Finger in einem gleißenden Licht. Es war nicht mehr seine jugendliche Hand, sondern die faltige Hand eines Alten. Seit er denken konnte, hatte er seine Mutter beobachtet, wenn sie in ihrem Kräutergarten arbeitete und mit ihren Pflanzen sprach. Aruc sog die verschiedenen Düfte der einzelnen Kräuter in sich hinein: das herbe Aroma des Basilikums, die hölzerne Würze des Rosmarins, die würzige Frische des Pfefferminz, das betörende Parfüm des Lavendel, die zitronige Milde des Melissenkraut, die ethärische Stärke des Salbei, den erdigen Thymian, und den heuduftenden Oregano. Er atmete die reinigende Essenz des Weinkraut ein und streichelte über die getrockneten Ringelblumenblüten. Der Geschmack des Dillkrauts erinnerte ihn an gebratene Süßkartoffeln und die fast geruchlosen, aber umso deftiger schmeckenden Lorbeerblätter an den Linseneintopf seiner Mutter. Ullren hatte die Kräuter in ihrem Garten behandelt wie Lebewesen. Sie kannte ihre besonderen Eigenheiten, Vorlieben und Abneigungen. Aruc schüttete die Kräuter zurück in den Beutel und stellte im Geiste die Frage: „Wie kommen wir auf schnellstem Weg durch die Höhlen“? Er lies seine Hand in das weiche Leder gleiten und ergriff den ersten Zweig, der ihm zwischen die Finger geriet: Neugierig zog er seine Beute aus dem Beutel. Er hatte einen Basilikumzweig gewählt. Nachdenklich drehte er ihn hin und her. Wieso war es überhaupt möglich gewesen Basilikum zu trocknen? Normalerweise verdarben die Blätter kurz nachdem sie von ihrem Busch geschnitten wurden. Aruc dachte an den Turmgarten seiner Mutter und sah deutlich die blühenden buschigen Basilikumstauden vor sich, die Ullren im südwestlichen Teil des Gartens gepflanzt hatte. Irgendeine Eigenschaft des Basilikums muss uns einen Hinweis geben. Überlege Aruc, was hat dir Mutter über ihn erklärt? Aruc erinnerte sich, dass er seine Mutter oft im Garten angetroffen hatte, wenn sie einzelne Zweige ihrer Basilikumstauden vorsichtig abpflückte und in ihrem Tonkessel verbrannte. Der aromatische Rauch schwebte eine Zeit lang über ihnen bis er sich weit über den Zinnen im Nichts verflüchtigte. Es sei reinigend, Glück bringend und halte schlechte Energien fern hatte seine Mutter ihm erklärt. „Ich weiß was wir zu tun haben,“ wendete er sich an seine Freunde, die jede seiner Bewegungen gespannt beobachtet hatten. „Der Rauch des Basilikums wird uns den Weg weisen. Wir müssen ihn nur anzünden und um Führung bitten.“ Eufe schaute ihn mit großen Augen fragend an. „Glaubst du das funktioniert?“ Wir haben nichts zu verlieren, oder hast du eine bessere Idee?“ Eufe biss sich auf die Lippen und Aruc bereute seine harsche Bemerkung. „Entschuldige Eufe. Ich glaube es klappt. Ich habe Mutter oft beobachtet wie sie mit den Pflanzen im Turmgarten umgegangen ist und mit ihnen gesprochen hat. Jetzt müssen wir nur noch rausfinden, wie wir hier Feuer machen?“ Noch bevor Eufe auf Liesli zeigen konnte, flatterte Kalimann hektisch mit hochrotem Kopf vor Arucs Nase hin und her und eiferte: „Ich, ich kann das“. Liesli rümpfte säuerlich ihr kurzes Stupsnäschen und stemmte die kleinen Hände energisch in die runden Hüften: „Dann schwirr nicht so aufgeschreckt durch die Gegend und mach dich nützlich “, maulte sie ihren Gatten eingeschnappt an, weil er ihr zuvorgekommen war und diesmal nicht ihr, sondern ihm die Ehre gebührte Feuer zu machen. Ganz gegen seine Gewohnheit ließ Kali sich nicht zu einer patzigen Bemerkung hinreißen, sondern schnippte wortlos dreimal mit Daumen, Mittelfinger und Zeigefinger seiner rechten Hand. Im selben Moment ergoss sich ein sprühender Funkenregen über sie: „Das ist ja unglaublich Kali. Warum hast Du nicht eher gesagt, dass du Feuer machen kannst?“, strahlte ihn Aruc begeistert an. „Es hat ja niemand danach gefragt“, übernahm Liesli die Antwort für ihren Gatten, der bis über beide Ohren grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Und außerdem kann ich es auch, sonst wärt ihr schon längst von den Kormoranern aufgefressen worden, wenn ich nicht die schwarze Kerze angezündet hätte.“ „Das stimmt, Liesli hat die schwarze Kerze angezündet“, beeilte Eufe sich das kleine Glühweiblein zu loben und zwinkerte dabei Aruc verstohlen zu. Er verstand sofort. „Ich bin von euch beiden tief beeindruckt. Was würden wir nur ohne euch machen“. Er hauchte einen zarten Kuss auf Lieslis kleines Patschhändchen und verbeugte sich huldvoll vor Kaliman, der puterrot angelaufen war wie eine Tomate und seine kleine Liesli stolz umarmte. „Na dann wären wir ja mal wieder ein Herz und eine Seele“, konnte es sich Fallada nicht verkneifen und schnaubte ungeduldig. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, lasst uns das Kräuterorakel befragen“. Aruc bückte sich unter die tiefhängenden Blätter des Brotbaumes und sammelte eine Handvoll Steine, die er kreisförmig vor ihnen aufschichtete. Behutsam legte er den Basilikumstengel in die Mitte und Kali schnippte dreimal mit den kurzen Fingern. Sprühende Funken rieselten auf die getrockneten Kräuter nieder, die sich sofort entzündeten. Aruc beeilte sich den Zweig auf den Steinen zu löschen. Eine feine violett schimmernde Rauchsäule stieg vor ihnen auf, die einen kurzen Moment in der Luft verweilte und schließlich in schlängelnden, kreisförmigen Schwaden, in der Richtung aus der sie gekommen waren, durch die Grotte tänzelte. Kurz vor dem Salzsteinportal verflüchtigte sich der Rauch. Selbst Aruc hatte es den Atem verschlagen, obwohl er fest damit gerechnet hatte, dass das Kräuterorakel funktionieren würde. Eufe streckte ihre Arme über dem Kopf in die Luft und winkte den letzten Rauchschwaden dankend zu. „Lebewohl Basilikumgeist“. Mit neuem Mut, gestärkt von den Brotbaumfrüchten und den Stunden in denen sie tief geschlafen hatten, machten sich Aruc, Eufe und Fallada im Gänsemarsch auf den Rückweg durch die Grotte, gefolgt von Kali und Liesli, die über ihren Köpfen flatterten. Obwohl sie auf dem gleichen Weg nach Immergold gekommen waren, schien ihnen jetzt alles fremd. Keinem waren vorher die verschlungenen Spiralen aufgefallen, die zu beiden Seiten an die Höhlenwände gemalt waren. Hatten sie sich geirrt und waren doch nicht auf dem gleichen Weg? Nachdem sie wortlos einige Zeit, jeder in seine Gedanken versunken, gewandert waren, sprach Aruc aus, was alle dachten: „Wir sind auf einem neuen Weg. Ich weiß nicht wie und warum, aber es ist nicht mehr der gleiche Weg auf dem wir gekommen sind.“ Eufe blieb vor einer der Höhlenzeichnungen stehen. Auf unheimliche Weise ähnelte eine der Wandzeichnungen den ineinander verschlungenen Spiralen, die auf die Innenseite des Blattanhängers ihrer Fußkette graviert waren. Aruc hatte Eufes Gedanken erraten. „Das hier sieht deinem Anhänger verdammt ähnlich.“ Kali und Liesli umschwirrten neugierig Eufes Fußgelenk, um ihre Kette genauer in Augenschein zu nehmen. „Potzdiwitziwum die Zeichnung ist genau wie auf deinem Anhänger. Zwei Spiralen, die ein Herz formen. Was hat das zu bedeuten?“, wunderte Kali sich. Eufe war in die Knie gegangen und spielte gedankenverloren mit ihrem Blattamulett, indem sie es von einem Finger zum anderen gleiten ließ. Es musste doch eine Erklärung geben, warum sie ausgerechnet dieses Symbol an einer Kette an ihrem Fuß trug. Liesli und Kali setzten sich auf ihre Schultern, als ob sie ihr damit beim Nachdenken behilflich sein wollten. Eufe konzentrierte sich auf den Mittelpunkt der stierblutroten Zeichnung an der Höhlenwand. Nichts geschah. Sie umfasste mit der rechten Hand das Amulett und bemühte sich weiter die Spirale zu fixieren, ohne zu blinzeln. Plötzlich begann sich die Spirale vor ihren Augen zu drehen. Schneller und schneller bis Eufe nur noch ein kreisförmiges rotes Flimmern wahrnahm und eine Stimme zu ihr sprach: „Die Antwort aller Fragen ist in dir. Du bist Teil des Mittelpunkts aller Dinge.“ Während Eufe versuchte den Inhalt der Botschaft zu deuten, hörte die Spirale auf sich zu drehen. Eufe rieb sich benommen die Augen. Hatte sich die Spirale wirklich bewegt? Fragend drehte sie sich zu ihren Freunden um: „Habt ihr das gesehen, die Spirale hat sich gedreht wie ein Lichtkreisel?“ „Wie meinst du das?“ Aruc schaute sie fragend an und Eufe erkannte, das wieder einmal außer ihr Niemand etwas Ungewöhnliches gesehen hatte. „Die Spirale hat sich vor meinen Augen gedreht und geleuchtet. Und eine Stimme hat zu mir gesprochen“. „Ja und? Was hat sie gesagt?“, Aruc schaute sie erwartungsvoll an. „Ich brauche etwas Zeit Aruc, ich muss nachdenken“. Ohne die ungeduldigen Mienen ihrer Weggefährten zu beachten, setzte sich Eufe auf den Boden unterhalb der Felsspirale und begann mit geschlossenen Augen die Worte im Geiste zu wiederholen: „Teil der Mitte“, wiederholte sie im Stillen. Von Ullren hatte sie gelernt, dass Amo die Mitte des Universums war. Wenn Amo die Mitte war, bedeutete das, dass sie selbst Teil Amos war. Und das bedeutete, dass sie Zugang zu Amos Weisheit hatte. Sie brauchte also nur in sich selbst hineinhorchen. Unwillkürlich faltete Eufe die Hände vor der Brust und begann aus tiefstem Herzen zu beten. „Zeig mir den Weg.“ Kaum hatte Eufe in ihrem Inneren die Worte ausgesprochen, hörte sie erneut die Stimme: „Der Weg in die Freiheit führt durch die Mitte der Spirale.“ Eufe blieb ruhig sitzen, ohne sich zu rühren. Nicht einmal ihre Lider zuckten. Langsam öffnete sie die Augen. Lächelnd schaute sie in die neugierigen Gesichter ihrer Freunde. „Wir müssen durch die Mitte der Spirale gehen“. „Wie meinst du das, durch die Mitte der Spirale? Wie sollen wir denn durch die Mitte der Spirale gehen?“, schüttelte Aruc ungläubig den Kopf. Liesli und Kali kicherten, wie immer, wenn sie von etwas hörten, dass sie nicht kannten. Fallada peitschte mit ihrem Schwanz, was für gewöhnlich ein Zeichen dafür war, dass sie ratlos oder ungeduldig war. Eufe gab keine Antwort. Sie stand nur auf und blieb vor der Spirale stehen. Mit allen Sinnen konzentrierte sie sich auf die Mitte der Spirale. Wieder begann sie sich vor ihren Augen zu drehen und zu flimmern. Schneller und schneller bis in ihrem Zentrum ein aquamarinblaues Licht zu blinken begann. Aruc pfiff leise durch die Zähne. Kali versuchte ihn nachzuahmen und spuckte dabei versehentlich auf Lieslis Wange. Hypnotisiert von dem Licht, nahm das Untersberger Glühweiblein auf wundersame Weise keine Notiz davon. Unverwandt starrte Liesli in den leuchtenden Mittelpunkt der Spirale. Plötzlich breitete sie ihre kleinen glitzernden Flügel aus und flatterte ohne Rücksicht auf die Mauer und die erschreckten Schreie Kalimans direkt in die Spirale. Mit einem donnernden Schlag, der durch den Höhlengang hallte, gab die Wand vor ihnen eine Öffnung frei.
12. Der Geächtete und der Schmetterling
Seit Tagen hatte Brac kaum etwas zu sich genommen. Seit er aus Inthorm verbannt worden war, hatte es keine warme Mahlzeit mehr für ihn gegeben. Er ernährte sich von Abfällen, die er in der Nähe der Höfe fand. Seine zerschlissenen Leinenhosen schlakerten ihm lose an den Oberschenkeln herunter. Statt seines Bauchansatzes wegen dessen ihn Ullren oft geneckt hatte, konnte er inzwischen die einzelnen Muskelstränge seines Abdomen spüren. Haare und Bart waren lang gewachsen und gaben ihm das Aussehen eines Waldläufers, wie die Einsiedler von Unterbergen genannt wurden. Obwohl er in einem erbärmlichen Zustand war, kümmerte er sich nicht darum. Sein ganzes Denken und Sinnen war auf Ullren und Aruc gerichtet, selbst Eufe geisterte in seinem Kopf. Tagsüber wanderte er im Schatten der Bäume bis er so müde war, dass ihm die Beine versagten. Er hatte kein Ziel, nur den Wunsch der Vergangenheit zu entfliehen und das Geschehene ungeschehen zu machen. In den kalten Nächten bereitete er sich ein Lager aus Reisig und Rinde und versuchte sich so gut es ging an einem Lagerfeuer zu wärmen. Viele Male war er verjagt worden von den Bauern, denen er früher die Abgaben für Egom unter gemeinsten Schmähungen abgenommen hatte. Auch heute war Brac an einem dieser Höfe vorbeigegangen. Eine Schar von Kindern war ihm nachgelaufen und hatten ihn mit Erde und Steinen beworfen. Er hatte nicht mit der Wimper gezuckt als ihn ihre Geschosse im Gesicht trafen. Früher hätten sie sich in seiner Nähe nicht einmal zu atmen getraut. Brac lachte bitter bei diesem Gedanken. „Ja, Ja, wer hätte das gedacht, was einst aus dem fürchterlichen Brac werden würde“. Ohne zu wissen, wohin er ging, setzte er einen Fuß vor den anderen. Es dämmerte bereits. Er hatte die letzten Weiler von Unterbergen hinter sich gelassen. Die Stille des Waldes tat ihm wohl. Solange er zwischen den Bäumen einen schmalen Pfad erkennen konnte, nahm er sich vor weiterzugehen. Er hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen und kaum etwas getrunken. Irgendwo musste es eine Quelle geben an der er sich erfrischen konnte. Der Durst trieb ihn weiter. Schon war die Nacht hereingebrochen. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten als er sich schließlich einem sprudelnden Bach gegenüber sah. Gierig trank er bäuchlings auf der Erde liegend in großen Schlücken. Für eine Weile setzte er sich auf die Steine am Bachufer und rastete sich aus. Auf der anderen Seite des Baches sah er eine Öffnung im Felsen, die seine Aufmerksamkeit erregte. Mühsam rappelte er sich hoch und watete durch das fließende Wasser. Die Öffnung im Felsen entpuppte sich als eine Höhle, die wahrscheinlich einem Bären als Behausung gedient haben musste. Brac schleppte sich in das Innere und legte sich auf den bloßen Stein. Obwohl er sterbensmüde war, wälzte er sich unruhig hin und her. Was war mit ihm geschehen seit er begonnen hatte für Egom zu arbeiten? Er hatte Ullren geschlagen und vielleicht hatte er sie sogar umgebracht. Er hatte seinen eigenen Sohn so schlecht behandelt, dass er es vorzog zu fliehen als länger in seiner Nähe sein zu müssen? Jahrelang hatte er ein unschuldiges Mädchen grausam gedemütigt und mit seiner Missgunst und zerstörerischen Eifersucht verfolgt. Zusammengekrümmt begann Brac zu schluchzen bis er wie ein wildes Tier seinen Kummer und Schmerz aus sich herausschrie. Sieben Tage und Nächte verbrachte er in diesem Zustand bis er vollkommen erschöpft die Besinnung verlor. Selbst als die Bärin, die die Höhle bewohnte, zurückkehrte, wachte Brac nicht auf. Er blieb zusammengekauert wie ein Fötus im Mutterbauch im Inneren der Höhle liegen. Die Bärin setzte sich neben ihn und leckte gutmütig seine blutverkrusteten Füße sauber, die von der Wanderschaft wund und aufgerissen waren. Sie sammelte Nüsse, Beeren und Honig und legte die Nahrung neben seinen Kopf. Mit der Zeit wurden seine Atemzüge gleichmäßiger und er begann unzusammenhängende Wortfetzen zu flüstern. Um ihn nicht zu erschrecken, verließ die Bärin ihre Höhle bevor Brac vollständig zu sich kam. Er rieb sich die Augen und richtete sich langsam auf. Wo war er? Wieso lag er in einer Höhle auf dem Boden? Was war geschehen? Er konnte sich an nichts erinnern. Weder an seinen Namen, noch an seine Herkunft, an nichts, absolut nichts. Gierig verschlang er die Haselnüsse, die süsslichen Mondblumenwurzeln und den Honig, ohne zu ahnen, dass sie eine Bärin für ihn gesammelt hatte. Er verspürte brennenden Durst und kroch auf allen Vieren dem Licht entgegen, dass durch die Höhlenöffnung herein fiel. Er musste sich die Hände vor die schmerzenden Augen legen, so sehr blendete ihn das Sonnenlicht. Es fühlte sich warm an auf seiner Haut. Sein Körper entspannte sich. Vor ihm plätscherte ein sprudelnder Bach und er ließ sich gierig immer noch auf allen Vieren das köstliche Nass durch die ausgetrocknete Kehle laufen. Erst als ihm der Bauch zu zerbersten schien, ließ er sich seitlings auf den Rücken fallen und beobachtete die wogenden Baumgipfel über ihm. Noch während er überlegte wohin er gehen sollte, landete ein gelber Schmetterling neben ihm im Gras. Er war fast handtellergroß und hatte die Farbe einer Sonnenblume. Interessiert schaute Brac sich das grazile Geschöpf näher an. Die leuchtenden, fast transparenten Flügel, die langen Fühler und feinen Beinchen. Unvermittelt vernahm Brac eine Stimme. „Wer bist du?“ Verdutzt stützte er sich auf beide Ellbogen und drehte den Kopf von Links nach Rechts und zurück und versuchte jemanden zu entdecken, der zu ihm gesprochen haben könnte. „Hallo ist da wer?“ Keine Antwort. „Hallo, wer hat zu mir gesprochen?“ „Ich natürlich, wer sonst. Ist doch außer uns niemand hier.“ Brac traute seinen Augen nicht. Was der Schmetterling? Verständnislos schüttelte er den Kopf und runzelte die Stirn. „Ja und, warum sollen Schmetterlinge denn nicht sprechen können? Wenn ich mich vorstellen darf, ich heiße Alda.“ Brac war vor Staunen der Mund offen stehen geblieben. „Na und hast du keinen Namen?“ Völlig aus der Fassung gebracht stotterte Brac: „Eh, nneineineinnn.“ „Jeder braucht einen Namen. Dann gebe ich dir einen. Weil ich dich vor der Höhle der Bärin gefunden habe, bist du Urs von Bärin. Na, gefällt dir der neue Name?“ „Ja, ja schon“, war das einzige was Brac herausbrachte. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er mit einem Schmetterling spach. „Gewöhn dich dran Urs“, schien Alda seine Gedanken erraten zu haben. „So und jetzt machen wir uns auf. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns.“ „Wieso denn, welcher Weg, wo gehen wir denn hin?“, fragte Urs überrumpelt. „Das wirst du noch früh genug erfahren mein Lieber. So und jetzt komm, sonst verspäten wir uns.“ Alda flog voraus und Urs folgte ihr widerspruchslos ohne eine weitere Frage zu stellen.
13. Der Zweikampf
Aus dem Nordflügel von Inthorm hallten heisere Schreie, die nichts menschliches an sich hatten. Egom tobte. „Wacheeeeeeeeee, Waaaaacccchhhheeeee“, kreischte er, während seine weiß behandschuhten Finger seine Maske straff nach unten zogen, was ihm den Ausdruck eines Gespenstes gab. „Holt Veltron auf der Stelle und auch den Trottel von seinem Sohn und bringt sie auf den Marktplatz von Steinern. Wir werden ein kleines Schauspiel mit ihnen veranstalten zum Amusement des Pöbels. Los worauf wartet ihr oder soll ich euch auspeitschen lassen bis ihr grunzt wie die Schweine auf der Schlachtbank?“ Kaum hatte Egom den Satz zu Ende gesprochen, stoben die Wachen davon, um seinen Befehl auszuführen. Trotz seines Ärgers konnte er sich ein bösartiges Grinsen nicht verbeißen. „Veltron wird mir bitter büßen, dass er mich so enttäuscht hat.“ Das zu erwartende Spektakel hatte seine Laune gehoben. Außerdem konnte es nicht mehr lange dauern bis die Zigeunerin ihm die Jungfrau zurückbrachte. Nur das zählte. Auf sie konnte er sich verlassen. Sie wusste was zu tun war. Als er den Festungsvorhof betrat, wartete seine Prachtkutsche bereits aufbruchbereit. In einem vergitterten Leiterwagen standen Veltron und Perchta gebückt wie Rinder, die auf die Schlachtbank geführt wurden. Beide waren nackt bis auf eine Windelhose, die kaum ihre Genitalien bedeckte. Sie sprachen kein Wort miteinander und hatten ihren Blick starr auf den strohbedeckten Boden des Leiterwagens gerichtet. Als Egom in den Burghof trat hob Veltron seinen Kopf und schaute ihn flehend an. Egom lächelte ihm süffisant zu und ließ sich von zwei Dienern in die Kutsche hieven. Er schnippte zweimal mit den Fingern, was für den Kutscher das Aufbruchzeichen bedeutete. Egom verließ selten Inhorm. Für gewöhnlich nur um die Bauern zusammenzutreiben, die bei den Hetzjagden herhalten musste. Als die Bauern die Kutsche von Weitem sahen, rannten sie aufgeschreckt ins Haus und hofften inständig, dass Egom sie in Ruhe lassen würde. Diejenigen, die nicht das Geld gehabt hatten, um den Lehn pünktlich zu zahlen, verkrochen sich so tief es ging unter die Heuberge im Stall. Doch ganz gegen Egoms Gewohnheit kümmerte er sich heute keinen Deut um sie. Er wollte nur so schnell wie möglich auf den Marktplatz kommen, um sich an Veltron und Perchta gütlich zu tun. Dort hatte sich bereits eine gröhlende blutlüsternde Menschenmenge versammelt, die sich duckmäuserisch verbeugte als Egom versuchte sich schnaufend aus der Kutsche zu zwängen. Keiner traute sich auch nur mit der Wimper zu zucken, geschweige denn zu lachen als der Tyrann aufgrund seiner Fettleibigkeit stecken blieb und ihn einer seiner Diener buchstäblich aus der Kutsche zerren musste. Der entwürdigende Vorfall schürte Egoms Rage nur noch mehr. Er klatschte herrisch in die Hände und ließ sich auf dem Rücken von einem Diener, der unter seiner Last fast zusammenbrach, in die Mitte des Marktplatzes auf eine eiligst zusammen gezimmerte Tribüne tragen. „Wir sind heute zusammen gekommen, um Zeuge der unterbergischen Rechtssprechung zu werden, die weder Untreue an seinem Herrscher noch Verrat an seinem Heimatland durchgehen läßt. Ich gebiete deshalb, dass Vater und Sohn auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen“, bemühte Egom sich betont gewählt auszudrücken. Wie gewöhnlich schwang ein gefährlicher Unterton in seiner kieksenden Stimme. Veltron und Perchta wurden vor den Augen der kreischenden Menge aus dem Gitterwagen geladen und auf die Tribüne gestoßen. Beide hielten die Köpfe gesenkt. Egom klatschte erneut in die Hände, was das Zeichen war, dass der Kampf beginnen konnte. Schlagartig erwachte Veltron aus seiner Apathie, packte seinen Sohn und schleuderte ihn mit aller Wucht zu Boden. Bevor er ihm Zeit gab sich aufzurappeln, holte er zu einem Faustschlag gegen Perchtas Rückgrat aus. Der Junge, der gerade erst sechzehn Jahre alt geworden war, konnte sich gerade noch zur Seite rollen und Veltrons Faust rammte, an ihm vorbei, in den genagelten Holzlattenboden. Aufheulend hielt Veltron sich die blutende Hand, während Perchta seinen Vater von hinten ansprang und mit seinen scharfen Nägeln das Gesicht zerkratzte. Beide schienen vergessen zu haben, dass sie Vater und Sohn waren und kämpften blindwütig wie wilde Tiere. Egom genoss die prickelnde Spannung und den Geruch von stinkendem Angstschweiß, der in der Luft waberte. Veltron hatte es geschafft seinen Sohn abzuschütteln und stürzte sich schreiend auf ihn. Perchta wehrte sich mit Fußtritten in die Eingeweide seines Vaters. Minutenlang rollten sie schlagend und tretend über die Holzplanken. Beide blutenden aus mehreren Wunden, die sie sich gegenseitig zugefügt hatten. Perchtas linkes Auge war fast zugeschwollen von einem Fausthieb, den ihm sein Vater versetzt hatte. Veltron hatte eine klaffende Bisswunde am rechten Bein davon getragen. Die Menge hatte sich in zwei Gruppen aufgeteilt. Der eine Teil unterstütze Veltron und der andere Perchta. Wann immer die erbitterten Kämpfer einen Schlag oder Tritt plazieren konnte, begann die Menge zu johlen. Je länger der Kampf dauerte umso grausamer rangen Vater und Sohn miteinander. Als Veltron begann Perchtas Kopf auf den Boden zu schlagen, dass das Blut nur so spritzte, gebot Egom schließlich Einhalt, weil er befürchtete das Veltron als Sieger hervorgehen konnte. „Ich erkläre Perchta als den Gewinner“, verkündete er gönnerhaft und niemand der Umstehenden wagte es zu murren geschweige denn Einspruch zu halten. Sie wussten, dass das Anzeichen von geringster Unzufriedenheit ihr Todesurteil bedeuten konnte. Veltron wurde blutüberströmt mit dem Bauch nach oben auf eine Holzbritsche gebunden, die einer von Egoms Dienern herbeigeschafft hatte. Egom drückte Perchta, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, eine mit Metallkugeln gespickte Peitsche in die zerschundenen Hände. Das Gesicht des Sechzehnjährigen war fast bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen. Er zitterte am ganzen Leib als er mit der Peitsche ausholte und sie auf seinen Vater niedersausen ließ. Die Metallkugeln zerfetzten gierig Bauch und Gesicht ihres Opfers. Veltron schrie wie am Spieß. Ein Raunen ging durch den Pöbel. Immer wieder holte Perchta mit der Peitsche aus. Wie von Sinnen schlug er auf seinen Vater ein bis von Veltron nur noch eine aufgeplatzte Masse übrig war. Die Menge war still geworden. Die Schreie Veltrons waren verstummt. Nur noch Perchtas rasselnder Atem und die klatschenden Schläge der Peitsche, die sich in Veltrons breiiges Fleisch grub, waren zu hören. Als Perchta zusammenbrach und sich über der Leiche seines Vaters übergab, machte Egom dem Spektakel ein Ende, indem er dreimal mit den Fingern schnippte. Blutüberströmt, besudelt mit dem Blut seines Vaters und seinem eigenen Erbrochenen wurde Perchta wieder in den Leiterwagen gesperrt. Egom ließ sich zurück in seine Kutsche tragen. Ohne die geringste Gemütsbewegung zu zeigen, gab er das Aufbruchszeichen und die Pferde setzten sich in Bewegung. Nachdem nur noch Staubwolken am Horizont zu sehen waren, verlief sich die Menge und zurück blieb Veltrons unkenntlicher Leib im Dreck und Unrat des Marktplatzes von Steinern, wo sich räudige Strassenhunde um seine letzten Überreste balgten.
14. Grünglüh
Liesli war ohne sich noch einmal umzuschauen durch das Felsportal geflogen und Kali war ihr eilig hinter hergeflattert. Eufe, Aruc und Fallada standen ehrfürchtig vor der Höhlenwand, die noch vor wenigen Sekunden keinerlei Öffnung gezeigt hatte. Eufe rieb sich die Augen, um sicher zu gehen, dass sie nicht träumte. „Los lasst uns ihnen folgen“, konnte Aruc seine Ungeduld kaum im Zaum halten, weil er so schnell wie möglich herausfinden wollte, was sich hinter dem Eingang verbarg. Fallada setzte sich gehorsam in Bewegung: „Ich gehe voraus. Ich habe Ullren hoch und heilig versprechen müssen euch zu be...“. „Ja, Ja Fallada wir wissen es ja“, unterbrach Aruc die Schimmelstute und hängte sich grinsend an ihren Schweif. „Los Eufe.“ „Ja ich komme schon.“ Eufe drehte sich nocheinmal um und verabschiedete sich von Immergold und den Faunen. „Danke“, flüsterte sie ins Halbdunkel und verbeugte sich. Dann lief sie hinter den anderen her. Sie gelangten in einen Tunnel, der hoch genug war, dass auch Fallada aufrecht gehen konnte. Von Liesli und Kali fehlte jede Spur. So bewachsen und pflanzenreich die Grotte gewesen war aus der sie kamen, so karg und felsig wurden sie auf der anderen Seite der Höhlenwand empfangen. „Wohin führt uns dieser Stollen wohl?“, wunderte sich Aruc ohne wirklich eine Antwort von Eufe oder Fallada zu erwarten. Nach einer Weile ging der Weg steil bergauf. Fallada verlangsamte ihr Tempo und setzte mühsam einen Huf vor den anderen. Aruc hatte Eufe bei der Hand genommen, um ihr das Bergaufgehen zu erleichtern. Dankbar lächelte Eufe ihm zu und drückte seine Hand. Der Gang schien kein Ende zu nehmen. „Seht doch, ein Licht. Ich kann ein grünes Licht sehen“, rief Eufe plötzlich. Weit über ihnen erhellte ein schmaler Lichtkegel den Gang. „Wo sind nur Liesli und Kali abgeblieben?“ Kaum hatte Eufe die Frage ausgesprochen, surrte es über ihren Köpfen. „Wenn man von der Sonne spricht, dann scheint sie“, flötete Liesli und landete grazil auf Eufes linker Schulter. Kaliman nahm mit Arucs Kopf vorlieb und hüpfte auf und ab wie ein Springball. „Wieso bist du denn so aufgedreht Kali? Los hör auf auf mir herumzuhopsen wie ein aufgeschreckter Floh. Das macht mich ganz nervös.“ „Ach so, ja, verstehe, ich meine, eigentlich nicht, aber na ja.“ Augenblicklich hielt Kali inne. „Wo seit ihr denn gewesen?“, fragte Eufe neugierig und Aruc fügte hinzu: „Ja und was habt ihr gefunden?“ „Hihihi das glaubt ihr nicht, das glaubt ihr bestimmt nicht“, Kali begann wieder auf und ab zu springen. Diesmal ließ Aruc ihn gewähren, weil es ihm wichtiger war herauszufinden was am Ende des Tunnels auf sie wartete. „Ja was denn jetzt, spann uns nicht so auf die Folter“. Aruc wurde langsam ungeduldig. „Ach Lieber hör doch auf so zu hopsen. Wir sagen es ihnen doch gleich“, mischte sich Liesli ein. „Was sagt ihr uns gleich?“ Auch Fallada, war jetzt ungeduldig geworden. „Alsoooooo“, setzte Kali betont umständlich an und räusperte sich. „Also was? Jetzt mach schon“, drängte ihn Aruc. Allerdings hatte er nicht mit Kalis Sturheit gerechnet. „Ich hab es mir überlegt. Ich sag gar nichts mehr. So etwas Respektloses“, ärgerte sich das Glühmännlein. Liesli nickte zustimmend mit ihrem kleinen Lockenköpfchen, dass ihr rampuniertes Kleeblatthütchen über die Augen rutschte. Aruc hätte die Beiden am liebsten geschüttelt „Ach Kali, Liesli entschuldigt, aber ihr macht es auch wirklich zu spannend“, versuchte Eufe einzulenken. „Genau. Ich kann auch nichts dafür, wenn ihr mich so neugierig gemacht habt“, verteidigte sich Aruc. „Ich entschuldige mich hiermit offiziell für meine grobe Ungeduld.“ Verstohlen zwinkerte er Eufe zu, die an sich halten musste, um nicht laut heraus zu prusten. „Nun gut, ich will mal nicht so sein“. Mit hoch erhobenem Haupt verschrenkte Kali die Hände über der Brust. Daraufhin fuhr er förmlich fort: „Ich darf euch hiermit verkünden, dass wir uns auf Glühmandlgebiet befinden.“ „He????“, war alles was Aruc herausbrachte. „Wir sind was?“, hakte Fallada nach. „Wir haben unsere verschollenen Verwandten gefunden.“ Kali war neben Liesli auf Eufes Schulter geflogen und flüsterte dem Glühweiblein Etwas ins Ohr, worauf sie begann zu erzählen: „Vor vielen vielen Jahren hat eine Gruppe Glühmandln den Steiner Wald verlassen, weil sie sich in den Kopf gesetzt hatten, die Höhlen zu erkundschafften. Aber sie sind nie mehr zurückgekommen. Deshalb glaubten wir, sie seien umgekommen.“ „Genau“, pflichtete Kali bei. „Und deshalb sind Liesli und ich ausgezogen, um sie zu suchen. Wir sind aber nie weit gekommen, weil wir immer wieder umgekehrt sind, wenn es uns zu mulmig wurde“, gab Liesli zu. „Erst mit euch haben wir uns getraut tiefer in die Höhlen vorzudringen“, erklärte sie triumphierend mit ihrem strahlendsten Lächeln. „Und was ist da wo das grüne Licht herkommt?“ Eufe deutete mit dem Zeigefinger auf das Ende des Ganges. „Das ist Grünglüh. Dort haben sie sich niedergelassen.“, antwortete Kali. „Los kommt wir zeigen es euch.“
Kali und Liesli flogen aufgeregt voraus. Fallada, Eufe und Aruc setzten ihren Aufstieg zu Fuß fort. Die beiden Untersberger Glühmandln waren so aufgekratzt, dass ihre kleinen Mäulchen nicht für einen Moment still standen. „Das werden uns die anderen nicht glauben. Nach all den Jahren haben wir sie lebend gefunden. Stell dir nur vor was sie daheim sagen werden, wenn sie es erfahren Liesli.“ „Das wird ein Aufruhr. Ich kann es kaum erwarten.“ Liesli klatschte in die kleinen Patschhändchen.
Immer höher stiegen sie bis sie endlich am Ende des Tunnels angelangt waren. Liesli und Kaliman hatten sich an den Händen gefasst und riefen: „Dürfen wir vorstellen: Grünglüh.“ Mit surrenden Flügeln schwebten sie in den grünen Lichtkegel und waren verschwunden. „Wir bleiben zusammen, vesprochen?“ Fallada hatte sich vor Eufe und Aruc gestellt und schaute sie eindringlich an. „Versprochen Fallada“, beeilte sich Eufe zu versichern. Aruc wiederholte: „Klar doch, Versprochen“. Fallada bückte sich und Aruc und Eufe kletterten auf ihren Rücken. Vorsichtig trat die Schimmelstute in den Lichtkegel. Grelles Gleißen umfing die Drei und sie konnten außer grünen Strahlen nichts erkennen. Fallada setzte langsam ein Bein vor das andere. Immer noch war der Widerschein so stark, dass sie nicht einmal Umrisse erkennen konnten. Statt Erde und Stein spürte Fallada unter ihren Hufen nichts. Es war als ob sie auf Luft ginge. „Wo bleibt ihr denn?“ hörten sie Kali und Liesli nach ihnen rufen. Fallada schritt tapfer voran, obwohl ihre Hufen keinen Halt mehr fanden. Noch ein Schritt und sie waren aus dem Lichtkegel herausgetreten. Eine grüne Smaragdkuppel wölbte sich über ihren Köpfen. „Aha damit wäre das grüne Leuchten erklärt“, musterte Aruc interessiert den Kristall. „Und sonst fällt dir nichts auf?“, fragte ihn Fallada erstaunt. Bevor Aruc antworten konnte rief Eufe außer sich. „Fallada schwebt. Wir berühren den Boden nicht“. Vor lauter Aufregung war Eufe aufgesprungen. Bevor Aruc sie warnen konnte, kippte sie seitlings vom Pferd. „Ahhhhhh“ schrie sie erschrocken. Instinktiv rollte sie sich ein wie eine Katze und erwartete einen schmerzhaften Aufprall auf dem Boden. Stattdessen spürte sie wie sie von der Luft getragen wurde. Genau wie Fallada schwebte Eufe ein paar Handbreit über dem Boden. „Das will ich auch ausprobieren“. Aruc ließ sich von Falladas Rücken fallen und begann neben Eufe schwerelos durch die Luft zu gleiten. „Wauuuuuuuuuuu“. Aruc vollführte einen ausgelassenen Sprung. Immer wilder hopste er herum bis schließlich sogar mehrfache Saltos schlug. Fallada und Eufe schüttelten amüsiert den Kopf. Obwohl sie etwas zurückhaltender als Aruc waren, genossen sie die Schwerelosigkeit ebenso wie er. Nach einer Weile bemerkten sie, dass Kali und Liesli sie zufrieden beobachteten. Sie waren umgeben von einer Schar Glühmandln, die genau wie die Beiden Hütchen, Kappen und Kleider aus Blättern, Blumen und Nussschalen trugen. Ein pausbäckiges Glühweiblein, dass Liesli wie aus dem Gesicht geschnitten war, begrüßte sie. Ihre Augen hatten einen warmherzigen Glanz: „Herzlich willkommen bei uns in Grünglüh. Ich bin Lieslis Tante Miri“, stellte sie sich vor und machte einen Knicks, während sie ihre glitzernden Flügelchen keinen Moment still stehen ließ. „Wir danken euch, dass ihr Liesli und Kali geholfen habt uns zu finden.“ Bevor Eufe, Aruc und Fallada wussten wie ihnen geschah, verbeugte sich ein Glühmandl nach dem anderen vor ihnen. „Wir werden ein Fest zu euren Ehren geben. Für heute sollt ihr euch jedoch ausruhen. Ihr seit sicher müde von dem anstrengenden Weg.“ Miri flog ihnen voraus. Aruc, Eufe und Fallada segelten genüßlich hinter ihr her, gefolgt von Liesli, Kali und dem Rest der Glühmandlschar. Miri führte sie unter eine zweite Smaragdkuppel, die noch heller leuchtete als die Erste. Hier hatten die Glühmandln ihre Residenzen aufgeschlagen. Es waren grüne Häuschen, die ebenfalls aus funkelnden Smaragden gebaut waren. Sie reihten sich um eine sechseckige Smaragdpyramide, die in mehrere Räumlickeiten unterteilt war und um ein vielfaches größer war als die kleinen Häuschen der Glühmandln. Davor blieb Miri stehen und verkündete freudig: „So das hier ist die Unterkunft für unsere großen Gäste. Solange ihr bei uns bleibt dürft ihr hier wohnen. Jetzt ruht euch aus und wenn ihr aufwacht feiern wir ein rauschendes Fest.“
Miri holte ihre Besucher persönlich vor der Pyramide ab. „Habt ihr euch ausgeruht? So schnell kommt ihr nicht mehr zum Schlafen. Unsere Feste sind in den Steiner Höhlen berühmt und berüchtigt“. „Wieso, das hört sich ja so an, als ob ihr noch andere Gäste erwartet aus den Höhlen?“, erkundigte sich Aruc leicht beunruhigt. „Ja natürlich mein Jueng. Was glaubst du denn? Wir feiern unsere Feste, um Verbindung zu pflegen mit unseren Nachbarn.“ „Ja aber du wirst doch nicht die Kormoraner und Sikull eingeladen haben Tante Miri?“ Gutmütig täschelte das Glühweiblein ihrer Nichte die Wange: „Immer mit der Ruhe. Nach Grünglüh gelangen nur diejenigen die reiner Gesinnung sind. Alle anderen werden von den magnetischen Vibrationsfeldern abgestossen“, beruhigte sie Miri und schwirrte dicht vor Eufes Augen auf und ab. „Du bist sehr schön mein Kind. Ich wette Uba wird sich in dich verlieben.“ Eufe errötete und schlug die Augen nieder. „Wer ist denn Uba?“, fragten Aruc und Fallada gleichzeitig. Miri hatte den misstrauischen Unterton in ihrer Stimme gehört und erklärte schmunzelnd: „Keine Sorge. Uba ist ein Pfundskerl, der einen Faible hat für alles was schön ist. Er versäumt keines von unseren Festen.“ „Hmmm, na dann...“ Aruc war noch immer skeptisch was es mit diesem Uba auf sich hatte. Jedenfalls würde er Eufe keinen Moment aus den Augen lassen, soviel stand fest. Falls ihr dieser Pfundskerl zu nahe rückte, bekam er es mit ihm zu tun. „Und wo findet das Fest statt Miri?“, erkundigte sich Kali eifrig. Er war hungrig und erhoffte sich in erster Linie ein reichhaltiges Bankett mit Köstlichkeiten und Schleckereien, die er schmerzlich vermisste, seit er in den Höhlen unterwegs war. „Wir feiern in unserer Sternenkuppel. Dort können wir den Himmel sehen.“ „Was?“, „Wirklich?“, „Wir können den Himmel dort sehen?“, riefen Aruc, Eufe und Fallada durcheinander. Während die drei sich vorstellten wie es war endlich wieder den Himmel zu sehen, träumte Kali weiter vom Essen. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen als er Liesli vorschwärmte: „Vielleicht gibt es gebratene Pfifferlinge mit Sauerampferrahm, hhhhhmmmm oder sogar Himbeeren mit Honigglasur oder noch besser Gänseblümchensalat mit Haselnüssen.“ Kali leckte sich über die Lippen und verdrehte schwärmerisch die Augen. „Also wirklich Kali, Miri glaubt noch, dass wir nur wegen des Essens hier sind“, versuchte Liesli ihren gefräßigen Gatten zum Schweigen zu bringen. „Ach Nichtchen, lass den Guten. Ich freu mich doch, wenn es dem Kali schmeckt, täschelte Miri diesmal ihrem Neffen gutmütig die Pausbäkchen. „So und jetzt folgt mir meine Lieben. Es ist schon alles vorbereitet. Wir werden erwartet.“ Miri nahm Liesli bei der Hand und flog voraus, gefolgt von Kali, der bis über beide Ohren strahlte und es kaum erwarten konnte sich das Bäuchlein vollzuschlagen. Fallada, Aruc und Eufe beeilten sich ihnen hinterher zu kommen. Mittlerweile hatten sie sich an den Schwebezustand gewöhnt und glitten leichtfüßig durch die Luft. Miri führte sie zu einem weiteren Portal, das ebenso wie das Eingangsportal in ein gleißend grünes Licht getaucht war. Die drei Glühmandln verschwanden in den hellen Strahlen. Aruc nahm Eufe bei der Hand und legte seine freie Hand auf Falladas Mähne. Gemeinsam folgten sie ihnen. Zuerst konnten sie nichts sehen, weil sie von der Helligkeit geblendet waren. Als sich ihre Augen langsam an das grelle Licht gewöhnt hatten, blieb ihnen vor Staunen der Mund offen stehen. Nach einer Weile brachte Aruc ein langezogenes „Ohhhhhhhhhhh“ über die Lippen. Liesli und Kali kicherten, wie üblich wenn sie entzückt waren. Fallada wieherte kräftig, was so gut wie nie vorkam und höchstes Erstaunen der Stute kundtat. Eufe war so überwältigt, dass sie nichts sagen konnte. Vor ihnen lag eine märchenhafte Miniaturlandschaft mit Bergen, Wäldern und prächtigen Wiesen. In einem kristallklaren See gab es eine Insel auf der sich das Glühmandlorchester formiert hatte und flotte Tanzmelodien aufspielte. Ihre Instrumente bestanden aus Muschelschalen, Schneckenhäusern und Zapfen aus denen sie Trommeln, Geigen und sogar einen Kontrabass gemacht hatten. Scharen von tanzenden Glühweiblein und Glühmännlein in ihren schönsten Ausgehroben wirbelten durch die Luft. An einem riesigen Tisch, der von zwei Bergspitzen gestützt wurde, saßen ausgelassene Besucher auf schwebenden Stühlen und prosteten sich mit Blütenkelchen zu, in die sie sich immer wieder eine grüne Flüssigkeit aus ausgehöhlten Kürbisköpfen nachschenkten. Die Festgesellschaft hätte unterschiedlicher nicht sein können. Außer den Glühmandln waren Hunde, Katzen, Mäuse, Schwäne, Enten, Gänse, Rehe, Hirsche, Frösche, Wölfe, Bienen, Schmetterlinge ja sogar Spinnen, Schlangen und Küchenschaben unter den Anwesenden. Am Kopfende der Tafel thronte ein Jaguar, den Miri überschwenglich begrüßte. „Uba mein Bester, wie schön, dass du uns mit deiner Gesellschaft verwöhnst, wie schöööön.“ An die Freunde gewandt, fuhr sie fort, ohne eine Pause zu machen oder Uba zumindest Zeit zu geben, ihren Gruß zu erwidern: „Darf ich euch vorstellen, dass ist Uba, der galanteste, charmanteste, schönste, großzügigste... “ Miri hätte ihre Lobeshymne wer weiß wie lange fortgesetzt, wenn Uba ihr nicht einen galanten Handkuss gegeben hätte. Anstatt den Satz zu Ende zu bringen, drückte Miri ihm einen saftigen Schmatz auf seine breite Nase. Der Jaguar, der sich aus seinem Stuhl erhoben hatte, wackelte verlegen mit den Ohren und verneigte sich vor ihnen. „Es ist mir eine Ehre in Grünglüh zu sein und Miris neue Freunde kennenzulernen“. „Ganz unsererseits“, antworteten Liesli, Kali, Fallada, Aruc und Eufe artig. Gebannt musterten sie Uba. Sein Fell glänzte wie Seide und war mit braunen Ringen gezeichnet in deren Mitte schwarze Punkte prangten. Jede seiner Bewegungen waren langsam und von ausgesuchter Grazie. Er strotzte vor Kraft und Energie. „Na wenn das mal kein Pfundskerl ist, dann weiß ich nicht“, flüsterte Aruc grinsend in Eufes Ohr, die sich insgeheim darüber wunderte, warum gerade ein so schönes, edles und mächtiges Tier an ihr gefallen finden sollte. Während sie noch darüber nachsann, begann eine Gruppe Glühmandeln große Blätterfächer mit Essen auf dem Tisch zu verteilen. Kali war hell auf entzückt. Alle Speisen, die er sich erträumt hatte waren darunter, sogar sein Lieblingsgericht: Weinblätter gefüllt mit Karottenpüree und gerösteten Kürbiskernen. Miri klatschte in die Hände: „Das Bankett ist eröffnet. Wenn jeder sich einen freien Platz suchen möchte bitte, dann kann es losgehen. Unsere neuen Gäste darf ich bitten sich aufzuteilen, damit wir einander besser kennenlernen.“ Uba hielt Eufe seine Pfote hin und bot ihr zuvorkommend einen Stuhl neben sich am Kopfende der Tafel an. Eine Gruppe aus Hund, Katze und Maus riefen Aruc zu sich, Fallada fand ihren Platz neben einer Schlange und einem Wolf, Liesli wurde neben einen Schwan und ein Reh gesetzt und Kaliman zwischen eine Küchenschabe und eine Spinne. Keiner von ihnen wagte zu protestieren. Nach kürzester Zeit waren alle Anwesenden in angeregte Gespräche verwickelt und ließen sich die würzigen Speisen aus der Grünglühküche schmecken, die sich besonders durch ihre Fantasie auszeichnete und keine Art von Fleisch verwandte. Obwohl Eufe anfangs Angst vor Uba hatte, lachte sie bald ausgelassen über seine Scherze und genoß seine galanten Blicke, die wohlwollend auf ihr ruhten. Aruc ließ sich ausführlich erklären, wie und warum Hund, Katze und Maus friedlich zusammen leben konnten. Fallada war in eine philosophische Diskussion über Freundschaft mit der Schlange und dem Wolf verwickelt und Liesli hatte in Schwan und Reh dankbare Zuhörer für ihre romantischen Träume gefunden. Kaliman trank mit der Küchenschabe und der Spinne sogar Brüderschaft und war nicht zuletzt dank des reichhaltigen Mahls bester Stimmung. Zu seinem Leidwesen hatte er sich schon so viele Blattschalen aufgehäuft, dass er jetzt beim besten Willen nichts mehr essen konnte, ohne Gefahr zu laufen unter den Tisch zu sacken. Nach einiger Zeit erhob sich Miri. Alle Blicke richteten sich auf das strahlende Glühweiblein, das sich besonders fein in weißes Ballkleid aus Lilien herausgeputzt hatte. Die Blütenkelche bauschten sich ausladend und verdeckten ihre kurzen Beinchen bis zu den Fußspitzen, die in hohen Schneckenhaus-Pumps steckten. „Ich möchte euch meinen Dank aussprechen, ganz besonders unseren lieben Besuchern gegenüber, die das Schicksal zu uns geführt hat und die sich so bereitwillig unter uns eingereiht haben. Es gibt nicht viele ihren Schlages, die es zulassen neue Wege zu gehen und Erfahrungen zu machen, die ihre Überzeugungen buchstäblich auf den Kopf stellen.“ Miri machte eine rethorische Pause und gab den Umstizenden Zeit beifällig zu nicken. „Wir beweisen mit unseren bunt gemischten Zusammenkünften, dass es sich lohnt Barrieren und Vorurteile zu überwinden, um einander näher zu kommen und voneinander zu lernen. Nur wenn wir das Fremde, das Andere, das Ungewöhnliche, das Angsteinflößende annehmen, ohne zu urteilen, sind wir wahrhaft frei.“ Als Miri geendet hatte, war es für einen Moment mucksmäuschenstill bis tosender Applaus laut wurde. Das kleine Glühmandlweiblein setzte sich sichtlich glücklich an ihren Platz zurück, um gleich darauf von einem galanten Taubenfalter zum Tanz aufgefordert zu werden. Bald schlossen sich ihnen mehr und mehr Paare an. Die Dunkelheit war hereingebrochen und wie versprochen zeigte sich ein funkelnder Sternenhimmel über ihnen. Aruc, Fallada, Liesli, Kali und Eufe hatten vergessen warum sie in den Höhlen waren und überließen sich einfach dem Moment. Sie waren rundherum glücklich. Das Fest dauerte zwei Tage und drei Nächte. Im Morgengrauen des dritten Tages kamen die Freunde erschöpft und berauscht zurück in die Pyramide. Nicht nur ihre Körper schwebten, sondern auch ihr Geist war schwerelos geworden. Sie streckten sich auf den würzig duftenden Grasmatten aus und erinnerten sich an die schönsten Momente des Festes und die vielen neuen Freunde, die sie gewonnen hatten. Von Kali war kein Mucks zu hören, weil er einen neuen Essrekord aufgestellt hatte und sofort völlig geplättet eingeschlafen war. Bald folgten ihm auch Liesli, Fallada und Aruc ins Reich der Träume. Nur Eufe war immer noch so aufgedreht, dass sie keinen Schlaf finden konnte. Uba hatte ihr von seiner Heimat Ubalandia erzählt. Eufe hatte Uba immer wieder gefragt, wie sie dorthin gelangen konnten, aber Uba hatte nur geheimnisvoll gelächelt. Da sie nicht schlafen konnte, beschloss Eufe sich die Zeit damit zu vertreiben, in ihrem Rucksack zu kramen. Das irdene Töpfchen in dem Ullren ihr Proviant mitgegeben hatte war längst leer. Aber wer konnte nach so einem Fest auch ans Essen denken. Höchstens Kali ging es Eufe durch den Kopf und sie musste unwillkürlich lachen. Ihre Finger ertatesten etwas Rundes. Es war das Holzrohr, das Eufe aus den Tiefen des Rucksacks zutage brachte. Zum ersten Mal schaute sie es sich aus der Nähe an und bemerkte, dass rund um die Öffnung verschiedene Zeichen geschnitzt worden waren. Nachdem sie es ratlos mehrfach zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger wandern gelassen hatte, hielt sie es sich wie ein Fernrohr vor die Augen. Ihre langen Wimpern stießen an die abgerundeten Kanten und Eufe musste blinzeln. Gerade als sie es wieder absetzen wollte, sah sie die Spitze eines Turms vor sich auftauchen. Eufe ließ das Holzrohr verdutzt sinken und versuchte die Turmspitze in der Pyramide zu finden. Außer den Edelsteinwänden konnte sie jedoch nichts weiter erkennen. Wieder hielt sie sich das Holzrohr vor die Augen. Jetzt sah sie klar und deutlich den Turm vor sich, der sich als die Festung von Inthorm entpuppte. Erschrocken verkrampften sich Eufes Finger um das Holzrohr und berührten dabei einen geschnitzten Pfeil. Im nächsten Moment sah sie ein Gemach vor sich. Es war mit zahlreichen gestickten Wandteppichen geschmückt auf denen Jagdszenen dargestellt waren. Auf einem der Gemälde war ein weißer Drache abgebildet auf dem ein Krieger saß, der einen Sreithelm aufhatte, dessen Visier geschlossen war. Eine vornübergebeugte Gestalt saß auf einem goldenen Thron. Das Gesicht war mit einer weißen Kapuze verdeckt, die nur für Augen, Mund und Nase Schlitze hatte. Hände und Hals waren mit Handschuhen und Krause bedeckt. Eufes Atem ging schneller. Obwohl sie ihn nie zu Gesicht bekommen hatte, wusste sie, dass sie Egom vor sich hatte. Aber wie anders hatte sie ihn sich vorgestellt. Wie konnte diese eingefallene, traurige Gestalt soviel Angst und Schrecken verbreiten? Eufe tippte mit ihrem Zeigefinger auf die Schnitzerei eines vertikalen Strichs, von dem ein schrägstehender nach unten gerichteter Querstrich ausging. Jetzt konnte sie nur noch ein grünes Licht wahrnehmen. Obwohl sich die klare Sicht ihrer Augen verschleiert hatte, eröffnete sich ihr eine andere Art von Sehen. Eufe verstand tief in ihrem Herzen die Tragödie Egoms. Sie begann die Beweggründe für seine Grausamkeiten zu verstehen. Er verachtete sich selbst abgrundtief und ließ keine Gelegenheit aus, sich bei seinen Untertanen verhasst zu machen. Er glaubte, dass er sich nur durch Gewalt, Anerkennung und Respekt verschaffen konnte. Er fand sich abstoßend und häßlich und bekämpfte deshalb mit allen Mitteln das Schöne und Gute. Je grausamer er mit seinen Untertanen umging, desto schuldiger fühlte er sich und desto mehr hasste er sich und desto grausamer wurde er. Er war Gefangener seiner Selbst und des Teufelkreislaufs seiner Gedanken. Und sie, Eufe, sollte ihn mit ihrem Blut reinwaschen. Erschüttert ließ Eufe das Holzrohr in ihren Schoß sinken. Sie empfand weder Hass noch Wut, nur tiefes Mitleid für Egom. „Aruc schläfst du?“ Eufe hatte das dringende Bedürfnis Aruc einzuweihen. „Ja, das heißt jetzt nicht mehr. Was ist los?“ „Ich habe herausgefunden zu was das Holzrohr gut ist, das mir Ullren in den Rucksack gelegt hat.“ Sofort war Aruc hellwach und drehte sich auf seine Ellbogen gestützt zu ihr um. „Ja und zu was ist es gut?“ „Du wirst es nicht glauben, ich habe Egom damit gesehen. Und nicht nur das. Ich konnte mit dem Holzrohr sehen wer er wirklich ist.“ „Wie meinst du das? Du wirst doch nicht behaupten, dass du ihn ohne Kutte und Kapuze zu Gesicht bekommen hast?!“ „Nein nicht direkt, aber ich konnte verstehen warum er so grausam ist und warum er mich töten möchte.“ Aruc war baff. Seit sie in Grünglüh angelangt waren, hatte Aruc weder an Egom noch an Inthorm gedacht. Jetzt aber erinnerte er sich mit aller Macht an das triste und beklemmende Leben in Unterbergen für das einzig und allein Egom verantwortlich war. Er konnte nicht fassen, dass Eufe alle Qualen, die sie in Inthorm wegen Egom ausstehen musste, schon vergessen hatte. „Was, das kann doch nicht dein ernst sein?“, schrie Aruc aufgebracht und zerstörte damit die Traumidylle von Fallada, Liesli und Kali, die aufschreckten und sich mit verschlafenen Mienen zu ihnen umdrehten. „Was kann nicht ihr ernst sein?“, fragten sie im Chor. Aruc schüttelte heftig seinen wilden Lockenkopf. „Ich glaube diese Höhle tut uns nicht gut. Was machen wir überhaupt noch hier. Wir müssen weiter. Wir sind noch lange nicht vor Egom sicher.“ Eufe war inzwischen aufgestanden und stellte sich in die Mitte ihrer Freunde, die sie verständnislos anstarrten. „Könnt ihr uns bitte aufklären, was vor sich geht?“, meldete sich Fallada zu Wort. Liesli und Kali nickten zustimmend und ließen sich auf Falladas Rücken nieder, die nervös mit ihrem Schweif eingebildete Fliegen verjagte. „Ich habe Egom in Inthorm gesehen, durch das Holzrohr aus meinem Rucksack. Er war traurig und einsam und ich habe erkannt, dass alle Grausamkeiten, die er begeht, nur Hilfrerufe, nach Zuneigung und Anerkennung sind.“ Jetzt waren Fallada, Liesli und Kali an der Reihe an Eufes Verstand zu zweifeln. Wortlos starrten sie Eufe an, als ob sie sich in einen Frosch verwandelt hätte. „Hast du schon vergessen, dass er dich umbringen will, um dein Blut zu trinken?“ Aruc war dicht vor Eufe getreten und schaute ihr eindringlich in die Augen. „Er ist böse Eufe, durch und durch“. Wortlos hielt ihm Eufe das Holzrohr hin. Zögernd streckte Aruc seine Hand danach aus und hielt es sich in Augenhöhe, während ihn seine Freunde gespannt beobachteten. „Lege den Zeigefinger zuerst auf den Pfeil. Ja genau.“ Arucs Ausdruck änderte sich nach wenigen Sekunden und nach einer Weile begannen seine Mundwinkel zu beben. Eufe trat neben ihn und schob seinen Zeigefinger auf das zweite Symbol. Niemand sagte ein Wort bis Liesli sich nicht beherrschen konnte: „Ja was sieht er denn? Wieso sieht er plötzlich so traurig aus?“ Im letzten Moment konnte Kali sie davon abhalten auf Arucs Schulter zu flattern. „Psst Liesli. Lass ihn. Jetzt darf er nicht gestört werden.“ „Ich wollte mich ja nur vergewissern, dass es ihm gut geht“, rümpfte Liesli ihr Stupsnäschen, fügte sich aber gehorsam ihrem Gemahl. Es dauerte ziemlich lange bis Aruc das Holzrohr absetzte. Er entfernte sich ein paar Schritte und drehte ihnen den Rücken zu. Endlich wandte er sich um. „Ich habe nicht Egom gesehen, sondern meinen Vater. Er irrte durch die Wälder, wurde angespuckt und verjagt. Er sah so verloren und hilflos aus. Es ist genau wie Eufe es beschrieben hat. Ich konnte in ihn hineinsehen und verstehen warum er mich so lieblos und hart behandelt hat. Er begann für Egom zu arbeiten, um genügend Geld zu haben, um mich und meine Mutter ernähren zu können. Dabei hasste er seine Arbeit im Turm vom ersten Moment an. Doch als ich zur Welt kam und die Aufträge in der Schmiede immer weniger wurden, wurde seine Angst uns nicht durchzubringen so schlimm, dass er bereit war alles zu tun. Er vergewaltigte sich jeden Tag, den er im Turm verbrachte selbst und verrohte dabei. Deshalb war er so hart und lieblos zu mir. Er machte mich insgeheim verantwortlich, dass er seine Würde und Seele an Egom verkauft hat.“ Aruc schaute betreten auf seine Lederstiefel, während Eufe seine rechte Hand ergriff und innig drückte. Fallada tänzelte unruhig auf der Stelle: „Niemand ist für ds Unglück eines anderen verantwortlich. Jeder wählt für sich selbst. Auf was warten wir. Lasst uns aufbrechen!“
Eufe, Aruc, Fallada, Liesli und Kali schwebten in Begleitung von Miri zurück zum Lichtportal von Grünglüh. Bevor sie sich in den Strahlenkegel stellten, verabschiedeten sie sich von Miri, die sie von ganzem Herzen lieb gewonnen hatten. Liesli schniefte und schluchzte herzzerreißend und umarmte Miri so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. Kali klopfte ihr verschämt auf den Rücken und wischte sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augen. Freilich war nicht ganz klar, ob er trauriger über den Abschied von Miri oder den Köstlichkeiten der Grünglüher Küche war. „Wir kommen euch wieder besuchen Tantchen. Ganz bestimmt. Und wir erzählen allen wie gut es euch hier geht und wie wunderschön Grünglüh ist“, bemühte sich Liesli ihren Abschiedsschmerz durch ihre Beteuerungen zu lindern. Miri strich ihrer Nichte zärtlich über die geröteten Wangen. „Ihr seit uns immer herzlich willkommen Lieschen. Du weißt nicht was für eine Freude ihr mir gemacht habt mit eurem Besuch.“ „Pass mir gut auf mein Lieschen auf“, wandte sie sich resolut an Kali und tätschelte ihm dabei wohlwollend die Schulter. „Beim nächsten Mal koche ich für dich ein Schwammerlragout mit Heidelbeersauce, dass dir Augen und Ohren übergehen.“ Kali lief schon beim Gedanken daran das Wasser im Munde zusammen, obwohl er sich gerade eben erst an Miris Frühstückstisch reichlich das Bäuchlein vollgeschlagen hatte. Nur gut, dass sie ihnen einen großen Sack voller Reiseproviant mitgegeben hatte. Vielleicht sollte er Liesli aber doch davon überzeugen die anderen alleine weiter ziehen zu lassen, kämpfte er innerlich mit sich. Bevor er sich entscheiden konnte, ob er seine schniefende Gattin überreden sollte in Grünglüh zu bleiben, war Miri schon nacheinander auf Eufes und Arucs Schulter und auf Falladas linkes Ohr geflogen. Sie verabschiedete sich von jedem von ihnen mit einem schmatzenden feuchten Glühweiblein Kuss und hatte jetzt selbst Tränen in den Augen. Eufe, Aruc und Fallada schluckten ihren Kloß im Hals hinunter und stammelten einer nach dem anderen: „Danke, danke, danke für alles.“ Sie schauten Miri mit glasigen Augen an und hatten das Gefühl, dass ihnen noch nie ein größerer Mensch in ihrem Leben begegnet war, obwohl Miri nicht mehr maß als ein frisch geschlüpftes Kücken aus Ullrens Hühnergehege. Eufe und Aruc setzten sich auf Falladas Rücken, Liesli und Kali nahmen ihre Stammplätze auf ihren Ohren ein. Während Miri ihnen ein letztes Mal zuwinkte, war Fallada in die Mitte des Lichtkegels geschwebt. Die Stute begann einen Huf vor den anderen zu setzen bis sie wieder festen Boden spürte und Grünglüh hinter ihnen lag. Benommen schauten sie sich gegenseitig an, ohne etwas zu sagen. Aruc ergriff als erster das Wort: „Na und, was hat Miri zu euch gesagt? Wo geht´s jetzt weiter? Wie kommen wir aus den Höhlen?“, wandte er sich erwartungsvoll an Liesli und Kali. „Eh...mmmm...hmmmmm...mmmmmmm“, druckste Kali herum. Liesli klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Du kannst doch nichts dafür Liebster.“ Kali setzte erneut zu sprechen an: „Hmmmmm...ja..Miri meinte, dass jeder seinen eigenen Weg durch die Höhle finden muss.“ Vor ihnen lag der verschlungene Pfad, der sie nach stundenlangem Bergaufwandern nach Grünglüh gebracht hatte. „Das heißt also wir sind genauso schlau wie vor unserem Abstecher nach Grünglüh“, stellte Aruc resigniert fest. „Nein das sind wir nicht“, unterbrach ihn Eufe heftig. „Wie kannst du nur so etwas behaupten Aruc. Hast du schon vergessen wieviel wir von Miri und ihren Freunden gelernt haben?“ Eufe war entsetzt über Arucs Undankbarkeit. „Haben wir nicht gelernt, dass wir keine Angst zu haben brauchen vor nichts und niemandem, weil es reicht offen zu sein, um neue Freunde zu gewinnen und unsere Feinde im Grunde nur sich selbst verfolgen?“ Fallada schaute sie anerkennend an: „Das hast du schön gesagt Blümchen. Ullren wäre sehr stolz auf dich jetzt“. Liesli begann erneut zu schluchzen: „Wenn das Miri gehört hätte. Sie wäre...sosoooo glücklilichhhh“. Kali tupfte seiner schniefenden Gattin die Tränen fürsorglich von den Wangen. „Ist doch gut Lieslilein mein Engel. Sei nicht traurig. Wir besuchen sie doch wieder.“ Aruc rieb sich mit dem rechten Zeigefinger verschämt über die Nase und räusperte sich: „Hmmhmmmm, eh ich glaube ich war ganz schön blöd eben. Entschuldigt, ich habe mal wieder meinen Mund aufgerissen, ohne vorher darüber nachzudenken. Danke, dass du mich erinnert hast an alles, was wir aus Grünglüh mitgenommen haben und was uns niemand mehr wegnehmen kann.“ Eufe lachte ihn strahlend an. „Jetzt wäre Ullren sehr, sehr stolz auf dich Aruc.“ Im Stillen dachte sie, dass Ullren ihren Sohn kaum noch wiedererkennen würde. Er war gewachsen, Arme und Beine waren kräftiger geworden, sein Rücken breiter. Seine ganze Haltung war anders, irgendwie stolzer. Früher war ihr oft aufgefallen, dass Aruc etwas gebeugt ging. Jetzt war sein Gang aufrecht und sicher. Ob ihm an ihr wohl auch eine Veränderung auffiel? Es war ihr peinlich ihm diese Frage zu stellen, stattdessen erkundigte sie sich: „Was meint ihr? Sollen wir den Weg zurückgehen, auf dem wir hergekommen sind?“ „Dann kommen wir wieder nach Immergold“, stellte Fallada nüchtern fest. „Nein, es muss einen anderen Weg geben“, überlegte Aruc laut. „Ihr habt doch diese Dinger in euren Rucksäcken, diese Überraschungen. Vielleicht finden wir dort die Lösung.“ „Du hast recht Liesli. Bisher haben wir immer etwas in unseren Rucksäcken gefunden, dass uns weitergeholfen hat“. Eufe stellte ihren Rucksack auf dem Boden ab. Vorsichtig holte sie einen Gegenstand nach dem anderen aus der Innentasche. Die Kerze hatte die Kormoraner in die Flucht geschlagen, das Holzrohr hatte ihnen die Hintergründe ihrer Flucht gezeigt, die Kette mit dem Medallion trug sie an ihrer Fessel. Blieben also nur der weißgesprenkelte Rosenquarz und der schillernde Schmetterlingsflügel übrig. Aruc hatte die gleiche Inspektion in seinem Rucksack vorgenommen und starrte mit gerunzelter Stirn auf den Kieselstein und die Adlerfeder. „Und jetzt?“, wandte er sich ratlos an Eufe. Kaum hatte er seine Frage ausgesprochen spürten sie eine Windböe, die an ihren Kleidern zerrte und den Flügel und die Feder durch die Luft wirbelten, bis sie langsam vor ihren Füßen nieder segelten. Aruc schaffte es gerade noch sie aufzuheben und den Schmetterlingsflügel an Eufe zurückzugeben als eine zweite stärkere Windböe über sie hinwegfegte. Fast hätte es Kali und Liesli erwischt und gegen die Felswand geschleudert, wäre Fallada nicht dazwischen gesprungen und hätte sie aufgefangen. „Zackdipack. Das ist aber ein Sturm“, war alles was den Untersberger Glühmandln einfiel, so geplättet waren sie. Eufe und Aruc beeilten sich die Rucksäcke einzupacken, als sie die dritte Böe erreichte und auf den Boden warf. Fallada stemmte sich mit aller Kraft gegen den Wind und stellte sich schützend vor Eufe und Aruc. Mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen brach die vierte Windwoge über sie herein, diesmal mit der Stärke eines Orkans. Ohne zu wissen wie ihnen geschah, wurden sie in einen Luftstrudel hinein gesogen und so lange im Kreis herum gewirbelt bis sie die Besinnung verloren.
Das Leben in Walden
Ullren saß zwischen Jalam und Lovan auf Antars flaumigen Rücken. Wie ein Segelschiff, dass bei günstigem Wind neuen Ufern entgegensteuerte, pflügte der Adler mit seinen großen Flügeln in kräftigen Schlägen durch die Luft. Sie starrte gebannt auf die Landschaft unter ihnen. Aus der Höhe sahen die Bauernhäuser und Scheunen aus wie geschnitzes Kinderspielzeug. Je weiter sie sich von Steinern entfernten umso karger wurde die Umgebung. Erschüttert blickte Ullren auf nackte Flächen auf denen sich vor Egoms Herrschaft so weit das Auge reichte, Wälder ausgebreitet hatten. Jetzt war ein Großteil von Unterbergen verödet und kahl. Dafür klafften die Baugruben seiner Mineralbergwerke wie schwarze Löcher aus dem Boden, aus denen Sklaven herauskrochen. Wohin hatte sie ihre Kinder nur geschickt? Hatte sie sich geirrt? Gab es doch nichts außer der Trostlosigkeit von Unterbergen, die sie hinter den Höhlen erwartete? Lovan spürte Ullrens Traurigkeit und begann zu singen, während sie ihr sanft über den Rücken streichelte.
Kein schöner Land mit seinen Seen und Bäumen, mit seinen Blumen, Pflanzen, Tieren und Träumen.
Ullren schloss die Augen. Lovans Gesang berührte sie tief in ihrem Herzen, so wie heilender Balsam auf einer frischen Wunde.
Wir singen, um dich zu loben.
Wir tanzen, wir schöpfen und pflanzen.
Walden, Walden, Walden.
Als Lovan geendet hatte, öffnete Ullren die Augen und blinzelte gegen den Flugwind. Unter ihnen tat sich ein Meer aus wogenden Baumwipfeln auf, in denen eine tanzende Stadt schwebte.
„Das ist...wo sind... wie...“. Ullren brach ab. Abermals flossen heiße Tränen über ihre blassen Wangen. Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hatte sie sich solche Pracht und Schönheit ausgemalt. Andächtig faltete sie die Hände. Sie hatte sich also doch nicht geirrt. Ihre Kinder waren auf dem Weg in ein Paradies.
„Das ist Walden Ullren. Hier bist du in Sicherheit und kannst wieder zu Kräften kommen. Jalam und ich werden Eufe, Aruc und Fallada suchen und mit nach Walden bringen.“ Antar hatte inzwischen zur Landung im Astrum angesetzt. Eine Schar jubelnder Baumsänger, die sie schon von Weitem hatten kommen sehen, begrüßten sie überschwenglich. „Unsere Hathore ist zurück. Lovan ist wieder da. Sie hat Besuch mitgebracht.“ Lovan half der immer noch sehr geschwächten Ullren von Antars Rücken. Jalam rührte sich nicht von der Stelle. „Willst du nicht Ivy und Duir begrüßen? Ich werde Ullren bei ihnen unterbringen. Ihr Sohn Sun ist schon fast so groß und stark wie du. Erinnerst du dich an ihn? Er war damals noch ein Baby. Sun hat jetzt auch eine Schwester, Blumai. Sie ist die schönste Baumsängerinnenmaid aus ganz Walden.“ „Wenn sie so schön ist wie ihre Nichte, dann glaub ich es gerne“. Jalams Gesichtsausdruck, der sich verdüstert hatte, seit sie in die Nähe von Walden gelangt waren, entspannte sich zu einem Lächeln. „Sie würden sich bestimmt sehr freuen dich zu sehen Jalam.“ „Ein ander Mal Lovan. Bestelle ihnen meine besten Grüße. Ich werde mit Antar nach Kelt fliegen. Ich muss noch ein paar Sachen dort erledigen. Im Morgengrauen sind wir zurück und holen dich hier ab.“ Bevor Lovan noch etwas erwidern konnte, breitete Antar seine Flügel aus und flog mit Jalam davon. Sie zogen einen Kreis über dem Astrum, Jalam winkte ihnen noch einmal zu und binnen weniger Minuten waren sie aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Lovan bemühte sich ihre Enttäuschung zu verbergen und umfasste Ullren fürsorglich um die Taille, um sie zu stützen. Obwohl sie dabei lächelte hatte Ullren bemerkt mit welch traurigem Blick sie Jalam nachgeschaut hatte. „Er liebt dich sehr Lovan.“ Die Baumsängerin schaute erstaunt in Ullrens aufrichtige Augen und errötete bis in die Haarspitzen. „Jetzt bringe ich dich zu Ivy und Duir. Ivy ist meine Tante und Duir ihr Mann, mein Onkel. Beide sind fantastische Menschen. Du wirst dich wohl bei ihnen fühlen. Und wenn du erst Sun und Blumai kennengelernt hast, wirst du nie mehr hier fortwollen“, schwärmte sie Ullren vor und hoffte damit von ihrem wunden Punkt abzulenken, den ihre Begegnung mit Jalam bloß gelegt hatte. Jalam und sie waren kein Paar mehr, seit vierzehn Jahren und so sollte es auch bleiben. Zwar spürte sie, dass er noch starke Gefühle für sie hatte, ebenso wie sie selbst für ihn, doch war seine Angst und seine Schuldgefühle ihr gegenüber, größer als alles was sie verband. Und sie selbst konnte und wollte nicht noch ein zweites Mal um ihn leiden. Ihre Aufgabe war es jetzt den Waldenern eine gute Hathore zu sein, die Jungfrau zu finden und Egom aufzuhalten, bevor es zu spät war und er einen Pakt mit der schwarzen Sonne geschlossen hatte.
Obwohl Ullren nur schweren Herzens Lovan und Jalam ziehen ließ, war sie zu geschwächt, um mit ihnen nach Eufe, Aruc und Fallada in den Höhlen zu suchen. So sehr sie es danach verlangte, wusste Ullren, dass sie in ihrem Zustand eher eine Last, denn Hilfe gewesen wäre. Beim Abschied hatte Lovan sie umarmt und versichert: „Du kannst dich auf mich und Jalam verlassen. Wir bringen sie heil nach Walden.“ Wenige Tage waren seither vergangen und durch die liebevolle Pflege von Lovans Tante Ivy und ihrer Familie war Ullren fast vollständig genesen. Sie hätte sich keinen schöneren Platz auf Erden vorstellen können als Walden. Wäre nicht die Sorge um ihre Kinder und um Fallada gewesen, dann hätte sie glücklicher nicht sein können. Zu ihrem eigenen Erstaunen vermisste sie selbst Brac und fragte sich, wo er jetzt sein mochte. Obwohl es noch nicht hell geworden war, erhob sich Ullren von der Grasmatte, auf der sie in den vergangenen Tagen fast pausenlos geschlafen hatte. Ivy hatte ihr erklärt, dass Kräuter darin halfen das Gift in ihrem Körper zu neutralisieren. Auf einer viereckigen Veranda vor ihrem Zimmer war ein rundes Becken eingelassen, in dem Regen- und Tauwasser aufgefangen wurde. Ivy fügte dem Wasser täglich ein paar Tropfen ätherischer Öle hinzu und hatte Ullren empfohlen, sich jeden Morgen darin zu baden. Durch das dichte Blattgewölbe über ihr, konnte Ullren den langsam verblassenden Mond sehen als sie sich in das Becken gleiten ließ. Das Wasser war angewärmt durch einen Sonnenreflektor, der die Hitze des Tages gespeichert hatte und über Kupferplatten an den Boden des Beckens weitergab. Ullren atmete die Dämpfe der Öle tief ein. Langsam wurde es hell. Die Vögel begannen zu zwitschern und eine sanfte Brise bewegte die Blätter über ihr. Plötzlich vernahm sie Worte, die sich aus dem Rauschen formten: „Hab Vertrauen Schwester. Eufe, Aruc und Fallada sind in Sicherheit.“ Ullren hielt den Atem an. Es gab keinen Zweifel. Der Baum hatte mit ihr gesprochen. Das Privileg der Baumsänger war ihr zuteil geworden. Voll Dankbarkeit legte sie beide Handflächen vor ihrer Brust aufeinander und verneigte sich tief, bis sie mit der Stirn die Wasseroberbläche berührte. „Ich danke dir, danke.“ Augenblicklich fühlte Ullren sich erfrischt und zuversichtlich. Nach dem Bad trocknete sie sich mit einem weichen Tuch aus geklopftem Moosgarn ab. Danach schlüpfte sie in ein kurzes Wickelkleid aus sonnengelber Kastanienseide, dass ihre schlanke Figur und ihre, vom Reiten gestählten, Beine zur Geltung brachte. Ivy hatte es ihr geschenkt zusammen mit einem paar fein gearbeiteter Schnürsandalen aus Kautschukleder. Sie waren von einem hellen Braun und hatten bunte Bänder, die sie mehrfach um ihre Knöchel schlang. Kaum hatte sie sich fertig angekleidet als es an der Tür ihres Zimmers klopfte. „Ullren willst du mit uns zur Morgenstille kommen?“ erkundigte sich Ivy. Ullren öffnete die Tür: „Oh ja gerne Ivy. Ich bin euch so dankbar für alles. Das ich bei euch sein darf und ihr euch so herzlich um mich kümmert.“ „Wie schön, dich so strahlend und wohlauf zu sehen Ullren. Und wie gut dir das Kleid steht. Es ist uns allen eine Freude dich bei uns zu haben. Du wirst sehen wie gut dir die Morgenstille tun wird. Es ist Sitte bei uns bevor wir den Tag beginnen einen Besuch im Astrum zu machen und den Segen Ygdars zu erbitten.“ Ivy umarmte Ullren innig. Duir, Sun und Blumai warteten bereits auf sie. „Wie schön du bist Ullren“, entfuhr es Blumai, die sich vertraulich bei ihr einhängte. Duir und Sun grinsten anerkennend. Ivy trat zwischen ihren Mann und ihren Sohn und legte je einen Arm um ihre Schultern. Sie lachten sich gegenseitig an. Duir beugte sich über seine Frau und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Beide schienen die Gegenwart Ullrens und ihrer Kinder vergessen zu haben. Blumai, die mit ihren rotblonden Locken, auf denen sie einen weißen Kranz aus Gänseblümchen trug wie eine Waldfee aussah, zwinkerte ihrem Bruder zu. Zum ersten Mal erfuhr Ullren was es bedeutete eine Familie zu sein, die in Liebe, Dankbarkeit und gegenseitigem Vertrauen miteinander verbunden war. Trotz der frühen Morgenstunde begegneten ihnen Scharen von Baumsängern, die ebenso wie sie auf dem Weg ins Astrum waren, um dort den neuen Tag zu begrüßen. Die Waldener brauchten nicht viel Schlaf und hatten es sich angewöhnt im Morgengrauen aufzustehen, ein Bad in ihren Freiluftwannen zu nehmen und sich anschließend zu einer gemeinsamen Meditation zu versammeln. Was auch immer sie bewegte oder besorgte, brachten sie in diesen Momenten im Stillen der Weisheit ihres göttlichen Vaters und ihrer Mutter dar. Bevor sie auseinander gingen sangen sie gemeinsam das Lied der Bäume:
Ihr seit unsere Säulen, die uns tragen. Ihr seit unsere Lehrer, die uns weisen. Ihr seit unsere Dächer, die uns schützen. Ihr seit unsere Brüder und Schwestern. Ihr seit Teil von uns. Wir sind Teil von Euch. Gott ist in dir und mir. Gott ist die Natur.
Ullren war von der Zeremonie tief ergriffen. Sie war vor Ygdars mächtigen Wurzeln niedergekniet und hatte die Augen geschlossen. Sie hatte nicht bemerkt, dass alle anderen Baumsänger bereits gegangen waren. Auch Duir und Ivy hatten sich flüsternd von Sun und Blumai verabschiedet und sie gebeten auf Ullren zu warten und sie durch Walden zu führen. Ullren hörte die Stimme Ygdars, die zu ihr sprach: „Dein Platz ist hier bei uns Ullren“, hörte sie seine Blätter raunen. „Wir haben seit langem auf dich gewartet. Du bist nach Hause gekommen.“ Ullren merkte erst das sie weinte, als ihr die Tränen auf die Hände tropften, die sie in ihrem Schoß gefaltet hatte. Sun und Blumai waren neben ihr niedergekniet und warteten still bis Ullren ihre Augen öffnete. Ohne ihr Fragen zu stellen, richtete sich Sun auf und reichte ihr die Hand: „Komm wir bringen dich ins Canticum. Dort wird es dir gefallen.“ Auch Blumai war aufgestanden und ergriff ihre freie Hand. Obwohl Ullren glaubte, dass es keine Steigerung geben konnte für die Schönheit, die sie in Walden bereits erfahren hatte, war sie nicht vorbereitet gewesen auf den Anblick, der sich ihr bot. Das Canticum war ein Tempel dessen Wände aus blühenden Büschen und Sträuchern bestand, die sich etwa 20 Meter hoch über ihnen in den Himmel wölbten. Statt Bänken gab es samtige Grasterrassen, die durch das einfallende Sonnenlicht gewärmt waren. Für die Besucher lagen breite Tücher bereit, die mit fein gewebten Mustern verziert waren. Es war jedem freigestellt, ob er sich setzen oder hinlegen wollte, um in die ausladenden Baumkronen zu blicken in denen die Sonnenstrahlen Mosaike zeichneten, um der Musik zu lauschen. Schillernde Paradiesvögel saßen in den Ästen und tirilierten. Eine dreifache Fontäne sprudelte ihre Wasserperlen in die Luft, die plätschernd in einem aus Harz und Leim gebrannten Zierbrunnen aufgefangen wurden. An seinen Rändern standen drei Frauen in fließenden Tunikas aus Lichtnelken violett gefärbtem Seidenhalm. Sie hatten rote Blumenkränze auf dem Kopf und um die Taille Gürtel aus Eufeblättern. „Das sind unsere Canticas“, erklärte Sun ihr flüsternd. Die Baumsängerinnen entlockten ihren Kehlen Töne, die Ullren das Gefühl gaben, das Portal der Himmelspforte durchschritten zu haben. In Worten war diese Musik nicht zu beschreiben. „Sie haben die Gabe durch ihren Gesang dich Gott in deinem Inneren erkennen zu lassen“. Sun und Blumai ließen sich zu ihrer Rechten und Linken auf einem roten Tuch im Gras nieder und schlossen die Augen. Ullren tat es ihnen gleich. Sie fühlte die Musik in ihrem Körper, in ihrem Geist, in ihre Seele dringen. Sie konnte an nichts denken nur die Vibration der Töne in sich spüren. Jeglichem Zeitgefühl beraubt, wusste sie nicht wie lange sie in diesem Zustand zugebracht hatte, als Blumai sie von der Seite anstupste und flüsterte: „Ullren, lass uns gehen. Es gibt noch so viel zu sehen.“ Sun grinste verschmitzt als er Ullrens verdutzte Miene bemerkte, die aussah, als ob sie ihren eigenen Namen nicht mehr wusste. „Beim ersten Mal geht es jedem so. Blumai hat recht wir sollten weiter und dir den Rest zeigen. Wenn wir uns beeilen, können wir noch die Vorlesung meines Vaters im Werden mitbekommen. Er hat mehrere Bücher über die Philosophie der Simplicität verfasst, die heute Grundlage der Lebensweise in Walden ist.“ Obwohl Sun flüsterte, konnte Ullren den Stolz in seiner Stimme hören mit dem er über seinen Vater sprach. Ullren setzte sich benommen auf und lächelte die beiden wie in Trance an: „Ja, ja natürlich...“, stotternd kam sie auf die Beine und wäre fast wieder umgefallen, hätte Sun sie nicht aufgefangen. „Wo soll es denn hingehen so schnell. Er stützte sie, bis sie wieder Herrschaft über ihren Körper gewonnen hatte und zeigte seine makellosen, weissen Zähne als er Ullren strahlend anlachte. Sun war ein schöner Jüngling. Groß, stark und von eleganter Proportion. Seine Augen glitzerten wie aquamaringrüne Teiche im warmen Sonnenlicht. Blumai sprang ihnen munter voraus. Sie war überglücklich, dass ihre Eltern sie mit der Aufgabe betraut hatten Ullren gemeinsam mit Sun in Walden herum zu führen. Vor lauter Begeisterung rannte sie fast eine Baumsängerin um, die sich anschickte ins Gras zu legen. Das Mädchen entschuldigte sich mit einem fröhlichen Lachen und einem grazilen Knicks und die Waldenerin streichelte ihr freundlich über den Kopf. Unbewusst verglich Ullren die feinen Umgangsformen in Walden mit den rauhen Sitten in Steinern. Die beiden Städte waren das exakte Gegenteil voneinander. Wo in Walden Freiheit und Freude herrschte, regierte in Steinern Angst und Unterdrückung.
Das Seminarium Werden war, neben dem Canticum und dem Astrum, der meist besuchte Platz in Walden. Hierher strömten die Baumsänger aller Altersgruppen während 24 Stunden zu Vorlesungen und praktischem Unterricht. Nachts war es mit großen Strahlern beleuchtet, die tagsüber mit Sonnenenergie gespeist wurden und durch Magnetreflektoren Tageslicht erzeugten. Werden nahm die gesamte Fläche einer gigantischen Mammutbaumkrone einnahm. Außer den zahlreichen Unterrichtslauben, die von blühenden Sträuchern überdacht waren, gab es eine große Bibliothek und Studierhalle. Dort konnten die Waldener sich aus tausenden von Büchern und Manuskripten über jedes beliebige Thema ihres Interesses informieren. An dem Baumstamm, der die Bibliothek wie eine Marmorsäule stützte, war ein Aushang mit dem aktuellen Lehrplan angebracht. Ullren begann überwältigt zu lesen: Telepathie, Philosophie, Wunscherfüllung, Astrologie,Formplasmierung, Pflanzenkunde, Alchemie, Metaphysik, Bauwesen, .... Die Liste schien kein Ende zu nehmen. „Im Seminarium werden nur die allgemeinen Fächer gelehrt, der gesamte Musik, Tanz, Mal-, Näh- und Akrobatikunterricht sowie die Anfertigung von Instrumenten und Möbeln konzentriert sich in den Werkstätten des Canticum“ , erklärte Blumai ihr beflissen, so als ob es das selbstverständlichste der Welt wäre. „In Werden sammeln wir seit Jahrtausenden unser Wissen“, fügte Sun hinzu und amüsierte sich arglos über die staunende Ullren. „Jede dieser Schriften haben sich von selbst materialisiert, ohne unser Zutun.“ Ullren hatte noch nie in ihrem Leben so viele Bücher auf einmal gesehen. Das ganze Seminarium, der Lehrplan, ganz Walden war mehr als Ullren mit ihrem Verstand fassen konnte. Schließlich hatte sie bisher nichts weiter kennengelernt als den tristen Hof ihres Vaters, den sie später mit den bedrückenden Mauern von Inthorm eingetauscht hatte. Ullren war überfordert von all den neuen Eindrücken. Obwohl es ihr schon im gleichen Moment leid tat, antwortete sie gereizt: „Das ist doch Humbug. Wie sollen sich denn Bücher von selbst materialisieren?“ „Nein das ist ganz einfach Ullren“, mischte sich Blumai ein. „Wir denken uns alles was wir uns wünschen in die materielle Form. Dadurch verdichten sich die Gedanken zu Materie, die du sehen und angreifen kannst.“ „Ullren war noch verwirrter als zuvor. „Heißt das, eure Häuser, das Canticum, das Astrum, ganz Walden ist so entstanden?“ Sun und Blaumai nickten. „Aber warum lernt ihr dann Häuser und Brücken zu bauen, wenn der Gedanke daran schon ausreicht, um sie entstehen zu lassen?“ „Weil es uns Freude bereitet mit den Händen zu arbeiten“, erklärte Sun ihr und lächelte. Dabei zeigten sich zwei charmante Grübchen an seinem Kinn. „Wir haben herausgefunden, dass es Spaß macht sich für etwas einzusetzen, es zu planen und dann Schritt für Schritt auszuführen.“ „Es ist doch langweilig, wenn man den Entstehungsprozeß überspringt“, unterstützte Blumai ihren Bruder eifrig. Ullren war schwindelig. Sie hatte das Gefühl zu träumen. Wahrscheinlich würde sie jeden Moment im Kerker von Inthorm aufwachen. „Komm wir setzen uns in die Vorlesung von Vater“. Blumai ergriff vertraulich ihre Hand. Sun hängte sich bei ihr ein und bevor Ullren etwas erwidern konnte hatten sie sie bereits in eine der Studierlauben gezogen. Die Vorlesung war gepackt voll mit Baumsängern, die gebannt an Duirs Lippen hingen. Als er sie eintreten sah, zwinkerte er ihnen vertraulich zu, ohne seine Vorlesung zu unterbrechen. „Wie definiere ich Simplicität oder Einfachheit? Es ist ein Synonym für natürlich, leicht, selbstverständlich, pur. Einfach bedarf keiner Anstrengung, keiner Verstellung oder Maske. Einfach beschreibt die Essenz des Seins, die weder etwas zu gewinnen, noch zu verlieren hat. Einfach sein gehört zu unseren größten Herausforderungen. Es fällt uns oft so viel leichter Dinge zu verkomplizieren. Die wahre Kunst ist es einfach zu sein. Ein-fach, bedeutet Trennung zu überwinden. Aus verschiedenem ein Ganzes zu machen. Alles ist verbunden miteinander, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Einfach sein bedeutet uns dieser Verbindung bewusst zu werden und die Lebensenergie ohne Blockaden fließen zu lassen.“ Duir hielt im Reden inne und richtete sich direkt an Ullren. „Wir haben einen lieben Gast unter uns, der noch nicht vertraut ist mit einigen unserer Wortbezeichnungen. Erlaubt mir Ullren kurz zu erklären, was wir unter Lebensenergie verstehen.“ Ullren spürte wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Es war ihr peinlich, dass Duir ihretwegen die Unterrichsstunde unterbrach, nur um ihr ein Wort zu erklären, dass für den Rest der Zuhörer geläufig schien. Duir lächelte sie freundlich an und fuhr fort: „Mit Lebensenergie bezeichnen wir Lichtschwingungen. Sie senden Botschaften an unser Gehirn, die sich in Form von Impulsen aussdrücken und uns veranlassen bestimmte Handlungen zu unternehmen.“ Wieder an alle gewandt: „Einfach leben, heißt schlicht offen sein für die Lebensenergie, die uns ununterbrochen in Übermaß geschenkt wird und ihrem Rythmus zu folgen.“ Ullren hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet. Sie wiederholte im Stillen: „Einfach leben, heißt offen sein für die Lebensenergie, die uns ununterbrochen in Übermaß geschenkt wird und ihrem Rythmus zu folgen.“ Was sie selbst immer instinktiv gespürt hatte, war von Duir in Worte gefasst worden. Ullren begriff mit ihrem Verstand plötzlich was ihr Herz immer wusste. Sie verstand wie und warum sie die Kraft finden konnte ihre Kinder aus dem Turm zu befreien. Duir war in der Studierlaube auf und ab gewandert und blieb vor ihr stehen: „So stellt sich die Frage: Wie werden wir einfach?“
Spontan antwortete Ullren laut: „Indem wir uns selbst vertrauen.“ Die restlichen Zuhörer klatschten begeistert Beifall, während Duir sich anerkennend vor Ullren verbeugte. „Ich hätte es nicht besser auf den Punkt bringen können.“
Der Weg
Genau zurselben Zeit wanderte Urs auf einem freien Feldweg unter Aldas Führung. Er hatte den dunklen Wald hinter sich gelassen und schritt kräftig aus. Von Zeit zu Zeit setzte sich Alda auf seinen Kopf und ließ sich auf seinen dichten kastanienbraunen Locken wiegen. „Wohin führst du mich Alda?“ „Es ist noch zu früh, es dir zu sagen Urs.“ „Ist es noch weit?“ Urs hatte sich dem Schmetterling anvertraut wie ein kleiner neugieriger Junge, dem das Gehen lang wurde. „Ja und nein“. „Wie meinst du das ja und nein? Ist es nun weit oder nicht?“ „Das kommt ganz darauf an, was du unter weit verstehst.“ Urs war verdutzt und antwortete: „Weit ist für mich eine Wanderschaft, die mindestens ein paar Tage dauert.“ „Dann ist es gut möglich, dass es noch weit ist.“ Alda breitete ihre leuchtenden goldgelben Flügel aus und flog in hohem Bogen mitten ins Gras. Grazil schwebte sie von einer Blüte zur nächsten bis sie zu Urs zurückkehrte und vor seinem Gesicht auf und ab tänzelte. „Wir könnten aber auch heute schon ankommen?“ Urs Stirn legte sich in Falten. „Wie jetzt das? Du hast doch eben gesagt, dass es wahrscheinlich noch mehrere Tage dauert “ „Nein, das hast du gesagt.“ „Ich habe zwar die Erinnerung verloren wer ich bin, aber ich weiß doch, was ich gesagt habe.“ Urs biss sich ärgerlich auf die Oberlippe. Alda tänzelte noch immer um ihn herum. „Wenn du die Antwort auf dieses Rätsel herausfindest, dann sind wir da.“ Urs fühlte sich hintergangen und zog es vor nicht mehr mit Alda zu sprechen. Verstockt ging er weiter und kümmerte sich nicht mehr um den Schmetterling. Nach einiger Zeit begann der Weg eine scharfe Biegung zu machen. Dahinter ging es steil bergauf. Verbissen und schwitzend wanderte Urs schwerfällig weiter. Er sah weder die blühenden Holunderbüsche um ihn herum, noch die Kastanienalleen, die sich zu seiner rechten und linken idyllisch erhoben. Er wollte einfach nur so schnell wie möglich irgendwo ankommen, selbst wenn er nicht wusste wo. Nachdem er sich zwei Stunden wortlos Schritt für Schritt die Ansteigung hinaufgekämpft hatte, konnte er es sich doch nicht verbeißen Alda mürrisch zu fragen: „Wieso musstest du ausgerechnet diesen Weg aussuchen?“. „Weil es der Schnellste ist. Du willst doch so schnell wie möglich ankommen oder?“ „Du sagst mir ja nicht einmal wo wir hingehen“. Urs war atemlos stehen geblieben und versuchte herauszufinden, wo sie der Weg hinführte. So weit sein Auge reichte, schlängelte sich der Pfad zügig die Anhöhe hinhauf. „Wo wir ankommen hängt von dir ab“. Alda hatte sich auf seine linke Schulter gesetzt und strich ihm mit ihren Flügeln sanft über die verschwitzten Wangen. Urs atmete noch immer schwer und versuchte sich den Schweiß abzuwischen, der ihm in den Augen brannte. „Es hängt von mir ab wann und wo wir ankommen, obwohl du den Weg ausgesucht hast?“ Seine Stimme verriet tiefste Empörung. „Genauso ist es Urs“. “Und wenn ich lieber einen anderen Weg gehen möchte, der nicht so steil ist?“ Alda saß jetzt ganz still auf Urs Schulter. „Das ist deine Entscheidung, aber ich kann deine Gefährtin nur auf diesem Weg sein.“ Eingeschnappt ging Urs weiter und ließ Alda links liegen. Sollte sie sich doch einen anderen Hanswurst suchen. Obwohl er gute Lust hatte diesem Schmetterling zu beweisen, dass er ihn keineswegs brauchte und bestens alleine zurecht kam, konnte er sich trotzdem nicht dazu überwinden umzukehren. Irgendetwas hielt ihn auf. Es schien so als ob ihn unsichtbare Fäden den Berg hinaufzogen. Alda flog in einigem Abstand voraus und richtete kein weiteres Wort mehr an ihn. Die Stunden vergingen und nichts veränderte sich. Der Feldweg stieg weiter an. Einige Male blieb Urs stehen, um zu verschnaufen. Erst jetzt bemerkte er die Einzigartigkeit der Umgebung. Immer noch säumten beide Seiten des Pfades ein Kastanienspalier, die ihre dreigezackten Blätter wie Fächer im Wind wehen ließen und, der sie mitten durch eine prachtvolle Blumenwiese führte. Urs schaute zu den rauschenden Baumkronen empor. Obwohl er nicht wusste woher er kam und wohin er ging, hatte er mit einem Mal das Gefühl, dass er noch nie so richtig am Platz war wie hier. Die Blätter im Wind schienen ihm zuzuraunen: „Humhuhum,huhuhumhumhum...geh einfach weiter und du wirst sehen, alles hat seinen Sinn.“ Noch vor Kurzem hatte er kaum auftreten können, gepeinigt von seinen wunden Füßen, missmutig und gereizt durch Hunger und Durst. Mit einem Mal fühlte er sich leicht. Die Abenddämmerung war fast hereingebrochen und die Schwüle des heißen Juninachmittags hatte einer frischen Brise Platz gemacht. Die Grillen begannen mit ihrem Abendkonzert. Urs setzte sich still unter einen Kastanienbaum, lehnte sich an den noch sonnengewärmten Stamm. Er sog den süßen Duft von Harz und Kleeblumensirup in sich hinein und schloss die Augen. Binnen Sekunden versank er in einen tiefen Schlaf. Er träumte, dass er die Spitze eines Berges erklimmen wollte. Kurz bevor er oben anlangte, stellte er sich vor, wie er über das weite Tal schauen würde. Voller Erwartung rannte er die letzten Meter. Außer Atem, das Herz gegen seine Rippen hämmernd, dass es schmerzte, tat sich unter ihm ein endloses, blaues, in der Sonne gleißendes Meer auf. Fast wäre Urs hingefallen, so sehr übermannte ihn der Anblick des Wassers. Die Oberfläche war ruhig und ein wolkenloser Himmel spiegelte sich darin. Er stand einfach nur da und konnte nicht genug davon bekommen auf die blaue glatte Fläche zu schauen. Am Horizont machte er zwei Punkte aus, die sich bewegten und auf ihn zu kamen. Es mussten zwei Schwimmer sein. Eine unbändige Lust überkam ihn zu diesem Ozean zu gelangen. So sehr er sich jedoch bemühte, konnte er nicht den geringsten Pfad entdecken, der zum Wasser führte. Ihm wurde schwindelig und er sank langsam in die Knie bis sein Kopf auf die Erde fiel und ihm schwarz vor Augen wurde.
„Urs, Urs wach auf...“. Alda saß auf seiner rechten Schulter und streichelte seine Wangen mit ihren Flügeln. „Wo, wo bin ich? Wo ist das Meer? Ich muss doch zum Meer hinunter?“ „Du bist eingeschlafen Urs. Du hast die ganze Nacht an den Baum gelehnt geschlafen. Sieh nur die Sonne geht bereits auf.“
Urs richtete sich halb auf. Seine Wirbelsäule schmerzte so sehr, dass er das Gefühl hatte, sie würde jeden Moment in der Mitte auseinanderbrechen. Er rieb sich die Augen. In Bruchstücken kam seine Erinnerung langsam zurück. Zumindest sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte noch. Es lag noch ein gehöriges Stück Weg vor ihm. „Lass uns aufbrechen Alda.“
Alda war vorausgeflogen und Urs folgte ihr. Egal wie lange er noch bergauf gehen musste, er vertraute seinem Traum. Er hatte das Gefühl, dass etwas Wichtiges ihn auf der Spitze des Berges erwartete. Alda tänzelte vor ihm in den Strahlen der Mittagssonne, die ihren höchsten Stand im Zenit erreicht hatte. Schweißperlen tropften Urs von der Stirn und rannen ihm an Schläfen und Hals hinunter. Sein Mund war trocken und verklebt. Sein Durst war mörderisch. Er hatte zum letzten Mal aus dem Bach vor der Höhle getrunken. Das war bereits zwei Tage her, doch weit und breit gab es keine Quelle zu sehen. Nicht das geringste Anzeichen von Wasser. Sein Durst wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Er hätte einen ganzen See austrinken können. Als er es nicht mehr aushielt blieb er schwankend stehen und rief: „Alda warte auf mich. Ich brauche Wasser. Ich halte diesen Durst nicht mehr aus.“ Alda war sofort an seiner Seite. „Warum hast du das nicht gleich gesagt. Hier gibt es kein Wasser. Wir werden einen Umweg machen müssen, um zum nächsten Bach zu gelangen.“ „Umweg? Wieso Umweg? Ich will keinen Umweg machen. Ich möchte so schnell wie möglich auf die Bergspitze kommen“, antwortete ihr Urs aufgebracht. „Es tut mir leid Urs, aber wir werden diesen Umweg machen müssen. Es ist der einzige Bach weit und breit.“ Die Sonne brannte auf Urs Kopf. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und nickte resigniert: „Gut, dann machen wir eben den Umweg.“ Alda setzte sich auf seine Schulter und dirigierte ihn: „Geh querfeldein über die Wiese.“ Urs schleppte sich weiter. Wenigstens machte der Weg keine Steigung mehr, sondern ging sogar etwas bergab. Trotzdem kam er nur langsam voran, weil das Gras auf dem Feld hoch stand. Urs watete mehr als er ging. Alda war ihm wieder vorausgeflogen und tänzelte zwischen den gelben Butterblumen, die überall auf der Wiese wuchsen. Ab und zu flog sie zu Urs zurück und vergewisserte sich, dass er noch weitergehen konnte. Obwohl Urs strauchelte und jämmerlich schnaufte, setzte er automatisch einen Fuß vor den anderen. „Es dauert nicht mehr lange Urs, wir sind schon ganz nah“, versuchte Alda ihm Mut zu zusprechen. Es dämmerte bereits und ein kühler Wind brachte Milderung nach der Hitze des Tages. Als sich eine schmale Mondsichel auf dem Firmament blicken ließ, sah Urs einen Wald vor sich. Es war ein Birkenwald. Die weißen Stämme der schlanken Bäume zeichneten sich leuchtend vom Dunkel des indigoblauen Abendhimmels ab. „Nur noch ein kleines Stück“, ermunterte Alda ihn. Sie hatte sich auf seinem Kopf niedergelassen. Während Urs mit zusammengebissenen Zähnen weiter wanderte, wippte Alda auf seinem Haarschopf auf und ab. Nachdem Urs den Wald erreicht hatte, stützte er sich vornübergebeugt an einem der Baumstämme ab. „Ist es noch weit Alda? Ich kann wirklich nicht mehr?“ „Nein Urs, du hast es fast geschafft. Nur noch bis zur nächsten Lichtung.“ Die Aussicht ganz nahe an der frischen Waldquelle zu sein, gab Urs neue Kraft und er setzte sich wie ein Pferd in Bewegung, dass je näher es zu seinem Stall kam umso kräftiger ausschritt. Das fahle Mondlicht ließ den Wald silbrig glitzern. Wenn Urs nicht so durstig und müde gewesen wäre, dann hätte er sich wie in einer Märchenlandschaft gefühlt. „Hörst du das Plätschern Urs?“ „Wo, ich höre kein Plä...doch jetzt höre ich es. Es muss hinter dem Felsen dort herkommen.“ Urs hatte seine Erschöpfung vergessen und rannte, gefolgt von Alda, die letzten Meter bis zur Lichtung. Er ließ sich vor dem rauschenden Bach bäuchlings auf den Boden fallen und begann gierig zu trinken. Dabei verschluckte er sich und bekam einen so starken Hustanfall, dass Alda sich berechtigte Sorgen machte, dass er erstickte. Sie setzte sich auf seinen bebenden Rücken und begann ihn mit ihren filigranen Fühlern zu betasten, so als ob sie ihm einen lösenden Schlag zwischen die Schulterblätter versetzen wollte. Nach einer Weile hörte Urs auf zu husten und ließ sich erschöpft auf die Seite rollen. Über ihm leuchteten Tausende von Sterne. „Glaubst du das die Sterne Botschafter sind, die uns Nachrichten überbringen Alda?“ „Oh ja ganz bestimmt. Wir müssen sie nur lange genug beobachten, um sie deuten zu lernen.“ Eine Sternschnuppe ging vor ihnen nieder. „Hast du das gesehen?“. Urs hatte sich aufgerichtet. Sein Blick haftete unverwandt auf dem Sternenhimmel über ihm. Bevor er Aldas Antwort abwartete rief er aufgeregt: „Hier schon wieder eine. Zwei Sternschuppen, die genau an der gleichen Stelle vom Himmel gefallen sind.“ „Sterne fallen nicht vom Himmel, Sterne erlöschen Urs“, wies ihn Alda zurecht. „Also gut, dann sind sie eben erlöscht. Es war aber genau an der gleichen Stelle.“ Ohne etwas zu erwidern flog Alda in den Wald. „Wo willst du hin Alda?“, rief Urs ihr überrascht nach. „Nachsehen wo die Sterne hingefallen sind natürlich.“
Die Macht der Angst
Die Zigeunerin kniete auf einem Schemel vor einer Strohmatte, auf der ihre Mutter für gewöhnlich ihre Rituale abgehalten hatte. Der Kristall lag kühl in ihrem Schoß. Sie hatte ihn mit Essigwasser gewaschen und mit Salz bestäubt, um ihn von der Energie des Grabes zu reinigen und seine Kräfte zu erneuern. Es war vier Uhr morgends und totenstill. Neumond. Kein Lichtstrahl erhellte die Fenster des reichsten Hauses der Zigeunersiedlung, für das sie viele beneideten in kargen Zeiten wie diesen. Egom hatte sich nicht lumpen lassen, nachdem sie ihm die Prophezeiung überbracht hatte. Sie musste die Jungfrau finden und zu ihm zurückbringen sonst verlor sie alles was sie besaß. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Kristallkugel, die ihr als Fenster diente, durch das ihr nichts verborgen blieb, zumindest was in der Gegenwart geschah. Die Vergangenheit und Zukunft jedoch waren ein striktes Tabu. Jeder der dieses Gebot übertrat und die Kugel danach befragte, musste mit seinem Leben dafür bezahlen, hatte ihr ihre Mutter eingetrichtert als sie die Edelsteinkugel als kleines Mädchen in ihrem Versteck aufgestöbert hatte und damit spielen wollte. Obwohl sie es sich nicht eingestandt, hatte sie seit damals Angst vor der Kristallkugel und war deshalb eigentlich froh gewesen, als sie sie mit ihrer Mutter begraben konnte. Die Zigeunerin öffnete die Augen und nahm den Kristall vorsichtig in ihre rechte Hand. Augenblicklich begann seine Oberfläche zu leuchten und zwischen ihren Fingern zu vibrieren. Halblaut stellte sie ihre Frage: „Wo befindet sich die Jungfrau jetzt?“ Sie achtete darauf das Wort jetzt zu betonen. Das Leuchten des Steins wurde stärker, so sehr, dass sie die Augen abwenden musste. Nachdem das grelle Licht etwas nachgelassen hatte, richtete die Zigeunerin ihren Blick angestrengt auf den Kristall. Zuerst konnte sie nichts erkennen außer Nebelschwaden im Inneren der Kugel. Plötzlich konnte sie einzelne Linien und schließlich Formen ausmachen, die sich zu einem Bild verbanden. Es war die Jungfrau, die vor einem Jüngling auf einem weissen Pferd ritt, auf dessen Kopf zwei kleine eigenartige Geschöpfe saßen. Sie waren in einem Höhlenschacht unterwegs. Natürlich, dass hätte sie sich gleich denken können. Sie waren in die Steiner Höhlen geflüchtet. Es war der einzige Ort an dem Egom keine Macht besaß. Der Zigeunerin graute es vor den Höhlen. Jeder wusste, dass es dort Monster und Geister gab. Kein Unterberger würde freiweillig je einen Fuß dort hineinsetzen. „Freiwillig vielleicht nicht“, murmelte die Zigeunerin in sich hinein. Sie hatte die Wahl entweder qualvoll zu sterben, oder von Egom zu seiner Mitregentin gemacht zu werden. Ganz gleich wie sehr sie sich vor den Höhlen fürchtete, es gab keinen anderen Ausweg. Behutsam legte die Zigeunerin den Kristall, dessen Bilder verschwunden waren, in einen schwarzen Lederbeutel. „Jetzt weiß ich wenigstens wo ich zu suchen habe.“
Egom glaubte nicht richtig gehört zu haben. „Wo sind sie? Wo?“ Die Zigeunerin stand aufrecht vor ihm und wiederholte betont gelassen: „Sie sind in den Steiner Höhlen.“ „Das ist unmöglich. Niemand wagt es in die Höhlen zu gehen. Niemaaaaaand“, schrie er in einem Tobsuchtsanfall und malträtierte wie gewöhnlich seinen Thron mit Stockschlägen. Die Zigeunerin hielt seinem flakernden Blick stand, der nicht nur Zorn preisgab, sondern auch Angst wie sie befriedigt feststellte. Egom war in den Grundfesten erschüttert. Seine Macht über Unterbergen begründete sich einzig auf die Panik, die er in der Bevölkerung vor den Höhlen ausgelöst hatte. Obwohl Egom noch nie auch nur einen Fuß in die Steiner Höhlen gesetzt hatte, glaubte er mittlerweile selbst an die Schauergeschichten, die er erfunden hatte, um seine Untertanen zu versklaven und zu verhindern, dass sie aus Unterbergen fort gingen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, noch dazu halbe Kinder, es wagen konnte, die Angst zu ignorieren, die er den Unterbergern eingetrichtert hatte. Das würden sie ihm büßen. Diese rotzigen Ratten, die keinen Respekt mehr vor Erwachsenen hatten. Er würde sich rächen und der erste der daran glauben musste, war dieses kaputtgeschlagene Ekel Perchta, dass seinen eigenen Vater auf dem Gewissen hatte. Egom hatte vergessen, dass er selbst es gewesen war, der Vater und Sohn aufeinander gehetzt hatte und den Kampf für den Jungen entschied. Mit abwesendem Blick überlegte er sich, wie er seine Wut an diesem Vaterschänder abreagieren konnte. „Wir werden sie finden, verlasst euch auf mich Herr“. Die Zigeunerin hatte sich betont knapp vor Egom verneigt, um ihn weiterhin spüren zu lassen, dass sie wusste, wie sehr er in ihrer Hand war. „Wir brechen im Morgengrauen auf“. Sie drehte sich auf dem Absatz um und schickte sich an zu gehen, als Egom sie zurückrief: „Halt Zigeunerin, ich möchte dir noch etwas zeigen“. Egoms Stimme klang noch schriller als üblich. Was konnte Egom ihr zeigen wollen, ging es der Zigeunerin beunruhigt durch den Kopf. Sie wandte sich um und ergriff zögernd die behandschuhte Hand, die Egom ihr entgegenstreckte. „Komm meine Schöne. Wir gehen ein bisschen in den Kerker, dort habe ich etwas für dich aufbewahrt, was dich interessieren dürfte.“ Ihr Herz pochte bis in die Schläfen, als sie ihm die ausgetretenen Stufen in die verschimmelten Eingeweiden der Festung folgte. „Hier sind wir“. Egom war vor einer eisenbeschlagenen Holztür stehen geblieben. Die Zigeunerin würgte es durch den Gestank, der hier herrschte und der ihr auf eigentümliche Weise bekannt vorkam. Egom klatschte zweimal in die Hände und der Kerkermeister näherte sich mit einem großen Zinnring an dem unzählige Schlüssel rasselten. Mit geübtem Griff nestelte er nach dem Richtigen und sperrte das Vorhängeschloß der Kerkertür auf. Als er sie aufstieß bot sich der Zigeunerin ein so grausiger Anblick, dass es ihr den Hals zuschnürte, als ob jemand ein Drahtseil darum gelegt hätte, um sie zu erdrosseln. Ein gellender Schrei hallte durch den unterirdischen Festungsgang. Es dauerte ein paar Sekunden bis sie verstand, dass sie selbst es gewesen war, die geschrien hatte. Vor ihr lag der halbverweste Leichnam ihre Mutter, der mittlerweile in einzelne Stücke zerfallen war. Egom beobachtete sie gespannt. Sie durfte jetzt nicht in Panik geraten. Jemand von seinen Leuten musste ihr bis zur Totensiedlung der Zigeuner gefolgt sein. Aber was bezweckte er mit der verwesten Leiche ihre Mutter? „Ich habe meinem Diener befohlen ihre Taschen etwas genauer zu untersuchen“, schien er ihre Gedanken erraten zu haben. „Wer ein so wertvolles Geheimnis birgt, dass er sogar nach seinem Tod ausgegraben wird, hat meistens noch mehr zu bieten, als sich mit einem Blick feststellen läßt.“ Egom spielte damit ironisch auf ihre Eile an, mit der sie die Leiche ihrer Mutter zurückgelassen hatte. „Ich sehe schon du weißt nicht wovon ich spreche. Nun gut, ich will dich nicht mehr länger auf die Folter spannen, schließlich hast du noch einen anstrengenden Weg vor dir.“ Egom schnippste mit dem Finger und der Kerkerwächter zog ohne eine Miene zu verziehen, aus der rechten Jackentasche der Toten einen Brief. „Gib ihn ihr, sie soll ihn lesen“, befahl Egom harsch. Mit bebenden Händen faltete die Zigeunerin das verknitterte Blatt Papier auf. Es war die Handschrift ihrer Mutter, daran bestand kein Zweifel, obwohl die Buchstaben fast unleserlich waren. Sie musste ihn kurz vor ihrem Tod geschrieben haben und ihn sich mit letzter Kraft in die Tasche gesteckt haben. Er endete mitten im Satz. „Lies ihn vor meine Schöne, lies ihn vor. Wir wollen alle mithören“. Egom lächelte hämisch und ergötzte sich sichtlich an ihrer Ahnungslosigkeit. Die Zigeunerin begann mit brüchiger Stimme zu lesen: „Im Angesichts des Todes bekenne ich hiermit eine Schuld, die mich seit vielen Jahren begleitet. Seit dem Tag, an dem ich ein Windelkind aus dem Wald geraubt habe, obwohl ich wusste, dass ihre Mutter noch am Leben war, die es mit dem Namen Malva rief. Ich habe es als meine leibliche Tochter aufgezogen. Sie weiß bis heute nicht, dass sie nicht mein eigenes Kind ist.“ Der Zigeunerin versagte die Stimme. Sie atmete heftig und bekam trotzdem keine Luft. „Weiter meine Liebe, lies weiter...Malva, das ist also dein richtiger Name Zigeunerin“. Egom weidete sich an ihrer Erschütterung. Mit heiserer Stimme fuhr sie fort zu lesen: „Ich habe in die Vergangenheit und Zukunft gesehen. Die Jungfrau aus dem Turm...“. Der Brief brach ab. Die Zigeunerin konnte sich kaum auf den Beinen halten. Angeekelt von den stinkenden Überresten der Frau, die sie belogen und um ihre Herkunft betrogen hatte, loderte eine Wut in ihrem Innersten empor, die so stark war, dass sie jedes andere Gefühl auslöschte. Sie begann die Jungfrau aus dem Turm abgrundtief zu hassen. Sie hatte irgendetwas mit ihrer Geschichte zu tun, deren sie beraubt worden war. Nie hatte sie sich unter den Zigeunern wohlgefühlt. Jetzt verstand sie, warum sie ihnen immer eine Fremde geblieben war. Und nicht einmal der Kristall konnte ihr helfen, weil der Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft ihren Tod bedeuten würde. So wie es mit dem Weib geschehen war, dass sich jahrzehntelang als ihre Mutter ausgegeben hatte. Sie würde die Jungfrau finden und opfern, genauso wie sie selbst geopfert worden war.
„Ich danke euch für euer großzügiges Interesse an meinen Belangen Herr“, antwortete sie mit versteinerter Miene. „Es ist besser die Wahrheit spät zu erfahren als nie.“ Egom war das süffisante Grinsen hinter seiner Maske erstorben. Er hatte nicht mit ihrer Kaltblütigkeit gerechnet. Statt ein weiteres Wort abzuwarten, drehte Malva sich auf dem Absatz um und verlies den Kerker.
Perchta rannte keuchend durch den Wald. Hinter ihm hörte er die kreischende Meute der Soldaten aus dem Turm und das Kläffen ihrer blutrünstigen Jagdhunde. Egom hatte ihm ein Stück Fleisch aus seinem Oberarm herausgeschnitten und es vor seinen Augen den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Sie hatten aufeinander eingebissen und gekämpft, um es sich gegenseitig streitig zu machen. Der Geruch seines Blutes war unauslöschlich in ihren Nasen imprägniert und sie würden nicht eher Halt machen, bevor sie ihn gefunden und zerfetzt hatten. Perchta biberte vor Schmerz und Angst. Sein Gesicht war noch immer blau und grün unterlaufen von den brutalen Faustschlägen seines Vaters. Unter beiden Augen hatte er schwarze Blutergüße, drei seiner Vorderzähne fehlten in seinem Mund. Sein ganzer Körper war von Hematomen und Quetschungen zerschunden. Egom hatte ihm einen Vorsprung gewährt, damit sich die Hetzjagd auch lohnte. Während der Flucht hatte Perchta sich selbst die klaffende Armwunde mit einem Verband aus Holunderblättern abgebunden. Das hatte er der Frau des ehemaligen Festungsmeiers abgeschaut. Wenigstens war sie zu etwas gut. Bei dem Gedanken an Ullren wurde Perchta übel vor Wut. Diese Hexe war an allem Schuld. Hätte sie ihn damals nicht vor allen anderen als Feigling beschimpft, der sich nur in der Gruppe stark fühlte, dann wäre nichts von all dem passiert. Sein Vater hätte sich geweigert mit ihm zu kämpfen. Er wäre weiterhin stolz auf ihn gewesen. Sie hatte nicht das Recht ihn vor aller Augen bloß zu stellen. Er hätte sie schlagen sollen als sie ihn vor allen anderen dazu aufgefordert hatte. Wie er sie hasste, abgrundtief. Anstatt ihr nur den Eimer voller Scheiße, Blut und Urin in die Zelle zu schütten, hätte er sie umbringen sollen. Dann wäre sein Leben wenigstens für etwas gut gewesen. Der Schmerz pochte rythmisch durch seine Adern. Er schwitzte, obwohl die Sonne bereits untergegangen und die Abenddämmerung hereingebrochen war. Seine groben Hanfstiefel scheuerten an Fersen und Knöchel, wo sich dicke Wasserblasen gebildet hatten. Mehrfach war er ausgerutscht und hatte sich die Knie an den Wurzeln und Steinen aufgeschlagen, die aus dem Morast ragten. Von Weitem konnte er bereits die kläffende Hundemeute hinter sich hören. Die Schreie der Soldaten kamen näher. Ein stechender Schmerz in seiner Seite drückte ihm die Luft ab. Er konnte nicht anders, er musste stehen bleiben. Fiebernd überlegte er wie er seinen Verfolgern entkommen konnte. Er hatte nur eine Chance. Er musste es bis zu den Sümpfen schaffen. Keiner der Soldaten würde sich dort hineinwagen. Jeder Fehltritt bedeutete den unvermeidlichen Tod im Schlamm, der alles was sich auf ihm bewegte gierig in die Tiefe zog. Er musste das Risiko auf sich nehmen. Tränen der Verzweiflung und der Wut vermischten sich mit seinem Blut, Schweiß und dickflüssigem Schleim seiner triefenden Nase. Er kannte die Sümpfe seit seiner Kindheit, besser als jeder andere. Einmal hatte er einem seiner Spielkameraden Panik eingeflößt, als er ihn vor sich herjagte und erst im letzten Moment aus dem tückischen Treibsand befreite hatte. Doch war er noch nie in der Dunkelheit in den Sümpfen unterwegs gewesen. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen. Er konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen. In der Nacht war es schier unmöglich zu erkennen, wo er hintreten durfte, um nicht vom Sumpf verschlungen zu werden. Seine Jäger kamen erbarmungslos näher. Perchta hörte die Schreie der Soldaten, die die Hunde aufhetzten. Er musste weiter. Mühsam rappelte er sich auf und begann weiter um sein Leben zu rennen. Er schrie vor Schmerz, als die groben Kanten der Hanfstiefel seine blutigen Blasen aufrissen und auf dem rohen Fleisch scheuerten. Es war alles egal. Er musste es bis zu den Sümpfen schaffen. Lieber starb er dort als Egom, diesem Schwein, den Gefallen zu tun von seinen Hunden getötet zu werden. Gerade als ein Hoffnungsschimmer in ihm aufflackerte, weil er die Sümpfe aus der Ferne bereits sehen konnte, erreichte ihn der Leithund der Meute. Perchta rannte verbissen weiter. Das ausgehungerte Tier witterte seine Angst. Perchta fiel hin, konnte sich jedoch mit den Händen abstützen. Er spürte den heißen Atem des Hundes in seinem Nacken. Speichelfäden tropften aus den gefletschten Lefzen des Jagdhundes auf Perchtas Hinterkopf. Im letzten Moment ertastete Perchta einen Stein und hob ihn auf. Er drehte sich blitzschnell um und schleuderte seine Waffe mit aller Kraft gegen den Kopf des aufheulenden Tieres. Schädelknochen splitterten, aus einer klaffenden Wunde am Kopf des Hundes sprudelte das Blut. Perchta grinste befriedigt. Bevor er seinen Sieg jedoch auskosten konnte, hatte ihn die Hundemeute und die Soldaten erreicht. Zwei scharfe Pfiffe brachten die Hunde zum Stehen. „Halt, wir warten hier.“ Perchta traute seinen Augen nicht. Die Soldaten versammelten sich in einem Halbkreis und umringten ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, oder nur die geringste Geste zu machen, ihre Hände gegen ihn erheben zu wollen. Was hatte das zu bedeuten? Hatten sie sich gegen Egom verschworen und würden ihn gehen lassen? Perchta begann Hoffnung zu schöpfen. Warum nicht? Alle hassten Egom, rasten ihm die Gedanken durch den schmerzenden Kopf. „Wir haben uns überlegt, dass du vielleicht ein kleines Spiel mit uns machen möchtest“, wandte der Anführer der Soldaten das Wort an ihn. Obwohl es Dunkel war, kam Perchta die Stimme bekannt vor. „Du kennst dich doch hervorragend in den Sümpfen aus und wenn mich nicht alles täuscht, dann warst du auch auf dem Weg dorthin“. Wie Schuppen fiel es Perchta plötzlich von den Augen. Es war der Vater seines ehemaligen Freundes, der fast durch seine Schuld in den Sümpfen umgekommen war. Sie wollten ihn in die Sümpfe schicken. Obwohl genau diese Idee noch vor wenigen Minuten seine Rettung zu sein schien, streubte sich plötzlich alles in ihm dagegen. „Du bist es nicht wert unseren Hunden zum Fraß vorgeworfen zu werden. Wir werden hier auf dich warten, falls du zurück kommen solltest“, war alles was der Soldat sagte, bevor er verächtlich vor ihm ausspukte. Perchta kroch auf allen Vieren weiter. Hinter ihm grölten und lachten die Soldaten. Die Hunde bellten wutentbrannt, weil sie ihrer Beute beraubt worden waren. Aus dem Dickicht beobachteten ihn ein paar funkelnde Augen. Zitternd setzte er sich auf einen vom Blitz gefällten Baumstamm. Die Angst nahm ihm die Luft. Die funkelnden Augen bewegten sich. Perchta schrie auf. Er wollte nichts mehr sehen, er wollte die Sümpfe hinter sich lassen, er wollte nicht mehr da sein, er wollte keine Angst mehr empfinden. Die funkelnden Augen bohrten sich hinter die Schwärze seiner Lider. Er konnte ihnen nicht entfliehen. Perchta musste die Augen öffnen. Erleichtert erkannte er statt des rasenden Ungetüms, das er erwartet hatte, die Augen einer Eule. Erschöpft legte er sich auf den Baumstamm. Er wollte nur einen Moment ausruhen. Sofort verfiel er in einen unruhigen Schlaf. Er träumte, dass das Katzenjunge, dass er ertränkt hatte, obwohl Aruc ihn daran hindern wollte, ihm in die Nase und an der Lippe biss. Er spukte grünes Blut. Er hielt es so lange unter Wasser bis es zu zucken und zappeln aufhörte. Als er spürte, dass alle Lebenskraft aus seinem Körper gewichen war, verwandelte sich der struppige Katzenkörper in seinen Vater, der ihn angrinste und versuchte ihn zu erwürgen. Obwohl es mittlerweile bitterkalt war, erwachte Perchta schweißgebadet aus seinem Alptraum. Mühsam richtete er sich auf. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Um ihn herum gab es nichts als undurchdringliche Schwärze, die ihn aufzusaugen drohte. Er konnte nicht lange geschlafen haben, weil die Eule noch immer, von einer Astgabel über ihm, mit ihren funkelnden Augen auf ihn hinab starrte. Hastig ließ er sich vom Baumstamm auf den morastigen Boden gleiten. Vielleicht hatte er Glück. Vielleicht schaffte er es den Soldaten zu entrinnen. Dornensträucher rissen sich gierig in seine Kleider, die ihm bereits in Fetzen am Leib hingen. Seine Beine und Arme waren mit rotgeränderten Striemen zerschunden. Ein Dorn hatte sich in seine Wange gebohrt und eine tiefe Wunde hinterlassen, aus der das Blut in einem dünnen Rinnsaal tropfte und sich in seinem linken Mundwinkel sammelte. Der Gedanke an die Soldaten, die mit ihren Hunden auf ihn warteten, jagte ihn wie ein Rudel hungriger Wölfe durch den Sumpf. Plötzlich glaubte er das entfernte Licht einer Hütte zu sehen. Neue Lebenskraft beschleunigte seine Schritte und machte ihn unvorsichtig. Als er bereits innerlich jubilierte, weil er glaubte den Sümpfen und seinen Verfolgern entkommen zu sein, spürte Perchta wie sein rechter Fuß keinen Halt mehr auf dem schlammigen Boden fand und bis zum Knie im Morast versank. Als er hektisch versuchte sein linkes Bein nachzuziehen, um sich aus dem Schlamm zu befreien, konnte er trotz aller Kraftanstrengung keinen Zentimeter mehr vorankommen. Stattdessen sakte er immer weiter in den gurgelnden Sand. Schon spürte er wie ihm die zähe Erdmasse bis zur Taille reichte und wie ein Schraubstock umschloß. Er geriet in Panik und ruderte fuchtelnd mit den Armen, um sich zu befreien. In wenigen Sekunden waren auch seine Arme und Schultern bis zum Hals im Schlamm versunken und außer seinem Kopf nichts mehr von seinem Körper zu sehen. Seine wilden Hilfeschreie trieben einen Moment auf der breiigen Oberfläche, bevor sie zu den Soldaten drangen, die befriedigt ihren Heimweg antraten. Kurz bevor Perchta der Sumpf vollkommen in seinen unersättlichen Schlund gezogen hatte, erkannte er in dem vermeintlichen Licht der Hütte die Augen der Eule, die ihn aus der Dunkelheit weiterhin anstarrten bis es vollkommen schwarz um ihn wurde und der Schlamm ihm durch Mund, Nase und Ohren floss und er jämmerlich erstickte.
Die Suche in den Höhlen
Jalam pfiff durch die Zähne: „Ein sauberer Schnitt, alle Achtung.“ Gemeinsam mit Antar und Lovan stand er vor dem zweigeteilten Stein, der den Eingang zu den Steiner Höhlen verbarg. „Ich dachte, dass es Vulkansteinmesser nur in Walden gibt, die so etwas fertigbringen.“ Lovan schaute ihn ratlos an. „Irgendjemand muss ihnen geholfen haben. Aber wer und wie sind sie an dieses Messer gekommen?“ „Das werden wir über kurz oder lang herausfinden“, antwortete ihr Jalam trocken und wandte sich Antar zu: „Mein Freund ich bitte dich in der Nähe zu bleiben und zu beobachten, ob jemand die Höhle betritt oder verläßt. Sobald wir sie gefunden haben, kommen wir hierher zurück.“ Jalam verneigte sich vor Antar, der ihm mit dem Flügel über den Kopf strich. Seit Jalam unter den Adlern lebte, war Antar sein Vertrauter und engster Freund. Es gab nichts was Antar nicht für den Baumsänger aus Walden getan hätte. Nachdem Antar sich von Jalam verabschiedet hatte, nickte er Lovan zu und flog davon. Der Adlerkönig begann über ihnen große Kreise zu ziehen. Jalam entfernte die beiden Steinhälften, die von innen wieder vor den Eingang geschoben worden waren und betrat als erster das Dunkel der Höhle. Lovan blieb dicht hinter ihm. Es war fast stockdunkel. Sobald sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte sie Jalams Umrisse vor sich ausmachen. Seine Bewegungen waren sicher und überlegt. Alles an ihm strahlte Kraft und Männlichkeit aus. Lovan überlegte sich insgeheim warum Jalam, seit er vom Kelter Felsen zurück gekommen war, um sie abzuholen, plötzlich ihr gegenüber so neutral, ja fast abweisend war. Unvermittelt dachte Lovan an ihre letzte Nacht, die sie gemeinsam in ihrem Kosi in Walden verbrachten. Jalam saß regungslos auf ihrem Ehebett, dass einen Baldachin aus Blättern hatte und an Lianen befestigt unter dem Dach hing. Er hatte die Bettschaukel selbst erfunden und sie in ihrer Hochzeitsnacht voller Stolz damit überrascht. Bis zu jenem Tag, hatte er sie umhegt und gepflegt und mit allen Sinnen von ganzem Herzen geliebt, daran zweifelte Lovan nicht einen Moment. In jener Nacht jedoch, hatte er kein Wort gesprochen. Immer wieder hatte sie verzweifelt seinen Namen gerufen und ihn gebeten mit ihr zu sprechen, ohne Antwort zu erhalten. Jalam hatte einfach nur apathisch durch sie hindurch gestarrt. Als sie es nicht mehr länger ertragen konnte, war sie aufgestanden und hatte die ganze Nacht im Canticum verbracht. Sie hatte sich dort im Mondschein ins Gras gelegt und ihre Tränen fließen lassen, bis sie die Gesänge der canticas in eine andere Welt, wo es weder Schmerz noch Verlust gab, getragen hatten. Als sie zurück in ihr Haus gekehrt war, hatte sie einen Brief von Jalam vorgefunden, indem er sie um Verzeihung bat und erklärte, dass ihn Walden, sie selbst, einfach alles um ihn herum immer daran erinnern würde, dass er Schuld am Tod ihrer Tochter war. Er musste gehen. Vierzehn Jahre war es her, seit Jalam sie verlassen hatte. Wäre nicht ihr Vater Gort gewesen, ihre Tante Ivy und ihr Onkel Duir, hätte sie nicht die Kraft gefunden weiter zu leben. Sie hatte ihre Tochter und ihren Mann verloren. Lange Zeit hoffte Lovan, dass Jalam zu ihr zurück kommen würde bis sie irgendwann aufhörte täglich an ihn zu denken und sich schließlich sogar wünschte ihn zu vergessen. Der Höhlengang wurde enger und niedriger und überall stakten scharfe Steine aus dem Erdreich. Ihre einzige Lichtquelle war eine Pechfakel die Jalam vor sich in die Finsternis hielt. Lovan musste sich alle Mühe geben, um nicht mit ihrem langen türkisblauen Reisekleid hängen zu bleiben. Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass sie es ausgewählt hatte, um Jalam zu gefallen und ihre Kautschukhose weitaus besser für die Höhlen geeignet gewesen wäre. Mit Genugtun stellte sie jedoch fest, dass Jalam sich mehrfach nach ihr umdrehte, um sicher zu gehen, dass sie wohl behalten hinter ihm war. Nach einer Weile gerieten sie in eine Grotte, die in rotes Licht getaucht war. In der Mitte lag ein See, der von einem Wasserfall gespeist wurde, der der zerklüfteten Felswand entsprang. Jalam blieb am Ufer des Sees stehen und begann den aufgewühlten Lehmboden zu untersuchen. „Ich glaube sie haben hier die Bekanntschaft von einer Horde wilder Krieger gemacht. Sieh nur die vielen, tiefen Spuren. Sie scheinen Nagelstiefel getragen zu haben.“ „Glaubst du es waren Egoms Soldaten?“ „Schwer zu sagen“, Jalam ging in die Hocke und versuchte die Spuren in der nassen aufgwühlten Erde näher zu deuten. „Falls es Egoms Soldaten waren, haben sie es nicht geschafft sie gefangen zu nehmen. Sieh nur, die Pferdespuren. führen tiefer in die Höhle, wobei sich die Fußabdrücke der Stachelstiefel in der anderen Richtung entfernen.“ Jalam richtete sich auf und ergriff Lovans Hand. „Es ist besser du bleibst dicht hinter mir. Wer weiß, wo sich die Stachelstiefel herumtreiben.“ Zum ersten Mal seit er vom Kelter Felsen zurückgekehrt war, lächelte Jalam ihr zu und Lovan fühlte ihr Herz in ihrer Brust vor Freude hüpfen. Genauso wie als Sechzehnjährige als Jalam sie in der Werdener Bibliothek zum ersten Mal einlud mit ihm Baden zu gehen. „Ja, ja... du hast recht“, stotterte sie verlegen und hoffte inbrünstig, dass er ihr Zittern in der Stimme der Angst vor den Stachelstiefeln zuschrieb. Die Grotte endete in einem Tunnel, der weiter in die Tiefe führte. Jalam sprach kein Wort mehr und auch Lovan blieb stumm. Es gab so vieles was sie einander verschwiegen hatten, so viel Unausgeprochenes stand zwischen ihnen, dass es vernünftiger zu schein schien, Stille zu bewahren. Von Zeit zu Zeit reichte ihr Jalam einen Kautschukbeutel mit frischem Wasser, dass sie sich dankbar in die ausgetrocknete Kehle rinnen ließ. Als sie stolperte, war er sofort an ihrer Seite. „Hast du dir weh getan?“ „Nein, nein ich bin nur umgeknickst, es geht schon wieder.“ Besorgt befühlte er ihren rechten Knöchel und Lovan hielt den Atem an bei seiner Berührung. Sie wehrte sich gegen ihre Gefühle, ihre Sehnsucht in seinen Armen zu liegen, seinen Atem auf ihrer Haut zu spüren, sein Gewicht auf ihrem Körper zu fühlen. Behutsam setze er ihren Fuß auf die Erde. Dabei streifte er mit der linken Schulter ihre Brüste. Jalam zuckte zurück als ob er versucht hatte mit der bloßen Hand einen heißen Kupferkessel vom Feuer zu nehmen. „Oh das tut mir leid. Das wollte ich nicht“, entschuldigte er sich hastig. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander haften. Obwohl es heiß und stickig war schlotterten ihre Körper als ständen sie in nasser Kleidung in der klirrenden Kälte eines Wintertages. Eine Strähne hatte sich aus Lovans geflochtener Haarkrone gelöst. Der Träger ihres Kleides war über ihre Schulter gerutscht. Ohne einen weiteren Moment zu zögern, riss Jalam sie in seine Arme und küsste sie heftig bis ihnen der Atem ausging. Sie vergaßen alles um sich herum und liebten sich innig und leidenschaftlich auf der bloßen Erde im fahlen Licht der roten Höhle.
„Wieso dauert das so lange?“, herrschte Malva den Späher an. „Wir müssen den Höhleneingang finden und zwar sofort. Ich brauche dir nicht erst zu erklären was Egom mit dir macht, wenn wir unverrichteter Dinge zurückkommen.“ Malva saß hochaufgerichtet auf ihrem schwarzen Hengst und schaute voller Ablehnung auf den Spähersoldaten nieder, dem es immer noch nicht gelungen war den Höhleneingang ausfinding zu machen,obwohl sie ihm eine genaue Beschreibung davon gegeben hatte, nachdem sie erneut die Kristallkugel konsultiert hatte. Seit drei Tagen irrte Malva mit knapp hundert Soldaten durch den Wald und wurde von Minute zu Minute mürrischer. Sie konnte den entsetzlichen Gestank der Männer fünf Meilen gegen den Wind riechen. Es waren unzivilierste Rohlinge in ihren Augen. Sie hasste es sich mit ihnen abgeben zu müssen und versuchte so wenig Kontakt wie möglich aufkommen zu lassen. Während der wenigen Pausen, die sie ihnen gönnte, setzte sie sich alleine unter einen Baum, um eine Handvoll Beeren und Nüsse zu essen. Sie verachtete die groben Gepflogenheiten der Soldaten, die Berge von Fleisch in sich hineinstopften, das oft noch so roh war, dass ihnen das Blut an den Mundwinkeln heruntertropfte. Nachts ließ sie sich ein eigenes Zelt so weit entfernt wie möglich vom Lagerfeuer der Soldaten aufbauen. Sie wusste nur zu gut, dass es nur ihre Angst vor Egom war, die die Soldaten davon abhielt, sie auf bestialische Weise zu vergewaltigen. Vielleicht hatten sie auch Angst vor den Zauberkräften, die sie ihr zuschrieben. Und das sollte auch so bleiben. Sie durfte sich keinerlei Schwäche anmerken lassen. Die Soldaten würden ihr nur gehorchen, wenn sie merkten, dass sie es nicht mit einer schwachen, rechtlosen Frau zu tun hatten, sondern mit ihrer zukünftigen Königin. „Ich gebe dir noch bis zum Morgengrauen. Wenn du uns dann immer noch im Kreis herumführst, liefere ich dich Egom aus und werde dafür sorgen, dass er dich vierteilen lässt. Verlass dich drauf.“ Malva versetzte ihm einen harten Schlag mit der Reitgerte und galoppierte an die Spitze des Zuges. Je härter sie mit ihnen umging, desto weniger würden sie bemerken, wie sehr sie in ihren Grundfesten erschüttert war, seit Egom ihr den Brief gezeigt hatte..., von der Frau, die ihr ihre Geschichte gestohlen hatte. Flammender Zorn trieb ihr das Blut in Wogen durch die Adern, dass sich ihre Wangen röteten. Sie ballte die Hände zu Fäusten und konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, um nicht laut zu schreien. Sie hasste ihre Ziehmutter ebenso sehr, wie ihre richtige Mutter, die es nicht der Rede wert gefunden hatte, sie zu suchen. Nachdem Malva aus dem Kerker in ihr Haus zurückgekommen war, um sich reisefertig zu machen, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und hatte den Kristall nach dem Aufenthaltsort ihrer richtigen Mutter und ihres Vaters befragt. Der Kristall blieb schwarz, was nur bedeuten konnte, dass sie bereits gestorben sein mussten. Aus Enttäuschung und Wut hatte Malva sich geschworen keinen Deut mehr um ihre biologische Familie zu scheren. Sie würde keinen Finger rühren, um sie zu suchen. Sie hatten ja ebensowenig unternommen um sie zu finden, warum sollte sie sich jetzt für sie interessieren. Es gab nur eins was wichtig war. Sie musste die Jungfrau finden, sie an Egom ausliefern und dafür sorgen, dass das Opferritual gelänge. Danach müsste sie sich nie wieder Sorgen machen, weil sie dann Königin war und tun und lassen konnte, was sie wollte. „Herrin, ich glaube ich habe den Eingang gefunden“, hörte sie den Späher hinter sich rufen. Was eine Vierteilungsdrohung nicht alles bewirkt, lächelte Malva zufrieden in sich hinein, um gleich darauf wieder einen strengen Gesichtsausdruck anzunehmen und sich im Sattel zu dem Späher herum zu drehen, der atemlos auf sie zu galoppierte. „Es ist nicht weit von hier. Die Öffnung ist hinter einem Stein verborgen, der entzwei geschnitten worden sein muss“. „Na also, es geht doch. Bring uns an den Ort auf der Stelle. Ich hoffe für dein eigenes Wohl, dass du recht hast.“
Malva brachte ihren Hengst je zum Umkehren und folgte dem Späher. Der Rest der Soldaten heftete sich an ihre Fersen. Nach einem scharfen Ritt, blieben sie vor einem moosbeschichteten Stein stehen, der in zwei Hälften geteilt worden war. Malva erkannte sofort den Höhleneingang wieder, den ihr der Kristall gezeigt hatte. Einerseits empfand sie Erleichterung, andererseits fröstelte sie es bei dem Gedanken in die Höhlen hinabsteigen zu müssen. Wer weiß was sie dort erwartete. Doch es gab Zurück. Entweder sie brachte Egom die Jungfrau und würde reich und mächtig oder sie war zum Sterben verurteilt. „Wir müssen mit allem rechnen“, richtete sie sich an die Soldaten, die sie entsetzt anstarrten. „Wer sich im Kampf bewährt wird es nicht bereuen, sobald ich Königin bin.“ In den Gesichtern der Soldaten war deutlich zu lesen, dass sie keinesfalls die Gelegenheit verpassen wollten in ihrer Gunst aufzusteigen. Eine Frau, die Egom dazu brachte ihr hundert seiner besten Männer anzuvertrauen musste sehr, sehr mächtig sein. Daran gab es keinen Zweifel. Zwei von den Soldaten rollten beherzt die beiden Steinhälften bei Seite. „Entzündet die Fakeln“, grölte der Hauptmann in die Menge. In einem langen Gänsemarsch trieben die Soldaten ihre Pferde in die Höhlen.
Jalam und Lovan gingen wortlos nebeneinander her. Sie hielten sich an den Händen und genossen ihre Nähe, die sie so viele Jahre entbehrt hatten. Weder die Dunkelheit, noch die abgestandene Luft konnte die Magie dieses Augenblicks zerstören. Sie hatten sich endlich wieder gefunden. Der Höhlengang wurde enger bis sich nur noch ein schmaler Steg vor ihnen auftat. Zu beiden Seiten klaffte ein schwindelerregender Abgrund. Aus der Tiefe vernahmen sie das gurgelnde Geräusch von Wasser, dass gegen Stein schlug. Beide spürten, dass Gefahr in der Luft lag. Unvermittelt blieb Jalam vor Lovan stehen und schaute ihr tief in die Augen. „Egal was passiert Lovan. Du sollst wissen, dass ich dich liebe, immer geliebt habe und nie aufhören werde dich zu lieben.“ Lovan erwiderte Jalams eindringlichen Blick und verschloss seine Lippen mit einem zärtlichen Kuss. Als sie sich voneinander gelöst hatten, hörten sie das Rauschen von aufgewühltem Wasser, dass aus der Tiefe zu ihnen drang. Jalam signalisierte Lovan hinter ihm in Deckung zu gehen. Er hatte gerade noch die Zeit aus seinem Gürtel ein Messer zu reißen, dass identisch war, mit dem Messer, dass Ullren für ihn in den Rucksack gelegt hatte, bevor der Giftstachel von Sikull hoch über ihren Köpfen auftauchte. „Lauf Lovan, lauf, so schnell du kannst. Ich halte die Bestie auf.“ „Nein Jalam ich lasse dich nicht allein, niemals.“ „Lovan tu was ich dir sage, lauf, ich hole dich ein. Ich finde dich. Du musst Eufe finden und verhindern, dass Egom sie in die Hände bekommt.“ Lovan wusste das Jalam recht hatte. Sie durfte nicht nur an sich denken. Als Hathore von Walden musste sie an ihr Volk denken, an die Verantwortung, die sie übernommen hatte. Jalam drückte ihre Hand so fest, dass es weh tat und schrie aus Leibeskräften: „Lauf Lovan, Lauf!!!!!“ Verstört rannte sie los, in panischer Sorge um Jalam. Hinter sich hörte sie Jalams Kampfschreie. Sie lief so schnell sie konnte, ohne auf den schmalen Steg zu achten. Es fehlten nur noch wenige Meter und sie hatte den Abgrund hinter sich gelassen. Sie fühlte stechende Schmerzen in ihrer Seite. Es gelang ihr kaum noch zu Atmen. Ein grauenhaftes Krachen von splitterndem Chitin fuhr ihr durch Mark und Bein. Bevor sie die Zeit hatte sich umzudrehen, hörte Lovan ein aufklatschendes Geräusch. Im selben Moment peitschte eine Welle über Lovan hinweg und riss sie mit sich in die Tiefe. Der Fall schien kein Ende zu nehmen. Ihr einziger Gedanke galt Jalam. Plötzlich wurde es schwarz um Lovan und sie begann zu schweben.
„Neeeeiiiiinnnn, Neeeeiiiiiiin, Looooooovan“, Jalam war auf die Knie gesunken. Aus einer Wunde an seinem Bein, die ihm eine der Fangscheren Sikulls beigebracht hatte, tropfte Blut. Tränen strömten ihm über die Wangen. Sikull wartete mit ihrem in die Höhe gereckten Giftstachel, auf den geeigneten Moment, um ihn zu paralisieren. Aus ihrem gepanzerten Kopf starrten acht Augen gierig auf ihn. Immer wieder versuchte sie mit ihren Fangscheren nach ihm zu greifen, was sie mit dem Verlust von zwei Beinen bezahlt hatte, die Jalam ihr abgehackt hatte. Jalam richtete sich mühsam auf. Er hatte keine Angst zu sterben, aber vorher würde er dieses Monster erledigen, koste es was es wolle. Mit einem johlenden Schrei sprang er auf ihren Rücken und rammte sein Messer zwischen Sikulls Augen in ihren Kopf. Sie bäumte sich auf, schlug wild mit ihrem Schwanz um sich und stürzte gemeinsam mit Jalam in die Tiefe. Als sie im Wasser aufkamen lebte Silkull noch und versuchte ihn mit ihrem Giftstachel zu treffen. Geschickt tauchte Jalam unter ihr hinweg und rammte ihr sein Vulkansteinmesser so oft in den ungepanzerten Bauch bis er am Ende seiner Kräfte war. Jalam nahm kaum noch wahr, dass Sikulls Leiche auf den Grund sackte. Er bekam keine Luft mehr und begann die Besinnung zu verlieren. Es war ihm egal. Er hatte Lovan ein für alle mal verloren. Er hatte es nicht geschafft sie zu beschützen, ebenso wenig wie damals Laka. Er wollte sterben. Sein Dasein hatte so oder so keinen Sinn mehr. Die Tiefe rauschte in seinen Ohren, als ob er in eine Meeresmuschel hineinhörte. Er überließ sich dem Wasser ohne Widerstand zu leisten. Sterben war friedlich, dachte Jalam. Jetzt konnte er wieder atmen. Mechanisch sog er gierig Luft in seine Lungen. Hatte er die Passage zur Anderswelt schon hinter sich? Würde er Lovan und Laka dort treffen und mit ihnen vereint sein? Unwillkürlich biss er die Zähne zusammen, weil er einen brennenden Schmerz in seinem verletzten Bein spürte. Etwas stimmte nicht. Wieso spürte er Schmerzen in der Anderswelt? Jalam öffnete vorsichtig die Augen. Aus der Schwärze strahlte ihm rotes Licht entgegen. Er befand sich in einer Zwischenhöhle. Die unterirdische Strömung des Wassers musste ihn hierher gespült haben. Jalam konnte es nicht fassen. „Warum Warum muss ich weiterleben? Ich will nicht mehr ohne Lovan und Laka sein. Ich kann nicht mehr ohne sie leben.“ Er hatte die Worte geflüstert. Da hörte er das Echo von Stimmen. Ohne zu überlegen tauchte Jalam erneut unter Wasser und schwamm lautlos bis zum Eingang der angrenzenden Höhle. Langsam ließ er sich an die Oberfläche steigen. Als sich seine Augen an das von rotem Licht geflutete Halbdunkel gewöhnt hatten, begann sein Herz wild zu hämmern. Er musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht laut zu schreien.
Lovan blinzelte. Ihre Lungen brannten wie Feuer. Sie spürte Brechreiz, der sie so stark würgte, dass sie sich keuchend auf die Seite rollte und übergeben musste. Jemand schlug ihr kräftig auf den Rücken. Immer wieder spuckte sie Wasser bis sie so erschöpft war, dass sie halb bewusstlos liegen blieb. Von Weitem hörte sie eine weibliche Stimme, die sie anherrschte: „Was hast du hier zu suchen? Niemand wagt es einen Fuß in die Steiner Höhlen zu setzen. Es sei denn er hat einen trifftigen Grund dafür. Wie heißt du?“ Lovan spürte stechende Schmerzen in ihrer Brust und einen abgestandenen Geschmack im Mund. Langsam öffnete sie die Augen und sah sich dem forschenden Blick einer Frau gegenüber, die sich dicht über sie gebeugt hatte. Ihre großen blauen Augen waren kalt und starrten sie ablehnend an. Trotzdem war ihr Gesicht von auserlesener Schönheit und obwohl sie laut und grob mit ihr gesprochen hatte, war der Klang ihrer Stimme melodisch. Hinter ihr stand eine Legion von Soldaten. Es gab keinen Zweifel. Sie mussten im Auftrag Egoms in der Höhle sein und nach Eufe und Aruc suchen. „Ich heiße Magdalena“, schwindelte Lovan und war froh, dass die Höhle in rotes Licht getaucht war und es deshalb niemand auffiel, dass ihr das Blut in die Wangen schoss „ Ich wurde beim Pilzesuchen von Dieben im Wald aufgelauert. Weil ich nichts Wertvolles bei mir trug, wollten sie sich anderwertig mit mir vergnügen. Im letzten Moment konnte ich mich losreißen. Ich bin davon gelaufen und habe mich hier in den Höhlen vor ihnen versteckt.“ Malva schaute sie misstrauisch an, schien ihre Geschichte jedoch zu glauben. Hinter ihnen tuschelte es. Malva richtete sich auf und drehte sich aprupt um. Die Soldaten raunten sich grinsend zu. In ihren gierigen Blicken stand zu lesen, dass sie sich vorstellten wie sie selbst mit den beiden Frauen ein ungestörtes Schäferstündchen verbrachten. Sie musste diese Tölpel in Schach halten und durfte keinesfalls ihren Respekt einbüßen. Sie mussten zittern vor ihr. Hochaufgerichtet trat sie vor die Männer und wartete ohne ein Wort zu sagen. Fast alle Stimmen waren verstummt bis auf zwei der Soldaten in den hinteren Reihen, die so in ihre schlüpfrigen Späße vertieft waren, dass es ihnen nicht auffiel, dass Malva sie unverwandt beobachtete. Lovan lag immer noch auf dem Boden und hielt den Atem an. Nachdem sich der Hauptmann nervös geräuspert hatte, klappten die beiden Soldaten ihre schuldbewusst ihre Münder zu. Immer noch schwieg Malva und begnügte sich damit ihre kalten Blicke auf die beiden Störenfriede zu feuern. Schließlich befahl sie: „Ihr da, kommt näher und lasst uns alle an eurem Vergnügen teilhaben.“ Zögernd lösten sie sich aus der Menge und blieben vor Malva stehen. Obwohl sie nur eine Frau war, hatten sie Angst vor ihr. Sie genoss nicht nur das Vertrauen Egoms. In Inthorm wurde noch dazu gemunkelt, dass sie eine Hexe war. „Nun ich warte, lasst uns hören was es so Erheiterndes gibt.“ Beide Männer hatten ihren Blick auf den Boden gerichtet. „Aha dachte ich es mir. Scherze auf Kosten anderer. Das gefällt mir aber ganz und gar nicht. Ein bisschen solltet ihr euch doch um die Erheiterung aller bemühen.“ Süffisant lächelnd zog Malva betont langsam ein Stilettomesser aus ihrem linken Stiefel. Noch während die Soldaten sie überrascht anschauten, holte sie damit aus und zerfetzte die Gesichter der beiden Soldaten mit zwei raschen Schnitten. Ohne sich über ihre erschrockenen Schmerzensschreie zu kümmern, gab Malva das Zeichen zum Aufbruch. An Lovan gewandt: „Du kommst mit.“
Jalam hatte die ganze Szene von seinem Versteck im Wasser aus beobachtet. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Grenzenlose Erleichterung, dass Lovan noch am Leben war, mischte sich mit Ungeduld und Wut. Er wollte nichts sehnlicher als Lovan in seine Arme schließen und in Sicherheit bringen weit weg von den gaffenden, grobschlächtigen Soldaten und dieser grausamen Furie, die verdammt gut mit dem Messer umgehen konnte. Etwas zu gut für seinen Geschmack. Es kostete ihn ungeheuere Überwindung nicht einzuschreiten und abzuwarten. Doch musste er strategisch vorgehen, sonst hatte er keine Chance gegen Hundert Mann kampferfahrener Soldaten. Jalam holte tief Luft und tauchte in einem Zug quer durch den Höhlensee bis zum anderen Ufer, wo eben noch Lovan auf dem Boden gelegen war. Er wartete so lange bis er sicher sein konnte, dass er ihnen genug Vorsprung gegeben hatte und begann ihnen zu folgen. Er war nass bis auf die Knochen und blutete aus der Beinwunde, die ihm Sikull zugefügt hatte. Für einen Moment blieb er stehen und saugte sich die Wunde aus, er konnte es sich nicht erlauben eine Blutvergiftung zu bekommen. Er musste Lovan befreien. Als er an dem Platz angekommen war an dem Lovan und er sich noch vor wenigen Stunden geliebt hatten, hörte er wilde Schreie, die nichts menschliches an sich hatten. Lautes Wiehern, gefolgt von dem Klang aufeinandertreffender Eisenklingen. Jalam ließ jede Vorsicht fallen und rannte humpelnd als ob er von einer Herde Stiere gejagt werden würde in die Richtung aus der der Tumult kam. Entsetzt sah er sich einem wildem Gemetzel gegenüber. Egoms Soldaten waren auf eine Gruppe von grausamen Höhlenmännern getroffen, die sie mit ihren eisernen Hakenhänden abschlachteten wie Hühner. Pferde bäumten sich auf und fielen tötlich verwundet zu Boden. Verzweifelt suchte Jalam nach Lovan, ohne sich um die Kämpfenden zu kümmern. Er stürzte über den leblosen Körper eines Soldaten dessen Kopf, abgetrennt neben seinem aufgerissenen Rumpf lag, aus dem die Eingeweide quollen. Als er sich aufrichten wollte, spürte er einen harten Schlag auf den Hinterkopf und sank ohnmächtig zu Boden. Er sah nicht mehr, dass Lovan sich nur wenige Meter von ihm entfernt in einer Felsspalte versteckt hielt. Sie hatte ihren rechten Arm um die Schulter von Malva gelegt, die sich nicht selbst auf den Beinen halten konnte, weil einer der Kormoraner sie mit seiner Hakenhand am Oberschenkel erwischt hatte, während er ihrem Pferd den Bauch aufgeschlitzt hatte.
„Schaffst du es zu gehen? Wir müssen fliehen, sonst finden sie uns. Ich helfe dir.“ Malva nickte. Sie war weiß wie die Wand und fast ohnmächtig vor Schmerzen. Lovan stützte sie. Gemeinam schleppten sich die beiden Frauen aus ihrem Versteck und drückten sich gegen die Felswand in der Hoffnung nicht entdeckt zu werden. Der Kampf hatte inzwischen seinen Höhepunkt erreicht. Über die Hälfte von Egoms Soldaten waren gefallen. Auch einige der Kormoraner lagen zerstückelt auf der Erde. Abgetrennte Gliedmaßen und die Innereien aufgerissener Bäuche waren auf der Erde verstreut. Lovan hatte noch nie etwas Schrecklicheres gesehen. Sie war dankbar, dass Jalam nicht bei ihr war. Sie wusste, dass er sein Leben geben würde, um sie zu retten. Inständig betete sie, dass er es geschafft hatte, den Skorpion zu besiegen und in Sicherheit war. „Wir müssen auf die andere Seite gelangen. Jetzt oder nie“, Lovan schleifte Malva mit sich. Wie durch ein Wunder gelangten sie unversehrt zu einem Seitenstollen, der so schmal war, dass sie nur hintereinander weitergehen konnten. Lovan schob Malva vor sich in den Höhlengang und stützte sie mit ihrem Oberkörper, um ihr Halt zu geben. „Schaffst du es?“ Malva biss die Zähne zusammen. „Ja es geht.“ Schweißperlen tropften ihr an den Schläfen herunter und verfärbten den beigen Leinenstoff ihrer Bluse am Hals und unter den Armen mit großen Flecken. Ihre weite Reiterhose war blutgetränkt und hing ihr in Fetzen vom Leib. Lovans Reisekleid aus gesponnener Kastanienwolle war dagegen makellos. Die Waldener Naturstoffe waren so widerstandsfähig, dass selbst extremste Bedingungen ihnen nichts anhaben konnten. Schritt für Schritt entfernten sie sich von dem wilden Gemetzel. Nach einer Weile wurde der Schacht etwas breiter und Lovan begann erneut Malva um die Schultern zu fassen und ihr gesamtes Körpergewicht auf sich zu nehmen. Malvas Kopf war vornüber auf ihre Brust gesakt. Nachdem sie weit genug entfernt waren und sie die grausamen Kampfschreie nicht mehr erreichten, blieb Lovan stehen und legte Malva auf die Erde, um ihr verwundetes Bein zu untersuchen. Mit geschickten Fingern rollte sie das zerfetzte Hosenbein nach oben. Die Wunde war tiefer als sie geglaubt hatte. Mit einem Taschenmesser, dass ihr Jalam zugesteckt hatte, bevor sie die Höhlen betraten, schnitt sie einen sauberen Stoffetzen aus ihrem Kleid und begann die Wunde damit abzubinden. Malva hatte viel Blut verloren. Obwohl Malva sie nicht hören konnte, erklärte Lovan laut: „Wir müssen frisches Wasser finden und die Wunde damit auswaschen und richtig versorgen, damit sie sich nicht infisziert.“ Lovan kniete sich neben die bewusstlose Malva und schloss die Augen. Sie legte beide Handflächen aufeinander und hielt sie aneinandergepresst in der Form eines Dreiecks vor ihre Stirn. Leise sang sie:
„Vom Licht komme ich, zum Licht gehe ich. Im Licht gebe ich meinen Gedanken Form. Sadarum Kalum Tikopatutatum Kometum.“
Als Lovan die Augen öffnete lag Malva auf einem Leiterwagen, der hinter ein wunderschönes fuchsrotes Pferd mit pechschwarzer Mähne und Schweif gespannt war. Zärtlich streichelte Lovan über seinen Hals und flüsterte: „Bayard mein Guter, wie schön dich zu sehen.“
Die Rätsel der Vergangenheit
Ullren und Ivy schwammen Seite an Seite. Sonnenstrahlen glitzerten auf den Schaumkronen des Ametysthsees und erwärmten die frische Morgenluft.Es war nicht leicht gewesen Ullren zu überzeugen mitzukommen. Jeder Tag der ohne Nachricht von Lovan und Jalam verging, wurde sie angespannter und zog es meistens vor in einem Schaukelstuhl auf der Terrasse vor ihrem Zimmer zu kauern. Mit Genugtun stellte Ivy fest das Ullren entspannt lächelte und das Bad sichtlich zu genießen schien. „In einer Woche feiern wir unseren traditionellen Sonnwendball Ullren. Es ist uns allen ein großes Anliegen, dass du mit dabei bist.“ Zu Ivys freudigem Erstaunen nickte Ullren zustimmend. „Blumai redet über nichts anderes. Natürlich werde ich euch begleiten. Verzeih, dass ich so zurückgezogen war in letzter Zeit. Du hattest recht, daß Seebad hat mich auf andere Gedanken gebracht.“ Die beiden Frauen schwammen gemächlich ans Ufer und setzten sich auf einen Stein, um sich von den Sonnenstrahlen trocknen zu lassen. Nachdem sie eine Zeit lang jeder für sich im Gedanken versunken in den azurblauen Sommerhimmel gestarrt hatten, tastete sich Ivy behutsam voran: „Ich weiß sehr wohl wie dir zumute sein muss Ullren. Als ich meinen Bruder Gort, Lovans Vater, verloren habe, wusste ich nicht mehr ein noch aus. Gort war nicht nur mein älterer Bruder, sondern wie ein Vater für mich. Nach seinem Tod haben Duir und ich Lovan zu uns genommen. Damals war sie noch ein Baby. Wir haben sie als unsere Tochter aufgezogen. „Und Lovans Mutter, warum ist Lovan nicht bei ihrer Mutter geblieben?“, fragte Ullren überrascht. „Gort hat sich das Leben genommen nachdem Lovans Mutter ihn verlassen und Lovans Zwillingsschwester mitgenommen hatte.“ „Lovan hat eine Zwillingsschwester? Aber warum ist Lovans Mutter denn weggegangen? Hat sie Gort und Lovan nicht geliebt?“ Ullren war entsetzt und konnte ihre Entrüstung nicht verbergen. „Oh doch, ich weiß das meine Schwägerin ihre Familie mehr geliebt hat als ihr eigenes Leben. Wir haben nie erfahren warum sie es getan hat.“ Ivy hatte Tränen in den Augen. Ullren ergriff ihre Hand und streichelte sie sanft. „Ich danke dir Ivy, dass du mir davon erzählt hast. Ich dachte bisher, dass in Walden niemand auch nur den Schatten von Schmerz und Traurigkeit kennt und nur deshalb so viel Freude und Güte überall zu empfinden ist. Wie entsetzlich muss es für Lovan gewesen sein ihre Eltern und ihre Zwillingsschwester auf diese Weise zu verlieren.“ Ivy blickte versonnen auf das funkelnde Wasser. „Sie hat alle Schmerzen ertragen, die einen Menschen ereilen können. Zwei Tage nach der Geburt ihrer Tochter wurde Laka von einem Raubvogel getötet. Jalam, der sich die Schuld daran gab, hat sie daraufhin verlassen. Über ein Jahr weinte sie jeden Tag bis sie keine Tränen mehr hatte. Eines Tages setzte sie sich unter Ygdars Zweige und rührte sich vierzig Tage lang nicht von der Stelle, ohne zu essen oder zu trinken. Als sie zurück kam, war sie ein neuer Mensch. Sie hatte erkannt, dass es keine Schuld gibt und sich selbst und dem Schicksal vergeben. Von diesem Tag an begann Lovan wieder zu leben und heute ist sie unsere Hathore, die wir verehren und lieben und ihr bedingungslos vertrauen.“ Ullren war erschüttert. Wie konnte sie nur geglaubt haben, dass nur sie Probleme hatte und sich so sehr verschließen, obwohl sie in ihrem tiefsten Innersten wusste, dass es von ihrem Glauben und Vertrauen abhing, dass alles sich zum Guten wandte. Hatte ihr nicht Ygdar Hoffnung gegeben? Sie hatte begonnen die Bäume zu verstehen, alle bemühten sich um sie und sie war an dem schönsten Platz auf Erden, den sie sich vorstellen konnte. Doch war sie weder zur Morgenstille ins Astrum mitgegangen, noch zum Canticum oder ins Seminarium. Sie hatte sich verschlossen und gegrübelt und sich zermartert mit ihren Sorgen. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Sie glaubte, dass sie kein Recht darauf hatte das Glück und die Schönheit in Walden zu genießen, solange sie ihre Kinder und Fallada in Gefahr wusste, Lovan und Jalam ihr Leben aufs Spiel setzten, um sie zu finden und Brac als Geächteter durch die Wälder irrte. Sie fühlte sich schuldig. Lovan hatte recht. Schuld half niemandem weiter. Im Gegenteil Schuld schaffte Abgründe, schwächte und verschlimmerte Alles. Egal ob sie die Schuld sich selbst gab oder anderen. Ullrens Gedanken schweiften zu Brac. Bewusst verbannte sie die Erinnerung an den griesgrämigen Handlanger Egoms und entschied sich dafür sich an ihn als den empfindsamen Schmiedemeister zu erinnern, der ihr Herz im Sturm erobert hatte.
Urs hatte seinen Blick zum Firmament erhoben und erhoffte sich weitere Sternschnuppen, die jedoch ausblieben. Seit Stunden folgte er Alda, die ihn im hellen Mondlicht durch den Wald führte. „Alda so warte doch, Alda“, rief Urs dem Schmetterling hinterher. „Und wenn die Sternschnuppen Zufall waren, was dann? Dann verplempern wir die Zeit hier anstatt auf den Berg zu gelangen.“ „Es gibt keine Zufälle Urs, so viel solltest du wissen. Alles hat seinen Sinn und ist von höherer Hand geplant. Du kannst jedoch nur die Zeichen erkennen, die du sehen und verstehen willst. Die anderen siehst du einfach nicht.“ „Hast du deshalb vor ein paar Tagen zu mir gesagt, dass es von mir abhängt wann ich ankomme Alda?“ „Ich sehe du machst Fortschritte Urs, genau so ist es.“ Und was kann ich tun, um mehr Zeichen zu erkennen?“ „Beobachten Urs, beobachte alles um dich herum. Überall sind Botschaften für dich versteckt.“ Urs wanderte im Gedanken versunken weiter. Würde er sich je erinnern woher er kam und wie er in den Wald gelangt war? Er atmete die erdige, nach frischen Pfifferlingen duftende Luft tief ein. Er begann zu pfeiffen und zu summen bis er schließlich ein Lied anstimmte, dass ihm einfiel, obwohl er nicht wusste, woher er es kannte:
„Ich geh vor mich hin. Der Wald ist mein zu Hause, die Nacht mein Segenreich. Ich such mir meine Hütte in der ich find mein Schatz. Ich geh vor mich hin. Der Wald ist mein zu Hause, die Nacht mein Segenreich.
Der Morgen begann bereits zu grauen und Urs war so müde, dass ihm während des Gehens bereits die Augen zufielen. Alda flog auf seine Schulter. „Noch ein paar Schritte. Ich habe das Gefühl wir sind gleich da.“ „Aber wir wissen ja nicht einmal wonach wir suchen.“ „Sobald wir es gefunden haben wissen wir, dass wir danach gesucht haben.“ Urs schüttelte den Kopf. Es war wirklich nicht einfach Alda zu verstehen. Sie schaffte es immer wieder ihn zu verwirren. Trotzdem ging er widerstandslos weiter. So weit seine Augen reichten, sah er weiße Birkenstämme in den Himmel ragen. Von Weitem hörte er das Klopfen eines Spechts, der mit seinem Schnabel ein Loch in einen Stamm schlug, um darin sein Nest zu bauen. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die dichten Baumkronen und fielen wärmend auf sein Gesicht. Er blinzelte und rieb sich die müden Augen. Als er sie wieder geöffnet hatte, sah er plötzlich eine Hütte vor sich, die so perfekt zwischen die Bäume gebaut war, dass sie erst zu sehen war, wenn man direkt vor ihr stand. Obwohl sie klein und niedrig war, wirkte sie einladend mit einem gemütlichen Schindeldach und grünen Kletterpflanzen, die sich an ihren Wänden festgekrallt hatten und die Hütte ganz und gar bedeckten. Urs war stehen geblieben und starrte gebannt auf die Waldkate. „Ob jemand dort wohnt?“, wandte er sich fragend an Alda. „Lass es uns herausfinden“, antwortete ihm der Schmetterling resolut und setzte sich auf seinen Kopf. Urs fasste sich ein Herz. Er trat vor die Eingangstür und klopfte zaghaft. Keine Antwort. Wieder klopfte er, abermals blieb es still. Beim dritten Mal pochte Urs so fest er konnte mit der rechten Faust an die Tür und rief: „Hallo, ist da wer? Hallo!“ Nichts geschah. Urs lauschte und versuchte Schritte auszumachen. Abermals blieb alles ruhig. Beherzt drückte Urs schließlich den Knauf nieder. Die Tür war nicht verschlossen und sprang knarzend auf. Zuerst schreckte Urs zurück, bis schließlich seine Neugierde siegte und er einen Schritt nach vorn machte, um besser in den Innenraum der Hütte spähen zu können. Er konnte kaum etwas sehen, weil es stockdunkel war. „Los lass uns hineingehen“, forderte Alda ihn auf. Zögernd trat Urs über die Schwelle und begann die Holzläden der beiden einzigen Fenster zu öffnen. Mit einem Schlag flutete das Sonnenlicht wie ein glizternder Bach durch die Hütte. Unter dem Dach und in den Ecken hingen dichte Spinnweben. Außer einem Bettrost auf der eine Hanfmatte lag, einer Kinderkrippe mit einer verschimmelten Stoffpuppe, einem Tisch und einer Sitzbank, gab es keinerlei Möbel. Über einer offenen Feuerstelle links neben dem Eingang hing ein Topf und eine Schöpfkelle. Auf dem Boden standen zwei Körbe, die mit einer dicken Staubschicht überzogen waren. Neben der Feuerstelle waren mehrere Reihen Brennholz aufgestappelt. Wie es schien hatte seit Jahren niemand mehr einen Fuß in die Hütte gesetzt. Urs roch an der Hanfmatte und rümpfte die Nase. „Die muß gelüftet werden. Sie stinkt erbärmlich nach Mäusedreck.“ Er hob die Matte von dem Bettgestell und warf sie aus dem Fenster ins Gras. „Sieh nur, unter dem Bett liegt etwas“, machte ihn Alda auf einen violetten Gegenstand aufmerksam, der unter den Holzlatten des Bettrosts zum Vorschein gekommen war. Urs bückte sich und brachte ein ledergebundenes Buch zu Tage. Er blies die dicke Staubschicht vom Einband. In goldenen Lettern stand der Name „Linde“ darauf geschrieben. Urs schlug die erste Seite auf. Es war handgeschrieben in der eleganten Schrift einer gebildeten Frau. Die ersten zwanzig Seiten waren von Motten zerfressen und von der Feuchtigkeit unleserlich gemacht. Urs blätterte weiter bis er zu einer kurzen leserlichen Passage des Buches gelangte:
Die Tage vergehen wie im Flug. Seit vierzig Tagen sind wir bereits im Wald. Ich weiß nicht was aus mir und Malva werden wird. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich stehe morgends auf und schüre das Feuer an, suche Beeren und Pilze im Wald und hole Wasser aus dem Bach. Malva nehme ich fast immer mit, weil ich Angst habe, dass ihr etwas zustößt, wenn ich sie alleine lasse. Nur wenn sie sehr tief schläft, dann wecke ich sie nicht und bleibe in der Nähe. Sie ist so klein und hilflos.
Urs hatte sich auf die Sitzbank vor den Tisch gesetzt und war vollkommen in die Zeilen vertieft, die ihn zutiefst anrührten. Er spürte die Verzweiflung der Schreiberin zwischen jeder einzelnen Zeile. Er fühlte sich ihr verwandt. Auch sie war heimatlos, ebenso wie er. Alda hatte sich auf seiner Schulter niedergelassen und flüsterte ihm zu: „Siehst du, wenn wir es gefunden haben, wissen wir, dass wir danach gesucht haben.“
Urs war in der Nähe der Hütte unterwegs, um Spuren von Linde und Malva zu suchen. Wo konnten sie hingegangen sein? Warum waren sie so schnell aufgebrochen, dass sie alles zurückgelassen hatten? Er wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr Geheimnis lüften musste, um sich zu erinnern, wer er war. Obwohl es seit Tagen regnete, streifte er unermüdlich durch den Wald und suchte jeden Baumstamm, jeden Busch nach einem Zeichen ab. Ohne Erfolg. Er fand nicht den geringsten Hinweis. Die Tage verstrichen. Wie Linde ernährte Urs sich von Beeren, Pilzen und Nüssen, die er reichlich im Wald fand. Jeden Tag schöpfte er aufs neue Hoffnung etwas über Lindes und Malvas Verbleib herausfzufinden, um stets bei Anbruch der Dunkelheit enttäuscht in die Hütte zurückzukehren. Alda wich nicht einen Moment von seiner Seite, hüllte sich jedoch in Schweigen. „Kannst du mir nicht helfen herauszufinden wo sie sind Alda?“, bat Urs inständig und schaute Alda mit traurigen Augen an. „Wo soll ich denn noch suchen? Ich habe jeden Stein umgedreht, nichts, sie sind einfach verschwunden. Wie soll es denn weitergehen mit mir?“ Alda streichelte ihm sanft über die Wange. „Gib nicht auf Urs. Wer sucht, der findet. Auch wenn es noch so auswegslos erscheint.“ Abends setzte er sich vor den Kamin und las immer wieder in Lindes Tagebuch, die wenigen Seiten, die von der Feuchtigkeit verschont worden waren:
Malva ist mein einziger Trost, mein Sonnenschein. Sie erinnert mich an ihren Vater, den ich so schmerzlich vermisse.
Ein Käfer hatte ein Loch in die Seite gebissen und damit den Beginn des nächsten Satzes unleserlich gemacht.
... ist mein kleiner Engel. Ich weiss nicht wie ich ohne die beiden leben soll. Aber ich muss stark sein für Malva.
Urs schaute in die züngelnden Flammen des Kaminfeuers, dass knisternd und zischend das Reisig und die duftenden Tannenzapfen verbrannte, die er ins Feuer geworfen hatte.
Die Prüfung
Eufe kam zu sich. Ihr Kopf schmerzte. Langsam schlug sie die Augen auf und erinnerte sich. Sie waren in einen Wirbelsturm geraten und hatten das Bewusstsein verloren. Mühsam richtete sie sich auf. Sie befand sich in einem riesigen Käfig mit goldenen Gitterstäben. Außer ihr war niemand zu sehen. Eufe geriet in Panik. Wo waren die anderen? Wieso waren sie nicht mehr bei ihr? „Aruuuuuccccc, Faaaaalllaaaaaadaaaaa, Liiiiiiiiiiiiiiiieeeesssliiiiiiiiiiiiiiiii, Kaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaliiiiiiiiii“ schrie sie so laut sie konnte ohne eine Antwort zu erhalten. Alles blieb still. Nur das Echo ihrer eigenen Stimme hallte zu ihr zurück. Wieder schrie Eufe verzweifelt: Aaaaaaaaaaaaaarrrrrrrrrruuuuuuuuuuucccccccccccc, wo seit ihr?“ Im Stillen befahl sie sich, ruhig zu bleiben. Sie sind bestimmt nicht weit und kommen dich holen. Wenigstens hatte sie ihren Rucksack bei sich. Eufe fröstelte und zog einen blauen Wollumhang aus dem Beutel. Sie fürchtete sich grenzenlos. Der Käfig war vollkommen leer, außer einer Holzschaukel, die in schwindelerrengender Höhe über ihr hing und mit weißen Blumengirlanden geschmückt waren. Eufe schloss die Augen und betete: „Amo hilf mir, ich brauche dich. Wie soll ich hier heraus kommen?“ „Es stellt sich eher die Frage, warum du hier bist meine Schöne.“ Eufe öffnete erschrocken die Augen und sah auf einer der Schaukeln den schönsten Vogel sitzen, den sie je gesehen hatte. Er war von einem seltenen türkisblau. Sein Schwanz war lang und buschig und schillerte. Eufe schaute den Vogel verdattert an. „Ich bin Fonaskus, der Phönix. Mach dir keine Sorgen um deine Freunde. Es geht ihnen gut und wenn es an der Zeit ist, wirst du sie wiedersehen.“ „Aber wieso bin ich in einem Käfig? Und warum sind meine Freunde nicht mehr bei mir? „Weil du das Rätsel des goldenen Käfigs nur alleine lösen kannst.“ Eufe war sprachlos. Fonaskus schien sie nicht weiter zu beachten und begann sich hingebungsvoll die langen Federn zu putzen, während er auf der Schaukel hin und her wippte. Endlich hatte Eufe sich wieder gefasst und entgegnete ihm empört. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, dass ich hier eingesperrt bin, weil ich ein Rätsel lösen soll. Warum muss ich denn dazu eingesperrt sein?“ Fonaskus polierte eine seiner längsten Schwanzfedern, indem er sie beflissen durch seinen Schnabel zog und antwortete ruhig: „Das wirst du verstehen können, wenn du es gelöst hast.“ Eufe war aufgestanden. Ihre Angst war wie weggeblasen. Sie war wütend. Sie war nicht aus dem Turm geflohen, um in einem Käfig eingesperrt zu sein. „Und was soll das für ein Rätsel sein?“, fragte sie den Phönix gereizt. „Das musst du selbst herausfinden meine Schöne.“ „Ich bin nicht deine Schöne, ich heiße Eufe“. „Willkommen im goldenen Käfig Eufe“, antwortete Fonaskus ihr ungerührt. „Jetzt muss ich fort. Ich komme wieder, wenn du bereit bist.“ Bevor Eufe Zeit hatte ihm etwas zu erwidern, war er verschwunden. Eufe starrte auf die leere Schaukel, die gespenstisch vor und zurück wippte. Sie war wütend, so sehr, dass sie kaum atmen konnte. „Warum bin ich hier? Was soll das alles? Erst bin ich im Turm eingesperrt und jetzt in einem Käfig. Warum? Was hat das alles für einen Sinn?“ Eufe trat wütend mit dem Bein gegen die Gitterstäbe, die keinen Milimeter nachgaben. Irgendwie musste sie sich abreagieren. Hektisch begann Eufe auf und ab zu gehen. Auf und Ab. Auf und ab bis sie sich schließlich strampelnd auf den Boden fallen ließ und so lange um sich schlug, bis sie keine Kraft mehr hatte und mit starren Augen, die nichts wahrnahmen, liegen blieb. Unvermittelt erinnerte sie sich an Ullrens Worte an jenem letzten gemeinsamen Nachmittag auf dem Turmgarten von Inthorm. Vertraue, ganz egal wie sehr dein Verstand dich oft prüfen möge, vertraue auf deine göttliche Essenz. Dein Vermächtnis ist die Liebe.
Aber sie empfand alles andere als Liebe. Sie war enttäuscht, wütend und verbittert. Ihre Eltern hatten sie verlassen als sie noch ein Baby war, Ullren war weit weg und jetzt hatte sie auch noch ihre einzigen Freunde verloren. Sie hatte es satt eingesperrt und allein zu sein. Diesmal würde sie Amo nicht betteln ihr zu helfen. Es nützte ja doch nichts, weil sie immer wieder in dieselbe Lage kam. Wenn sie nichts zu sich nahm, weder Essen noch Trinken würde sie sterben. Und genau das hatte sie vor. Damit wäre allen geholfen und Egom würde vergeblich versuchen sie zu finden. Mit versteinertem Gesicht blieb Eufe auf dem Boden liegen. Sie war bereit zu sterben. Dann hatte sie es wenigstens hinter sich.
Aruc saß vor einem Steinhaufen, der so hoch war wie ein Haus. Der Sturm hatte ihn auf magische Weise aus den Höhlen ins Draußen geweht. Allerdings gab es um ihn herum nichts, außer dem Steinhaufen. Kein Baum, kein Busch, kein Haus, nicht einmal ein Grashalm war zu sehen. Langsam richtete er sich auf. Sein Rücken schmerzte. Wo waren die anderen? „Hey Eufeeeee, Fallaaaaaadaaaa“. Nichts. „Liiiiieeeesssliiiiii, Kaaaaalllliiiiiiiii“. Die Steine verschluckten seine Rufe. „Verdammt, wo seit ihr?“ Es musste mittags sein, weil es brütend heiß war und die Sonne ihm senkrecht auf den Kopf brannte. Aruc drehte sich um die eigenen Achse. Das war kein gewöhnlicher Steinhaufen vor ihm. Plötzlich wusste er wo er war und sein Puls begann zu rasen. Er war auf einem von Egoms Steinbrüchen, in denen Sklavenarbeiter nach Gold und Edelsteinen schürfen mussten. Aber er konnte nicht eine Menschenseele entdecken. Noch während er sich darüber wunderte, hörte er hinter sich eilige Schritte, die näher kamen. Wie eine Marionette, deren Gliedmaßen durch das Ziehen an einzelnen Fäden bewegt wurden, drehte er sich um. Er fühlte die Adlerfeder in seiner linken Hand und sah sich einer Gruppe von ausgemergelten, dreckstarrenden Männern gegenüber, die ihre Blicke teilnahmslos auf den Boden gerichtet hielten. Sie wurden von einem peitschenschwingenden Aufseher angetrieben, dessen Gesicht eine einzige Pockennarbe war. Er baute sich vor Aruc auf und griente. „Wen haben wir denn da? Ein Neuzugang. Und noch dazu jung und kräftig. Das lob ich mir. Los Bursche. Du kommst mit. So was wie dich brauchen wir hier.“ Der Ton seiner Stimme gestattete keine Widerrede. Aruc brachte kein Wort über die zusammen gepressten Lippen. Widerstandslos folgte er dem Sklaventrupp in das Innere des Steinbruchs, dessen Eingang sich hinter einem Berg von Säcken befand. Es stank entsetzlich nach Schwefelsäure, die sich in den Stein geätzt hatte und überall verspritzt wurde um den Stein auszuhöhlen und die Arbeit der Sklaven zu beschleunigen. Aruc presste sich die Hand vor den Mund. „Mach keine Faxen du Memme. Gewöhn dich besser gleich an den Gestank. So schnell kommst du hier nicht mehr raus, falls überhaupt.“ Der Aufseher gröhlte vor Lachen. Er stand so dicht vor ihm, dass Aruc die verfaulten Zahnstumpen in seiner Mundhöhle sehen konnte. Das werden wir ja sehen, dachte Aruc insgeheim, erwiderte jedoch kein Wort. Er musste hier rauskommen und Eufe, Fallada und die Untersberger Glühmandln finden. Bestimmt warteten sie auf ihn ganz in der Nähe. Aruc hatte sich die Adlerfeder unbemerkt in die Hosentasche gesteckt. Durch ein kleines Loch spürte er den Flaum Aruc war sich sicher, dass es kein Zufall war, dass er ausgerechnet die Feder in der Hand hielt, als ihn der Wirbelsturm erfasste. Der Aufseher packte ihn unsanft an der Schulter und drückte seinen Kopf in den Staub. Mit groben Händen klopfte er seine Taschen ab und zog triumphierend Arucs Messer aus seinem Gürtel. Nachdem er Aruc den Rucksack von den Schultern gerissen hatte, drückte er ihm eine Schaufel in die Hand und wies ihm einen Erdhügel zum Graben an. Neben ihm gruben zwei Männer, die bis auf die Rippen abgemagert waren. Jeder Atemzug löste ein rasselndes Pfeifen in ihren Kehlen aus. „Hey ich bin Aruc“, grüßte er sie ohne eine Antwort zu bekommen. „Wie heißt ihr?“ „Ruhe, Ruhe verdammt noch mal“, brüllte der Aufseher und zockte mit seiner Peitsche in der Luft. „Seit ihr schon lange hier?“ flüsterte Aruc. Keiner von ihnen schenkte ihm Beachtung. So schnell wollte Aruc sich nicht geschlagen geben. „Wisst ihr wie wir hier rauskommen?“ „Psst, du hast doch gehört, wir dürfen nicht miteinander sprechen“, bemühte sich der etwas jüngere von den beiden ihn zum Schweigen zu bringen. „Sonst peitscht er dich aus“, fügte der Ältere hinzu. „Hey du da, Schnauze.“ Ohne Vorwarnung holte der Aufseher mit der Peitsche aus und ließ sie auf den Sklaven niedersausen. Instinktiv hechtete Aruc sich vor den ausgemergelten Mann und fing den Hieb mit seiner bloßen Hand ab. Der Rest der Sklavenarbeiter hatte aufgehört zu arbeiten und beobachtete Aruc ehrfürchtig. Bebend vor Wut schrie ihm der Aufseher ins Gesicht: „Du Dreckskerl wirst mich noch kennenlernen. Du hast verdammtes Schwein, dass wir frische Arbeiter brauchen, sonst würde ich dich jetzt zu Brei schlagen.“ Aruc hielt seinem hasserfüllten Blick stand. Er spürte weder Angst, noch Wut, nur das Kitzeln der Adlerfeder an seinem Oberschenkel.
Eufe wusste nicht wie lange sie schon teilnahmslos in dem Käfig sass und vor sich hinstarrte. Sie hatte längst jeden Zeitbegriff verloren. Sie empfand weder Hunger noch Durst, nicht einmal Müdigkeit. Obwohl sie sich vorgenommen hatte an nichts zu denken und einfach zu warten bis sie einschlafen würde, um nicht mehr aufzuwachen, zwängten sich ihre Gedanken wie durch Mauerritzen flitzende Mäuse unaufhaltsam in ihren Kopf. Ihr kam der Traum in den Sinn in dem sie sich in den zugefrorenen See hatte fallen lassen und ihr Amo die drei Fragen gestellt hatte: „Wer bist du? Wo gehst du hin? Was machst du hier?“ Eufe wurde wieder wütend. Sie wusste ja nicht wer sie war, sie konnte nirgends hingehen, war sie wieder einmal eingesperrt und sie hatte nicht die geringste Ahnung wozu sie überhaupt auf der Welt war. Eufe erinnerte sich an das Reich der hohen Faune. Fallada hatte ihr geraten die Botschaft der Faunin gut zu verwahren. Na und? Jetzt brauchte sie sich nicht mehr zu kümmern, vor allem um keine Botschaften. Sie weigerte sich weiter an diese Dinge zu denken. Eufe hatte genug von allem. Es war doch zu nichts nütze. Sie endete nur immer wieder in einem Gefängnis. Eufe versuchte sich abzulenken, indem sie begann die Gitterstäbe des Käfigs zu zählen. Da sie sich wieder und wieder verzählte und von vorne anfangen musste, ließ sie es schließlich bleiben. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus, ein und aus, ein und aus. Ohne zu wissen wie ihr geschah rezitierte Eufe schließlich laut: „Du bist gekommen, um zu verwandeln: Angst in Vertrauen, Gewalt in Güte, Widerwärtigkeit in Grazie, Hochmut in Einfachheit, Hass in Liebe, Trostlosigkeit in Freude, Häßlichkeit in Schönheit, Trennung in Einheit.“ Das ist die Botschaft der Faunsängerin schoss es Eufe durch den Kopf. Ihre rechte Schulter schmerzte. Ihre Hand war zu einer Faust gekrümmt. Langsam öffnete sie die verkrampften Finger, die um den metallisch leuchtenden, blaugrün changierenden Schmetterlingsflügel geschlossen waren, der unversehrt und geheimnisvoll in ihrem Handteller lag. Eufe musste unwillkürlich daran denken, wie Ullren ihr einmal im Turmgarten eine Raupe gezeigt und behauptet hatte, dass daraus ein wunderschöner Schmetterling werden würde. Und weil Eufe ihr nicht geglaubt hatte, begannen sie die Raupe zu beobachten bis sie eines Tages verschwunden war und an ihrer Stelle ein ovales Ei mit einem Filzmäntelchen übrig geblieben war. „Die Raupe ist da drin eingeschlossen“, hatte Ullren ihr erklärt. „Sie kann erst herauskommen, wenn ihr Flügel gewachsen sind und sie sich zum Schmetterling verwandelt hat.“ Daraufhin hatten sie die braune unscheinbare Hülle im Auge behalten bis sie sie Monate später aufgebrochen und leer vorfanden und über ihren Köpfen ein wunderschöner gelber Schmetterling tanzte. Eufe blickte sich im Käfig um. Außer der blumengeschmückten Schaukel gab es keine weiteren Gegenstände, die ihre Aufmerksamkeit erregt hätten. Der Käfig war leer. Fonaskus hatte zu ihr gesagt, dass sie eingesperrt war, weil sie nur allein das Rätsel des goldenen Käfigs lösen konnte. „Soll aus mir ein Schmetterling werden?“ Eufe hatte laut überlegt. „So ungefähr, du kommst der Lösung langsam näher“, antwortete ihr Fonaskus. Erschrocken drehte Eufe sich um und sah sich erneut dem Phönix gegenüber, dessen bunte Schwanzfedern wie ein königlicher Umhang hinter ihm auf dem Boden schleppten. „Aber aus mir kann doch kein Schmetterling werden Fonaskus.“ „Nicht direkt, aber auch du hast wie der Schmetterling eine Metamorphose vor dir.“ „Was ist denn eine Me....Metamofase?“ „Metamorphose meine Schöne. Damit ist eine Verwandlung gemeint.“ Das Wort Verwandlung traf Eufe wie ein Hammer. „Du bist hier um zu verwandeln“, hatte ihr die Faunsängerin mitgeteilt. Aber in was sollte sie sich selbst verwandeln? „Überlege Eufe, ich kann dich erst gehen lassen, wenn du mir diese Frage beantworten kannst.“
Aruc wuchtete einen Sack nach dem anderen auf seinen Rücken und schleppte ihn quer über den Steinbruch, wo mehrere Sklaven damit beschäftigt waren die Erde nach Gold zu sieben. Der Staub kroch ihm in die Lungen. Er keuchte und hatte ein taubes Gefühl in seiner Wirbelsäule von den Lasten, die er seit Tagen bis tief in die Nacht schleppte. Der Aufseher ließ ihn keine Sekunde aus den Augen und war versessen darauf ihn bei einer Übertretung der Regeln zu erwischen, um ihn auszupeitschen. Aruc hatte kein Wort mehr gesprochen, seit er sich vor den Sklaven gestellt hatte, um ihn vor dem Peitschenhieb zu schützen. Er verrichtete hochaufgerichtet seine Arbeit, verweigerte jegliches Essen und schien trotzdem von Tag zu Tag zu wachsen und stärker zu werden. Das einzige was er zu sich nahm war frisches Wasser aus einer Quelle, in der Nähe des Steinbruchs. Einmal am Tag durften sie sich dort unter den Argusaugen des Aufsehers waschen und ihren Durst löschen. Keiner der anderen wagte es das Wort an ihn zu richten, weil sie fürchteten dafür bestraft zu werden. In der Nacht wurden sie angekettet, um nicht zu fliehen. Wenn alles still im Lager war und selbst der Aufseher grunzend in seinem Zelt vor sich hin schnarchte, während die Sklaven mit der bloßen Erde Vorlieb nehmen mussten, lag Aruc wach und wartete. Seit der ersten Nacht im Lager kam jede Nacht ein Adler zu ihm, der sich in seiner Nähe auf einen Stein setzte, und ihm immer die gleiche Frage stellte: „Nun hast du inzwischen erkannt warum du hier bist?“, erkundigte sich der Adler forschend. „Geduld“, hatte Aruc ihm geantwortet. „Stimmt Geduld ist Teil deiner Aufgabe, aber längst nicht alles.“ Aruc grübelte jeden Tag, während er die Lasten im Steinbruch stemmte, über diese eine Frage nach. Er nahm nichts wahr um ihn herum. Neben der körperlichen Anstrengung zermartete er sich das Gehirn, um die Antwort zu finden, von der sein Leben abhing. In der siebten Nacht, nachdem ihn der Adler erneut gefragt hatte: „Nun hast du inzwischen erkannt warum du hier bist?“, antwortete Aruc „Beherrschung“. „Auch das ist richtig Aruc, sogar ein sehr wichtiger Punkt, aber es ist längst noch nicht alles. In der darauffolgenden Nacht antwortete Aruc „Stärke“. „Das stimmt, aber es ist noch nicht alles.“, nickte der Adler ihm in der Dunkelheit wohlwollend zu. Tagsüber schindete Aruc sich im Steinbruch, während er an nichts anderes dachte, als endlich die Lösung des Rätsels zu finden. In den kommenden Nächten versuchte er den Adler mit „Sicherheit“, „Edelmut“, „Großzügigkeit“, „Verantwortung“ zu überzeugen und bekam immer die gleiche Antwort: „Das stimmt, aber es ist noch nicht alles.“ In der zwanzigsten Nacht verlor Aruc die Geduld und flüsterte ungehalten: „Verdammt noch mal, was soll ich denn noch lernen hier. Ich muss hier raus und Eufe finden und meiner Mutter helfen.“ Der Adler fixierte ihn mit seinen schwarzen Vogelaugen und sprach, ohne seine Stimme zu verändern: „Das stimmt, aber das ist längst noch nicht alles.“ „Verdammt kannst du irgend etwas anderes von dir geben?“ Ohne ihn weiter zu beachten flog der Adler davon und lies Aruc stehen. In seiner Aufregung hatte Aruc vergessen zu flüstern. „Hei....wwwaaasss iiiisstttt Mmmaaannn“, schreckte einer der Sklaven aus dem Schlaf. Er zitterte und war so ausgemergelt, dass er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Aruc hatte mehrfach versucht ihm die schwersten Säcke abzunehmen, aber er hatte es immer abgelehnt, aus Angst vor dem Aufseher, obwohl er dem Zusammenbruch nahe war. „Schschschh....ist schon gut. Schlaf weiter, alles gut.“ Aruc legte sich zurück auf die Erde, neben die schlafenden Männer. Manche von ihnen schufteten seit Jahren im Steinbruch. Die einzige Nahrung, die ihnen zugestanden wurde, waren verwurmte Fleischabfälle, Fettstücke und zerkleinerte Innereien. Ihre Haut war grau und schlaff, ihre Gesichter eingefallen und selbst den Jüngeren unter ihnen waren fast sämtliche Haare und Zähne ausgefallen. Die meisten von ihnen hatten tiefe Narben auf dem Rücken von den Peitschenhieben, die ihnen der Aufseher regelmäßig versetzte, wenn sie vor Schwäche einen der Säcke fallen ließen oder sich versuchten ein paar Goldbrösel selbst in die Tasche zu stecken. Aruc wusste was er zu tun hatte. Er würde sich selbst und diese armen Schweine befreien. Er war nicht bis hierher gekommen, um sich von einem perversen Sklaventreiber fertig machen zu lassen und zuzusehen wie er Menschen erniedrigte und sie Stück für Stück zerstörte. Aruc erinnerte sich an Perchta und seine Kinderzeit. Er sah die Leiche des grauen Katzenjungen vor sich wie es zerfleddert im abgestandenen Wasser des Holzzubers trieb. Damals war er ängstlich und unsicher gewesen. Doch heute war es anders. Er spürte das glatte Pflanzenband um seinen Hals. Der Aufseher hatte ihn ausgelacht dafür und geschrien: „Na da hast du ja schon ein Hundehalsband um, so wie es sich für euch Viecher gehört.“ Aruc war still geblieben und hatte sich keine Gefühlsregung anmerken lassen, was den Aufseher noch mehr in Rage brachte. „Dich werde ich noch kriegen verlass dich drauf“, hatte er Aruc zugeflüstert und mit der Peitsche gedroht. Leise, so dass nur er selbst es hören konnte, antwortete Aruc: „Das werden wir ja sehen. Du wirst noch dein blaues Wunder erleben.“ Aus dem Zelt des Aufsehers drang grunzendes Schnarchen zu ihm. „Schlaf nur, so lange du es noch kannst.“
Dichte Wolken hingen über Inthorm. Der einst blühende Turmgarten von Ullren war auf Befehl Egoms von den Soldaten dem Erdboden gleichgemacht worden. Sie hatten die blühenden Goldregen und Fliederbüsche brutal aus der Erde herausgerissen und über die Zinnen in den Fluß geworfen. Von den Blumen- und Gemüsebeeten war nicht mehr als ein Haufen aufgeschütteter Erde übrig geblieben. Selbst die Eberesche lag gefällt und in Brennscheite zerschlagen im Gras. Alle Hühner waren aus ihrem Gehege verschwunden und stackten stattdessen gerupft und gesalzen auf großen Grillspießen über dem Holzkohlenfeuer der Turmküche. Egom wartete ungeduldig auf Nachricht von Malva, die seit über einer Woche mit seinen besten Soldaten unterwegs war. Er war nervös und gereizt und suchte nach Ventilen für die Wut, die in ihm brannte wie ein gefährliches Schwelfeuer, das jeden Moment ausbrechen konnte und alles was ihm in die Quere kam in seiner hemmungslosen Gier versengte. Sein Kammerdiener, der ihn seit über dreissig Jahren ankleidete und von vorne und hinten bedienen musste, hatte ihm aus Versehen ein Glas Rotwein über seine weiße Kutte geschüttet. Dafür wurde er von Egom in den Kerker geworfen und gefoltert. Er hing drei Tage und drei Nächte mit dem Kopf nach unten an einem Fleischerhaken bis ihm das aufgestaute Blut die Hirnschlagader eingedrückt hatte. Seither konnte er nicht mehr gehen, nicht mehr sprechen, nicht mehr essen. Als Egom ihn sich vorführen ließ, rannen dem Kammerdiener die Speichelfäden aus dem sabernden Mund. Sein Gesicht war zu einer schiefen Fratze verzogen. Egom wandte sich angeekelt ab und befahl, dass er im Kerker unter Ratten und Ungeziefer aufbewahrt werden sollte bis er von alleine verhungert war. Um sich von der Warterei abzulenken, beschloss Egom einem seiner Steinbrüche einen Besuch abzustatten. Das würde ihn auf andere Gedanken bringen. Er liebte den Anblick von Gold und Edelsteinen, das für seine Schatzkammern bestimmt war. Kaum hatte er in die Hände geklatscht und „anspannen“ gerufen, schon meldete ihm sein neuer Kammerdiener, dass alles zum Aufbruch bereit war. Dem Mann steckte der Schock über das grausame Schicksal seines Vorgängers so tief in den Knochen, dass er sich geschworen hatte, alles zu tun, um nur ja nicht in die Ungnade Egoms zu fallen. „So lob ich mir das“, tätschelte ihm Egom gönnerhaft den Kopf, während er sich seine Kapuze zurechtzog. Einer seiner weißen Handschuhe war zurückgerutscht und entblößte eine näßende Wunde, auf der sich eine gelbliche Kruste gebildet hatte. Seit der Flucht Eufes hatte er noch mehr gegessen als üblich und war so aufgedunsen und fett, dass es drei Dienern bedarf, die ihn in die Kutsche hieven mussten. Zwei Dutzend schwerstbewaffneter Soldaten begleiteten Egom. Der Kutscher pfiff ins Martinshorn und umgehend setzte sich die Karawane in Bewegung. Auf den Feldern um Inthorm herum, waren die Bauern noch immer mit der Heuernte beschäftigt. Als sie Egoms Kutsche erkannten, unterbrachen sie ihre Arbeit, rissen sich devot die Strohhüte vom Kopf und verneigten sich so tief, dass ihre Scheitel die Erde berührten. Egom hatte es eilig und schenkte ihnen keine Beachtung. Im gestreckten Galopp zogen die Pferde die Kutsche über den holprigen Feldweg und machten erst Halt als sie vor dem Steinbruch angelangt waren. Es war auf den Schlag zwöf Uhr Mittags. Die Sklaven knieten zusammengesunken vor den aufgeworfenen Erdhaufen über ihren Essensschüsseln und schlangen gierig halb verschimmeltes Pökelfleisch in sich hinein. Nur Aruc saß abseits und rührte nicht einen Bissen an. Er hatte die Augen geschlossen und hockte mit überkreuzten Beinen hochaufgerichtet auf einem Stein am Rande des Steinbruchs. Seit Tagen dachte er an nichts anderes als an seine Flucht und die Befreiung der Sklaven. Er spürte, dass es nicht mehr lange dauerte bis sich die Gelegenheit dazu bieten würde. Er musste nur im entscheidenden Moment bereit sein und schnell handeln. Obwohl er die angenehme Ruhe der Mittagspause genossen hatte und ihn die klappernden Holzlöffel der Sklavenarbeiter, die rythmisch in ihren Essschüsseln stocherten, müde gemacht hatten, spürte Aruc von einem Moment zum anderen eine tödliche Bedrohung, die sich ihm näherte. Instinktiv öffnete er die Augen und sah mit Entsetzen Egoms weiße Kutte, nur ein paar Schritte entfernt,vor sich in der Sonne leuchten. Aruc wurde es flau im Magen. Er durfte keinesfalls die Nerven verlieren. Der Tyrann hatte ihn noch nicht bemerkt, weil er griesgrämig damit beschäftigt war die Begrüßungsfloskeln des Aufsehers abzuschmettern. Aruc sprang auf die Füße und wuchtete sich den erstbesten Erdsack über die Schulter. Tief gebückt, Oberkörper und Kopf fast vollkommen von seiner Last bedeckt, mischte er sich unter die Sklaven, die wegen Egoms Besuch vorzeitig aufgehört hatten zu Essen und ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten.
Die Erkenntnis
Eufe verspürte weder Hunger noch Durst. Immer wieder grübelte sie über die Worte von Fonaskus nach. Er hatte gesagt, dass sie eine Verwandlung vor sich hatte, so wie ein Schmetterling. Erschöpft vielen ihr schließlich die Augen zu. Sie versank in einen tiefen Schlaf. Im Traum sah sie sich mit Ullren im Turmgarten unter der Eberesche sitzen. Alles war genauso wie an ihrem letzten gemeinsamen Nachmittag. Ullren begann für sie zu singen. Zuerst konnte sie die Worte nicht verstehen, bis sich klare Sätze formten:
Du lernst vom Baum des Lebens die Weisheit und den Tanz. Phönix aus Garten Eden zeigt deiner Stimme Glanz. Nun schau auf zu den Wolken und wisse wer ich bin. Immram.
Als Ullren geendet hatte, verschwand sie ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Turmgarten verblasste. Eufe schlug die Augen auf. Sie fühlte sich eigentümlich getröstet. Leise summte sie das Lied, dass ihr Ullren viele Male vorgesungen hatte, wenn sie sich unbeobachtet wussten. Unwillkürlich begann Eufe zu singen: „Phönix aus Garten Eden zeigt deiner Stimme Glanz ...“ Mit einem Sprung war Eufe auf den Beinen. Natürlich, warum war sie nicht schon eher darauf gekommen. „Fonaskus, Fonaaaaaassskussss. Ich habe das Rätsel gelöst.“ „Ist ja schon gut. Deshalb brauchst du nicht so zu schreien“, beschwerte sich der Phönix, der über ihr auf der Schaukel aufgetaucht war. „Du sollst mich lehren zu singen Fonaskus.“ Der Phönix wippte leicht auf der Schaukel hin und her. „Nicht ganz meine Schöne. Ich soll dir den Glanz deiner Stimme zeigen.“ Mit einem Satz landete er vor Eufes Füßen: „Nimm deinen Rucksack und steig auf meinen Rücken.“ Eufe folgte ihm widerspruchslos und Fonaskus flatterte auf die Schaukel. Zuerst begannen sie langsam hin und her zu schwenken, dann immer schneller und schneller. Es kribbelte in Eufes Magen und sie wurde schwindelig. „Halt Fonaskus, halt, mir ist schwindelig. Ich falle herunter“. Der Phönix nahm keine Notiz von Eufes Protest und begann höher und höher zu schaukeln. Eufe krallte sich an seinem glatten Gefieder fest. Die Schaukel hatte fast ihren höchsten Punkt erreicht. Eufe spürte einen ziehenden Schmerz in ihren Eingeweiden. Instinkitv zwickte sie die Augen zusammen und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Ihr Herz raste. Ein gellender Hilfeschrei blieb ihr in der Kehle stecken, als die Schaukel sich nicht wie erwartet überschlug, sondern zunehmend an Höhe verlor bis sie zum Stillstand kam. Als Eufe vorsichtig die Augen aufschlug war der Käfig mit samt der Schaukel und Fonaskus verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Sie stand ganz alleine auf einer Bergspitze. Ihrem ersten Impuls folgend begann Eufe laut zu rufen: „Fonaskus, Fonaskuuuuuuussssss wo bist du?“ „Fonaskus, Fonaskuuuuuuussssss wo bist du?“, schallten die Worte ein zweites mal zu ihren Ohren. Verdutzt rief Eufe: „Aruuuuuucccccc, Faaaaallllaaaaaddaaaaaa, Lieeeeessssliiiiiii, Kaaaaarrrliiiiiiii“. Erneut schien jemand ihre Rufe in der gleichen Reihenfolge zu wiederholen. Eufe drehte sich einmal um die eigene Achse, um herausfzufinden wer sie nachahmte, konnte aber niemanden entdecken. Außer ihr war kein Mensch zu sehen. In ihrem Rücken lag das Tal und vor ihr ragte eine riesige Felswand in den Himmel. Wenn sie sich leicht nach vorne beugte, tat sich ein schwindelerregender Abgrund vor ihr auf. Noch bevor sie wusste wie ihr geschah, schwebte Fonaskus über ihr und landete zu ihren Füßen. Kurz angebunden befahl er: „Sing ein Lied“. Eufe musste nicht lange überlegen, weil sie nur ein Lied auswendig kannte. Fonaskus strenger Gesichtsausdruck ließ keine Widerrede zu. Mit zitternder Stimme begann Eufe zu singen: „Ein Weg liegt vor dir, ein Weg der führt dich weit“. Eufe stutzte. Wieder schien jemand, der sich in der Felswand verborgen hatte, ihren Gesang nachzuahmen. „Dem Ruf des Himmels folgst du ganz ruhig und frei und leicht.“ Die Stimme aus dem Nichts blieb hartnäckig. Eufe begann Gefallen an dem Spiel zu finden und legte ihre ganze Ausdrucksskraft in den Gesang. Als sie geendet hatte und auch die Stimme des Berges den letzten Satz erschallen ließ, lächelte sie Fonaskus an. „Hast du gehört, was für eine schöne Stimme mir antwortet? Wem mag sie nur gehören?“ Eufes seegrüne Augen sprühten vor Eifer. Ihre Wangen waren erhitzt und sie strahlte über das ganze Gesicht. „Dir natürlich“. „Wie mir natürlich?“ „Die Stimme des Berges ist dein Echo.“ Eufe schaute ungläubig in Fonaskus blaue Augen, in deren glänzenden Pupillen sich ein hochgewachsenes, graziles Mädchen spiegelte. Dichte, wellige Haare umrahmten ihr schönes Gesicht mit exotisch schräg stehenden Augen, die an eine Wildkatze erinnerten. Sie trug lange Leinenhosen und Hemd und einen weiten Umhang, der an mehreren Stellen Löcher aufwies. Eufe blickte langsam an sich hinunter und erkannte, dass es ihr eigenes Spiegelbild war. Zögernd hob sie den Kopf und schaute wieder durch Fonaskus Pupillen in ihre eigenen Augen. Der Paradiesvogel verneigte sich huldvoll vor ihr. „Mit deinem Gesang bringst du die Sonne zum Scheinen. Du hast die Macht die Menschen durch deine Stimme zu verwandeln. Nütze sie.“ Kaum hatte er geendet ging der Phönix vor Eufes ungläubigen Augen in Flammen auf. Als nichts als seine Asche übrig war, sah Eufe unter den Rauchschwaden einen neuen Phönix aufsteigen und der Sonne entgegenfliegen. Lange blickte sie ihm nach. Fonaskus hatte ihr ihre Schönheit und Gabe gezeigt. Es gab keine Worte für die Dankbarkeit, die Eufe empfand. Sie verspürte nur einen unstillbaren Drang für Fonaskus zu singen. Ohne zu wissen woher die Worte und die Melodie zu ihr kamen, stellte sie sich an den Rand des Abgrunds und sang:
Schlafender Phönix, du sollst nicht erwachen
Du musst in den Flammen verbrennen und dich über die Asche erheben.
Du sollst fliegen.
Du bringst neues Leben, wenn du zur Sonne steigst, geschmeidig in den blauen Himmel. Nichts kann dich verletzen. Vogel des Paradieses.
Die Bergwand hallte wider von dem Echo ihrer mächtigen Stimme und ihrem ersten Lied. „Willkommen Herr, Willkommen Majestät“, bemühte sich der Aufseher Egom wohlwollend zu stimmen und umschwänzelte ihn wie ein Schoßhündchen. „Was verschafft uns die Ehre ... so unverhofft in den Genu...“. „Schweig endlich du Narr“, unterbrach ihn Egom rüde. „Bring mich zum Gold, aber ein bisschen hoplahopp. Und wehe dir, du bestiehlst mich. Ich weiß wieviel diese Mine abwirft, verlass dich drauf.„ Der Aufseher vollzog mehrere tiefe Bücklinge bis ihm das Blut in den Kopf schoss und er leuchtete wie ein reifer Granatapfel. „Selbstverständlich Majestät, natürlich, bitte ... hier entlang.“ Nach dem ersten Schrecken ausgerechnet Egom im Steinbruch zu begegnen, hatte Aruc sich schnell wieder gefasst. In all den Jahren, die er in Inthorm gelebt hatte, war er Egom höchstens fünf mal begegnet. Er glaubte nicht das Egom ihn erkennen würde, trotzdem durfte er kein Risiko eingehen. Wenn Egom sich an ihn erinnern konnte, war es um ihn geschehen, so viel war sicher. Verächtlich schaute er den beiden Männern hinterher, die in der Barracke verschwanden, in der das Gold aufbewahrt wurde, bevor es nach Inthorm kam. Das Betreten des Lagers war den Sklaven strikt verboten. Nur der Aufseher selbst durfte sich dort aufhalten. Aruc ließ seine wachen Augen im Steinbruch wandern, während er sich bemühte, sich möglichst im Hintergrund zu halten, um nicht Gefahr zu laufen, dass ihn einer der Soldaten aus Inthorm erkannte. Zu Arucs Erstaunen waren es lauter fremde Gesichter. Egom musste sie nach ihrer Flucht aus Inhtorm in Steinern angeworben haben. Aruc grinste innerlich. Die Elitegarde der Alteingesessenen war immer noch hinter ihnen her. Da können sie lange suchen. Die Soldaten standen gelangweilt am Rand des Steinbruchs und erzählten sich gegenseitig Witze. Zumindest hörte man sie von Zeit zu Zeit schallend lachen. Sie kümmerten sich nicht im geringsten, um die Minenarbeiter, weil sie in einem Haufen ausgemergelter Sklaven keine Gefahr sahen. Blitzartig wurde Aruc klar, dass er wahrscheinlich nie wieder so eine Chance wie jetzt bekommen würde. Der Aufseher war mit Egom beschäftigt. Vor ihrer Nase hatten sie den perfekten Transport: die herrschaftliche Kutsche seiner Majestät. Und ihre Fußketten waren entfernt, damit sie arbeiten konnten. Kurzentschlossen schulterte Aruc zwei volle Erdsäcke und ging damit auf eine Gruppe von Sklaven zu, die die Erde in kleine Haufen siebten. Er ließ einen der Säcke von seinem Rücken rutschen und flüsterte: „Folgt mir, wir nehmen Egoms Kutsche und lassen diesen verdammten Steinbruch hinter uns. Während ich die Soldaten ablenke, rennt ihr zur Kutsche.“ Aruc hielt ihrem erschrockenen Blick stand und lächelte ihnen siegessicher zu. Ohne weitere Erklärungen setzte er seinen Weg gelassen fort und kniete vor ein paar Schürfern nieder. „Folgt mir, nie mehr bekommen wir eine bessere Gelegenheit zu fliehen. Während ich die Soldaten ablenke, stürmt ihr die Kutsche.“ Bevor er ihnen Zeit gab zu überlegen, hatte Aruc sich schon einen Goldbrocken aus einem der Erdsiebe geschnappt und schritt geradewegs auf die Soldaten zu. „Hey da, habt ihr schon mal so einen Goldbrocken gesehen?“, warf Aruc seinen Köder aus. „Was willst du Jung? Los scher dich zurück zu den anderen“, fuhr ihn einer von Egoms Leibwächtern grob an. Aruc stellte sich direkt vor ihn und hielt seine Hand auf. Das Gold glitzerte im Sonnenlicht. „Woher hast du das?“, herrschte ihn der Soldat an. „Los gib ihn mir“. Mittlerweile waren die anderen Soldaten aufmerksam geworden und scharten sich um Aruc, der das Gold an den Soldaten weitergab. In kürzester Zeit brach ein Tumult unter den Männern aus, weil jeder von ihnen einen Blick auf das Gold werfen wollte und insgeheim hoffte es sich unbemerkt in die Tasche schieben zu können. „Hey wo ist das Gold?“. „Gib ihn mir“. „Los du Fatzke, rück das Gold raus, sonst gibst Schläge“. Aruc hatte sich mittlerweile diskret aus dem Wirrwarr zurückgezogen und rannte in die Mitte des Steinbruchs. „Folgt mir. Jetzt oder nie“, schrie er den Sklaven entgegen und hetzte zur Kutsche. Die sechs Pferde waren noch immer angeschirrt und hatten Fressäcke um den Hals. Der Kutscher saß schnarchend auf seinem Bock. Mit einem Sprung war Aruc neben ihm und riss ihm den Zügel aus der Hand. Verdattert erwachte der Kutscher und fiel vor Schreck rücklings in den Dreck. Aruc sprang auf den Rücken eines der Pferde, zog ihnen die Hafersäcke über den Kopf und trieb sie mit lautem Johlen an. „Hohohoooo, jiiiiiihhhhaaaaaaaaa“. Endlich waren auch die Sklaven aus ihrer Totenstarre aufgewacht. Sie ließen alles stehen und fallen, Siebe, Säcke, Schaufeln und hetzten wie von Sinnen hinter Aruc her. Aruc zügelte die Pferde etwas, um den erschöpften Männern die Gelegenheit zu geben aufzuspringen. Jetzt waren auch die Soldaten aufmerksam geworden und schrien entgeistert: „Halt, Haltet sie.“ Doch die Sklaven hatten es bereits auf die Kutsche geschafft, außer einem. Es war der ausgemergelte Sklave, der sich halsstarrig dagegen wehrte, dass Aruc ihm half seine Säcke zu tragen. Aruc wusste, dass er ohne seine Hilfe auf der Strecke bleiben würde. Er öffnete das Geschirr seines Pferdes und preschte ohne die Kutsche zurück in den Steinbruch. Genau in dem Moment sah Aruc wie Egom, so weit es sein Leibumfang zuließ, gefolgt von dem händeringenden Aufseher aus der Barracke eilte. Die Pfeile der Soldaten zischten haarscharf an Arucs Kopf vorbei. Einer der Pfeile hatte den Sklaven am Fuß erwischt. Er heulte auf wie ein verendendes Tier. In vollem Galopp beugte sich Aruc über den Pferderücken und packte den Sklaven an beiden Armen. Mit einem lauten Schrei wuchtete er den Mann, der nicht viel mehr wog, als zwei Sack Erde, vor sich auf das Pferd. Aruc hatte das Gefühl, dass seine Schultern sich aus den Gelenken kugelten. „Hooooohhhhooooo jjjjiiiiihhhaaaaaa“, spornte er sein Pferd an und preschte in rasendem Galopp hinter der Kutsche her bis er sie überholt hatte. Einer der Sklaven hatte sich auf den Bock gesetzt und lenkte das Gefährt mit erstaunlicher Sicherheit über den holprigen Feldweg. Aruc wusste, dass sie nur eine Chance hatten den Soldaten zu entkommen, wenn sie es in den Wald schafften. Querfeldein galoppierte er über das Feld, gefolgt von der bis zum zerbersten beladenen Kutsche. Der verwundete Sklave hing bewusstlos vor Aruc auf dem Pferdehals. Schon hörten sie hinter sich die Soldaten herandonnern, als Aruc die entscheidende Idee hatte. Zu ihrer Rechten lag ein See dicht an der Grenze zum Wald. „Los, alle Mann aussteigen. Springt ins Wasser und atmet durch ein Schilfgras. So gewinnen wir Zeit und sie jagen der leeren Kutsche hinterher.“ Aruc packte den verwundeten Sklaven und ließ sich mit ihm rücklings vom Pferd ins Wasser stürzen. Die restlichen Männer folgten ihm blindlings. Aruc riss mehrere hohe Schilfgräser aus und verteilte sie unter ihnen. „Untertauchen“, gab er das Kommando und hielt sich und dem verwundeten Minenarbeiter unter der Wasseroberfläche ein Schilfgras an die Lippen. Über ihnen trommelten die Hufen ihrer Verfolger über das Feld. Sie hatten nichts von Arucs List bemerkt und jagten weiter der Kutsche hinterher.
Als er sicher sein konnte, dass sie außer Sichtweite waren, tauchte Aruc auf. In Todesangst liefen die Minensklaven auseinander und versuchten sich zu verstecken. Nur der Sklave, dem er das Leben gerettet hatte, blieb bei ihm. Er hielt Aruc eine zitternde, schmutzige und verschrammte Hand entgegen: „Ich heiße Burk. Ich danke dir.“ Aruc nickte ihm zu. „Wir müssen weiter. Noch sind wir nicht in Sicherheit.“ Insgeheim dachte Aruc, dass er sich schon genauso wie Fallada anhörte. Aruc stützte Burk, der neben ihm aus dem Bach humpelte. Die beiden Minenarbeiter, die Aruc an seinem ersten Tag vor dem Peitschenhieb des Aufsehers bewahrt hatte, waren stehen geblieben und halfen ihm. „Ich bin Erik. Und das ist mein Sohn Larch. Wir kennen uns aus hier im Wald. Es gibt eine Hütte nicht weit von hier. Sie ist so gut unter den Bäumen versteckt, dass man sie selbst wenn man vor ihr steht kaum wahrnimmt. Dort können wir uns verstecken.“
Blumai stürmte die Treppe hinauf. Von weitem rief sie: „Ullren, Ullren, sieh nur mein neues Kleid für den Ball.“ Ohne sich die Zeit zu nehmen vorher anzuklopfen, öffnete sie atemlos die Tür zu Ullrens Zimmer. „Ull...“ blieb ihr das Wort im Halse stecken, so überwältigt war sie von Ullrens Verwandlung, die sich ihr lächelnd zuwandte. Ivy hatte Ullren geholfen ein Kleid aus funkelnder mitternachtsblauer Kastanienseide zu nähen, dass sich in langen fließenden Falten an Ullrens schlanken Körper schmiegte. Ein durchsichtiger Tuchstoff, der schimmerte wie die filigranen Flügel von Libellen, bedeckte Ullrens Dekoltée und Schultern. Ihre hellblonden Haare hatte sie zu einem dicken Seitenzopf geflochten. Um die Stirn trug sie einen feinen Kranz aus blauvioletten Veilchen. Ullrens schöne Lippen hatte Ivy mit Brombeerpulver geschminkt, dass sie in ein paar Spritzer Nussöl aufgelöst hatte, ihre Augenlider und Wangen hatte sie mit feinstem Amethyststaub gepudert. „Wuuuuuaaauuuuu, du siehst aus wie eine Waldkönigin.“ Blumai war so hingerissen von Ullrens Anblick, dass sie auf der Schwelle stehen geblieben war und sie fasziniert anhimmelte. Ein Leuchten ging von Ullren aus, dass weder dem Kleid, noch der Schminke zu verdanken war, sondern von Innen heraus kam. Sie lächelte Blumai strahlend an und klatschte in die Hände: „Wie wunderschön du bist Blumai. Eine Schmetterlingsprinzessin.“ Zärtlich zupfte sie ihr den Blütenkranz aus weißen Myrthen zurecht und nahm sie bei der Hand. Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer in dem Duir, Sun und Ivy bereits auf sie warteten. Sun konnte es sich nicht verkneifen und pfiff anerkennend durch die Zähne. Ausdruck für seine höchste Anerkennung. Duir küsste den beiden galant die Hand, während Ivy die Tränen zurückhalten musste, so stolz war sie auf ihr blühendes Töchterchen und tief bewegt von Ullrens Erscheinung. Nach ihrer Unterhaltung am Amethystsee war Ullren wie ausgewechselt. Sie begleitete sie täglich zur Morgenstille und hatte begonnen im Canticum Harplira zu lernen. Dieses Instrument gehörte zu den Traditionellsten in Walden und war eine Mischung aus Harfe und Leier. Außerdem war sie Stammgast in der Werdener Bibliothek geworden und besuchte bis spät in die Nacht hinein Vorlesungen im Colegium. Duir küsste Blumai die Hand und rezitierte teatralisch: „Folgt mir meine schönen Maiden. Der Ball darf nicht länger seines schönsten Schmuckes harren. Die Sterne erblassen in eurem Schein.“ Sun kniete sich nieder und küsste leidenschaftlich den Boden zu ihren Füßen: „Ich liebkose die Erde auf der ihr wandelt holde Engel von Walden. Nun folgt uns zum Tanz.“ Laut lachend verließen sie das Kosi und reihten sich in die Scharen von Baumsängern ein, die sich auf dem Weg ins Astrum befanden, wo der alljährliche Sommernachtsball stattfand. Statt der üblichen Beleuchtung durch die Sonnenlichtmagnetstrahler, waren die Kosis und Bäume mit bunten Laternen beleuchtet, die wie unzählige Sterne in der Nacht leuchteten. Die Brücken, die die einzelnen Baumkuppeln verbanden, waren mit dreihreihigen Lichtergirlanden dekoriert und auf den Seen schaukelten Hunderte von Gondeln, die mit brennenden Kerzen beladen waren. Im Astrum waren die Zweige Ygdars und der Himmelssteig über und über mit weißem Flieder und Traubenhyazinthen geschmückt. Die Luft war geschwängert von schwerem, süßen Blütenduft. Ganz Walden lag in einem Festrausch. Ullren konnte sich nicht satt sehen an der atemberaubenden Pracht der Baumstadt, dessen Lichtermeer mit den Sternen am Firmament wetteiferten. Lautes Stimmengewirr erfüllte die laue Mittsommernacht bis sich eine einzelne Gestalt aus der Menge löste und in die Mitte der Bühne schritt. Die Baumsängerin war in einen karmesinroten Umhang gehüllt. Ihre rotblonden Haare hatte sie mit reich verzierten Rubinnadeln hochgesteckt, die im Kerzenlicht glitzerten. Sie breitete die Arme aus, legte ihren Kopf in den Nacken und begann mit glockenklarer Stimme zu singen:
Ein Weg liegt vor dir. Ein Weg der führt dich weit. Dem Ruf des Himmels folgst du, ganz ruhig und frei und leicht.. Im Schutze meiner Hände, dein Sein, dein Werden.. In mir bist du geborgen, die Liebe ist mit dir. Du lernst vom Baum des Lebens, die Weisheit und den Tanz. Phönix aus Garten Eden zeigt deiner Stimme Glanz. Am Wasser unserer Mutter erkennst du deiner Selbst. Nun schau auf zu den Wolken und wisse wer ich bin. Immram
Ullren stand ganz still. Gebannt starrte sie auf die Baumsängerin, die sich verbeugte und den begeisterten Applaus entgegennahm. In dem allgemeinen Jubel war nur Ivy aufgefallen, dass eine Veränderung mit Ullren vorgegangen war. „Was ist Ullren, was hast du? Machst du dir Sorgen um Aruc und Eufe?“ „Nein, es ist nur, ich kenne dieses Lied. Meine Mutter hat es für mich gesungen, als sie schwanger mit mir war. Sie ist bei meiner Geburt gestorben und mein Vater hat es mir später beigebracht, damit ich etwas haben sollte, dass mich immer an sie erinnerte.“ Ivy schaute bestürzt in Ullrens wasserblaue Augen, die in Tränen schwammen. „Komm mit mir Ullren, komm.“ Behutsam zog sie Ivy aus der Menge fort und führte sie zur gegenüberliegenden Seite des Astrums weit genug von der Bühne entfernt, um ungestört zu sein. Ivy erfasste beide Hände Ullrens. Sichtlich darum bemüht ihre Innere Aufruhr unter Kontrolle zu bringen fragte sie schließlich: „Wie hieß deine Mutter Ullren?“ Ullren wischte sich die Tränen aus den Augen und suchte fragend Ivys Blick, während sie antwortete: „Linde, der Name meiner Mutter ist Linde.“
Linde´s Tagebuch lag aufgeschlagen auf der Bettstatt, die Urs mittlerweile mit einer neuen Matraze ausgestattet hatte. Dafür hatte er Moos gesammelt und es über dem Feuer getrocknet. Den Hanfstoff der alten Matte hatte er feinsäuberlich abgezogen, im Bach mit Seifenkraut gewaschen und mit den Moosfladen ausgestopft. Als Kissen hatte er einen alten Leinensack, den er in der Hütte gefunden hatte, mit duftender Zitronenmelisse bis zum Rand gefüllt und mit Pflanzenstengeln verschnürt. Beim Zubettgehen sog er den beruhigenden Duft in sich auf und schlief tief und fest bis zum nächsten Morgen. Obwohl er immer noch keinen Hinweis gefunden hatte, der ihm den Verbleib von Linde und ihrer Tochter Malva erklären konnte, hatte er beschlossen zu warten. Er hatte die Hütte von oben bis unten mit frischem Wasser aus dem Bach geschrubt, und einen Schaukelstuhl aus abgebrochenen Ästen und Rindestücken gezimmert. Darin verbrachte er seine Abende, während Alda auf seiner Schulter saß. Meistens beschäftigte er sich mit dem Flechten von Matten und Körben, die er aus dem Flachs anfertigte, der wild im Wald wuchs. Über seinem Bett hatte er ein selbstgebasteltes Regal angebracht, auf dem er alles Brauchbare, das er auf seinen Erkundungsgängen fand, aufbewahrte: Ein Bärenzahn, eine Wurzel, die aussah wie ein Miniaturbaum und ein faustgroßer gesprenkelter Rosenquarz. Vor dem Kamin standen mehrere Körbe voller Pilze, Beeren und Nüße, die er im Wald gesammelt hatte. Den Tisch schmückte eine Schale mit frischgepflückten Lavendelblüten. Mit einem Stein, den er selbst geschliffen und geschärft hatte, hatte er sich den langen Rübezahlbart abrasiert. Außerdem hatte er einen weiteren Leinensack, den er in der Hütte gefunden hatte, zerschnitten und sich eine neue Hose und Hemd daraus gemacht, die er mit einer zugespitzten Astnadel und Nesselstengel zusammengenäht hatte. Jeden Morgen wusch er sich von Kopf bis Fuß im Bach vor der Hütte, kleidete sich an und machte sich auf den Weg in den Wald. Nachmittags hackte Urs vor der Hütte Brennholz. Er summte leise vor sich hin und Alda umschwirrte ihn fröhlich. „Wer hätte das gedacht, welch stattlicher Mann unter dem Bart und den Schmutzkrusten zum Vorschein kommen würde.“ Urs schaute sie verlegen an und lächelte zum ersten Mal, seit sie sich getroffen hatten. „Bei dem Lächeln wird mir richtig warm ums Herz. So ein Bild von einem Mann aber auch“, trietzte sie ihn weiter. Obwohl Aldas Tonfall scherzend war, hatte sie nicht übertrieben. Urs war braungebrannt, seine lichtblauen Augen hatten einen lebhaften Ausdruck angenommen, seine dunklen Haare fielen ihm dicht und wellig bis auf die breiten Schultern. Die einfachen Speisen aus den Gaben des Waldes, körperliche Arbeit und tägliche Wanderungen, hatten seine Muskeln gestählt und seine ehemals graue, schlaffe Haut gestrafft und ihr einen gesunden Glanz verliehen. Seit er in der Hütte auf Papier und Feder gestoßen war, hatte Urs außerdem begonnen Gedichte zu schreiben, die er Alda vorlas, wenn sie sich still auf seine Schulter setzte.
„Kühl und frisch benetzt der Tau die Blätter. Goldener Schein erhellt den dunklen Morgenwald. Ein Wanderer steht sinnend an der stillen Lichtung und horcht dem Wachen der Natur. Ein Specht klopft da, ein Käfer raschelt, ein Wurm kriecht langsam aus dem Erdenreich. Der Wanderer läßt sein Bündel sinken und fühlt sich eins mit schöner Pracht. Er summt, er singt, er lacht, er schwelgt. Er findet Eintracht durch der Schöpfer Macht.“
Im Spiegel der Vergangenheit
Malva lag noch immer bewusstlos auf dem Karren, vor dem Bayard gespannt war. Lovan saß auf dem Rücken des stattlichen Rotfuchs und sang:
Katum Kata, Itulasu, Maaaaaaa, Oooooo, Tatikatu, Patasilatisu.
Nach einer Weile verstummte Lovan. Seit Malva ohnmächtig in ihre Arme gesunken war, hatte sie für sie gesungen, um den Heilungsprozess zu beschleunigen. Der schmale Höhlengang hatte sich verbreitert zu einem Berghohen Gewölbe aus Kristall. „Ich danke dir, dass du mir zu Hilfe geeilt bist Bayard. Ich hätte dich nicht gerufen, wenn es nicht unbedingt notwendig gewesen wäre.“ Bayard warf seinen Kopf zurück und antwortete: „Du weißt doch, dass ich dich nie im Stich lassen würde.“ Lovan klopfte ihm liebevoll auf den Hals. „Ja das weiß ich mein Freund. Wie könnte ich das vergessen.“ Der Hengst war seit ihrer Kindheit immer zur Stelle, wenn sie ihn brauchte. Seit dem Tag, als sie sich kaum Siebenjährig im Wunderhain verlaufen hatte, weil sie wissen wollte, was außerhalb Waldens lag. Bayard hatte sie dort gefunden und sicher zurück nach Walden zu Ivy und Duir gebracht. Malva war zu sich gekommen und stöhnte leise. Sie versuchte ihre flatternden Lider zu öffnen. „Wo bin ich?“ Lovan ließ sich von Bayards Rücken gleiten, legte ihren Zeigefinger auf seine weichen Nüstern und signalisierte ihm, ihr gemeinsames Geheimnis nicht zu verraten. Malva sollte glauben, dass Bayard ein gewöhnliches Pferd sei und aus den Reihen der Soldaten stammte. Sie beugte sich über Malva und antwortete ihr. „Wir sind in den Steiner Höhlen. Wir sind von Höhlenmännern angegriffen worden. Du bist dabei am Bein verletzt worden. Halte dich still, damit die Wunde verheilen kann.“ Malva schaute ungläubig in die ernsten Augen Lovans: „Wo sind meine Soldaten?“ „Ich denke die meisten von ihnen sind umgekommen“. Malva biss die Zähne zusammen. Der Schmerz in ihrem Oberschenkel war kaum erträglich. Mühsam richtete sie sich auf, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Lovan versuchte sie sanft, aber entschieden daran zu hindern „Du musst dich schonen. Jede Anstrengung kann die Blutung wieder auslösen.“ „Ich weiß selbst was gut für mich ist“, fauchte Malva sie an wie eine Katze, die sich bedroht fühlte. Trotzdem legte sie sich wieder hin und versuchte das Bein ruhig zu halten. Sie musste so schnell wie möglich wieder zu Kräften kommen und die Jungfrau finden. Nur das zählte. Sie durfte nicht mit leeren Händen zu Egom zurückkehren. Fiebrig tastete sie nach dem Kristall in ihrer Tasche. Leer. Nichts. Er musste ihr beim Sturz vom Pferd aus der Tasche gefallen sein oder die Untersbergerin hatte ihn ihr gestohlen. Es gab nur einen Weg das herauszufinden. „Wir müßen umkehren. Sofort. Ich habe etwas Wichtiges verloren.“ „Das wäre Selbstmord. Wir können nicht zurückgehen in das Revier der Höhlenmänner“, wehrte Lovan entschieden ab und schwang sich erneut auf Bayards Rücken, der sich willig in Bewegung setzte. Malva biss sich auf die Lippen. Sie empfand nicht eine Spur von Dankbarkeit für ihre Rettung. Sie beschloss bei der erst besten Gelegenheit zu fliehen und den Stein wieder in ihre Gewalt zu bringen selbst wenn sie dafür die Frau töten musste, die sie gerettet hatte. Sie konnte sich Gefühlsduselei jetzt nicht erlauben. Statt zu protestieren fragte Malva lauernd: „Wie war dein Name?“ Lovan schaute auf Malva nieder und antwortete ihr ohne mit der Wimper zu zucken „Magdalena“.
Jalam richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und fasste sich an den Hinterkopf. Seine Haare waren verklebt von verkrustetem Blut, dass aus dem verschorften Loch geronnen war, das er mit seinen Fingern ertastete. Schlagartig kam seine Erinnerung zurück. Er hatte versucht Lovan zu finden und war dabei über die Leiche eines geköpften Soldaten gestürzt. Er konnte sich noch an einen Schlag auf den Hinterkopf erinnern, das war alles. Danach war es schwarz um ihn geworden. Er war nicht mehr in der roten Höhle. Um ihn herum war dichter Urwald. Wer hatte ihn hierhergebracht? Jalam horchte. Er hörte das glockige Plätschern von Wasser, dass über Steine sprudelte. Obwohl ihm jedes einzelne Glied seines Körpers höllisch weh tat, begann er in die Richtung zu humpeln aus der das Plätschern kam. Nach wenigen Metern erreichte er ein schier undurchdringliches Netz aus sich ineinander verschlingender Lianen. Jalam bückte sich und fand etwa einen Meter über dem Boden einen schmalen Durchgang. Auf allen Vieren robbte er sich auf die andere Seite. Was ihn dort erwartete verschlug ihm den Atem. Minutenlang kniete er auf einem samtigen Teppich aus saftgrünem Vierblattklee und versuchte mit dem Verstand zu begreifen, was er sah. So musste der Himmel aussehen, falls es einen gab. Genau so, wahrscheinlich hatte er den Sturz und den Schlag auf den Kopf nicht überlebt. Vor ihm lag ein silbrig glänzender See, in dem sich Delphine tummelten, die in hohen Pirouetten aus dem Wasser sprangen und übermütige Schnatterlaute von sich gaben. Handtellergroße Schmetterlinge die in allen Farben des Regenbogens in der Sonne gleißend leuchteten segelten durch die Luft und ließen sich auf Blumen nieder, die so hoch waren wie Bäume und mit ihren apoplektischen Farben und Formen alles übertraffen was Jalam sich je in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Sie wiegten sich wie träumende Tänzer im Wind in ihren prachtvollen Roben aus purpurvioletten, lichtgelben, scharlachroten, Lavendel- und Korallfarbenen Blüten. Der Himmel über ihm war ultramarinblau. So etwas unglaublich Schönes konnte es nur im Paradies geben. Auf einem hohen Felsen lag eine Wildkatze. Ihrer imposanten Größe nach zu schließen und unzähligen karminrot schwarzgerandeten Sprenkeln auf dem goldgelben Fell, war es ein Jaguar. Während Jalam sich noch überlegte, ob er sich auch im Paradies vor einem Jaguar in Schutz nehmen musste, richtete die Wildkatze ihren Blick auf Jalam. Mit einem Sprung war der Jaguar auf den Beinen und brüllte gebieterisch. Jalam bewegte sich nicht von der Stelle. Er hatte insgeheim beschlossen, dass ihm im Paradies nichts passieren konnte. Schließlich war er schon tot. Mit einem Sprung hechtete der Jaguar ins Wasser und schwamm behende ans Ufer, wo er sich so kräftig schüttelte, dass die unzähligen Wassertröpfchen, die sich aus seinem Fell lösten, wie feiner Sprühregen über Jalam niedergingen. „Willkommen in meinem Reich. Ich bin Uba“, stellte er sich vor indem er sich galant verbeugte. Jalam stutzte: „Wieso in deinem Reich? Ich bin doch im Himmel, ich meine im Paradies. Wo sonst könnte es so aussehen wie hier.“ Uba schmunzelte: „Nein, du bist noch nicht im Paradies. Das hier ist Ubalandia“. „Aber wie bin ich hierher gekommen?“ Jalam begriff nichts mehr. „Ich habe dich vor den Kormoranern gerettet. Ein Pferd muss dich mit seinen Hufen am Hinterkopf erwischt haben. Als sie mit den Soldaten fertig waren und bemerkten, dass du noch am Leben warst, wollten sie dich auf ihre Hakenarme spießen. Wenn ich nicht zufällig vorbei gekommen wäre, dann wärst du jetzt wirklich im Paradies.“ Jalam war sprachlos. Als er sich wieder gefasst hatte, fragte er Uba besorgt: „Hast du eine Frau bei ihnen gesehen, mit langen zimtblonden Haaren und dem schönsten Gesicht, dass du je gesehen hast?“ Uba schüttelte den Kopf. „Nein, eine schöne Frau wäre mir aufgefallen“, fügte er grinsend hinzu. Jalam zögerte, die Worte wollten ihn nicht über die Lippen kommen: „Und“... er räusperte sich nervös... „unter den Leichen. War eine Frau unter den Toten?“ Uba streckte sich, so dass seine Sehnen und Muskeln unter dem glänzenden Fell sichtbar wurden und schüttelte den Kopf. Jalam atmete erleichtert auf. Dann lebte sie noch. Lovan lebte. Es musste ihr gelungen sein zu fliehen. Amo sei gepriesen. Ich danke dir Amo. Jalam stutzte. Spontan hatte er sich zum ersten Mal seit dem Tod von Laka an Amo gewandt. „Ich muss meine....eh... Frau finden“, Jalam betonte dabei das Wort meine als würde Lovan allein dadurch zu ihm zurückkehren. Uba leckte sich über die breiten Pranken und sinnierte: „Ja, ja was die schönen Frauen nicht alles mit einem machen...“. An Jalam gewandt: „Mich würde interessieren was ihr überhaupt in den Höhlen zu suchen hattet. Sie scheinen sich in letzter Zeit zu einem beliebten Ausflugsort für schöne Frauen und Mädchen entwickelt zu haben.“ Uba verzog seine Schnauze zu einem Grienen. „Wie meinst du das?“ „Vor Kurzem habe ich in Grünhglüh ein wunderschönes Mädchen kennengelernt und ihre Freunde. Eufe war ihr Name.“ „Wo ist sie? Ihretwegen sind wir in die Höhlen gegangen“, unterbrach ihn Jalam aufgeregt. „Wo finde ich sie?“ „Nicht so hastig mein Lieber. Ich habe sie bei einem Dreitagefest im Reich der Glühmandln getroffen. Sie waren aber nur auf der Durchreise und wollten weiter.“ „Ich muss sie finden, unser aller Heil hängt davon ab. Ich muss sie vor der Schwarzen Sonne finden, sonst wird Egom sie töten und mit ihr alles Wahre, Schöne und Gute.“ Uba duckte sich und knurrte, seine grünen goldgesprenkelten Wildkatzenaugen blitzten gefährlich. „Solange ich Herrscher von Ubalandia bin, wird niemand das Wahre, Schöne und Gute zerstören und schönen Mädchen nicht ein Haar krümmen.“
Lovan, Malva und Bayard waren seit Tagen in der Kristallhöhle unterwegs. Um sie herum gab es nichts als glatte, glänzende Wände aus purem Kristall, die selbst im Halbdunkel der Höhle glitzerten wie ein Meer aus Sternen. „Das kann doch nicht ewig so gehen. Irgendwann müßen wir doch hier rauskommen“, ließ sich Malva mürrisch vernehmen. Sie musste noch immer von Bayard im Leiterwagen gezogen werden, weil sie selbst nicht gehen konnte. Lovan war abgestiegen und bückte sich nach Etwas. Während sie sich aufrichtete, drehte sie sich zu Malva um und schwenkte ein rechteckiges Stück Stoff vor Malvas Augen. „Das hier ist ein Fetzen aus meinem Umhang, den ich zerrissen habe, um deinen Oberschenkel zu verbinden“, schüttelte Lovan den Kopf. „Das heißt wir sind die ganze Zeit im Kreis gegangen.“ „Rattendreck und Mäusepisse“, fluchte Malva. „Ich muss hier raus.“ Sie versuchte aufzustehen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiel sie zurück in den Leiterwagen. Lovan legte ihr beruhigend die Hand auf die Stirn: „Hab noch etwas Geduld. Die Wunde ist noch nicht verheilt.“ „Ich habe seit Tagen nichts anderes als Geduld. Wie lange sollen wir denn noch im Kreis gehen“, schnauzte Malva sie ungehalten an. Lovan blieb gelassen und schaute sich stattdessen aufmerksam in der Höhle um. Soweit ihr Blick reichte, sah sie eine glatte, geschlossene Kristallwand. Es gab weder eine Unebenheit noch ein Loch, nur blaues Licht, dass aus den Tiefen des Kristalls zu strömen schien. Sie konnte nicht den geringsten Hinweis auf einen anderen Weg entdecken, der sie diesmal nicht im Kreis zurück an ihren Ausgangspunkt führen würde. Malva hatte sich wieder auf ihre Bettstatt im Leiterwagen gelegt, die Lovan notdürftig aus den Resten ihres Umhangs für sie gerichtet hatte. Sie schaute Malva verstohlen von der Seite an und konnte sich beim besten Willen keinen Reim auf diese Frau machen. Sie hatte das Kommando über mehrere Hundert Soldaten getragen und war offensichtlich von Egom damit beauftragt die Jungfrau aus dem Turm zurückzubringen. Dabei machte Malva auf Lovan eher den Eindruck eines verletzten, aufsässigen Kindes als einer erwachsenen Frau. Bayard blähte seine Nüstern und schüttelte sich, das seine schwarze Mähne nur so um seinen rostroten Kopf flog. „Was ist Bayard, was hast du gesehen? Zeig es mir“, flüsterte Lovan ihm leise ins Ohr. Sie wusste, dass sie Malva nicht trauen durfte und vermied es den wahren Grund ihres Aufenthalts in den Höhlen preiszugeben. Je länger sie glaubte, dass Lovan eine gewöhnliche Bürgersfrau aus Unterbergen war, die sich in den Höhlen vor ihren Verfolgern versteckt hatte, umso besser. Bayard setzte sich in Bewegung und trabte etwa 200 Meter durch den Höhlengang bis er stehen blieb und begann mit seinem rechten Huf zu scharren. Malva hatte die Augen geschlossen und schlief oder sie stellte sich zumindest schlafend. Lovan konnte nichts Besonderes an der Kristallwand entdecken. Bayard blieb hartnäckig und rührte sich nicht von der Stelle. Lovan musterte die Kristallwand genauer. Glatt, glänzend und doch, etwas war anders. Sie hatte zwar noch nicht herausgefunden, was es war, aber irgendetwas war anders. Bis es Lovan wie Schuppen von den Augen fiel. Das Licht, natürlich das blaue Licht war an dieser Stelle etwas heller, was nur bedeuten konnte, dass die Kristallwand hier weniger massiv war. Sie zog ihr Vulkansteinmesser, das Jalam ihr geschenkt hatte, aus der Tasche. Kaum hatte sie die Kristallwand damit berührt, gab sie nach und eine Öffnung in Form eines Portals tat sich vor ihnen auf. Lovan umarmte Bayard und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf sein Ohr als sie ihm zuflüsterte: „Danke mein Schöner. Du bist der Beste.“ Malva war inzwischen aufgewacht. „Wie hast du das gemacht?“, rief sie erstaunt. Um gleich darauf mißtrauisch hinzuufügen: „Du bist keine Untersbergerin. Woher kommst du? Warum bist du in den Höhlen?“ Lovan wusste das Malva nicht dumm war. Außerdem empfand sie eine Lüge ohnehin als Erniedrigung. „Mein Name ist Lovan. Ich bin Hathore der Baumsänger von Walden. Ich suche die Jungfrau aus dem Turm, um sie vor Egom zu retten .“ Malva versetzte es einen Stich. Sie bemühte sich jedoch sich nichts anmerken zu lassen. Obwohl sie noch nie etwas von den Baumsänger gehört hatte, hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen als zu fragen. Lovan ergriff Bayards Zügel und hintereinander betraten sie das Innere des Kristalls. Blaue Nebelschwaden wehten wie ruhelose Geister vor ihren Gesichtern. Als sich der Dunst verflüchtigt hatte, blickten sie in unzählige Spiegel, die sie auf groteske Weise reflektierten. Im ersten Spiegel wurden sie zu Zwergen geschrumpft, im Zweiten nahmen sie die Ausmaße von Riesen an, im Dritten fehlten ihnen die Köpfe, im nächsten die Beine, jeder einzelne der Spiegel zeigte ihnen ein verformtes Abbild. Bayard tänzelte nervös von einem Bein auf das andere. Lovan war stehen geblieben. Tausende von Lovans, Bayards und Malvas blickten ihr aus den Spiegeln entgegen. Malva hatte sich im Leiterwagen aufgesetzt und brach das Schweigen: „Was zum Teufel ist das hier?“ „Ein Spiegelkabinett“, antwortete Lovan nachdenklich: „Es zeigt uns Illusionen über uns selbst.“ „Ehrlich gesagt hatte ich noch nie die Illusion keinen Kopf zu haben“, warf Malva trocken ein. Lovan musste unwillkürlich lachen. So patzig Malva sich auch benahm, sie hatte Sinn für Humor. „Es ist wohl eher im übertragenen Sinn zu verstehen“, schmunzelte Lovan. „Aha, na das ist ja immerhin etwas, ein übertragener Kopf ist besser als gar keiner“, geiferte Malva wütend, weil sie sich bloßgestellt fühlte. Obwohl Malva keine Gelegenheit ausließ garstig zu sein, fühlte Lovan sich zu ihr hingezogen. Während Bayard mit dem Leiterwagen neben ihr her trottete, versuchte Lovan sich mit Malva zu unterhalten: „Warum arbeitest du für Egom?“ „Das geht dich nichts an. Kümmere dich gefälligst um deine Angelegenheiten.“ „Das sind meine Angelegenheiten, solange du versuchst die Jungfrau zu ihm zurückzubringen.“ Malva schaute sie verächtlich an. „Wenn du glaubst, dass du mich daran hindern kannst, nur weil ich verletzt bin, dann spar dir die Mühe. Ich werde nicht nur versuchen die Jungfrau zu ihm zurückzubringen, ich bringe die Jungfrau zu ihm zurück. Ich habe keine andere Wahl.“ „Es gibt immer eine andere Wahl“, warf Lovan ein. „Was weißt du denn von meinem Leben.“ „Nichts, aber du kannst mir etwas davon erzählen“, ermunterte Lovan sie. Ablehnend wandte Malva ihren Kopf ab und presste die Lippen verbittert aufeinander. Sie wusste ja selbst nichts von ihrem Leben. Und der einzige Mensch, der ihr etwas darüber erzählen hätte können, lag verwest in Egoms Kerker und hatte sie ihrer eigenen Mutter beraubt. Lovan sollte sich besser vor ihr in Acht nehmen, sie hatte nichts mehr zu verlieren und nicht die geringsten Skrupel ihren Auftrag auszuführen. Sie würde so lange warten bis sie wieder gehen konnte und der clevere Rotfuchs sie durch das Spiegelkabinett geführt hatte und dann würde sie die Baumsängerin aus dem Weg räumen. Während Malva ihren Gedanken nachhing, war Lovan aufmerksam vor einem Spiegel stehen geblieben, deren Oberfläche leer blieb, obwohl sie unmittelbar davor stand.
„Wenn sie es geschafft haben den Kormoranern zu entkommen, dann sind sie in die Kristallhöhle geraten. Von dem Ort an dem die Hakenmänner ihnen aufgelauert haben, gibt es nur diesen einen Weg“, erklärte Uba bestimmt und schlug Jalam mit seinem Schwanz aufmunternd auf die Schulter. „Keine Sorge, wir finden sie, verlass dich drauf. Ich kenne mich aus in den Höhlen.“ Jalam lächelte ihm dankbar zu. Er war krank vor Sorge um Lovan. „Folge mir“. Schon war Uba hinter dem Lianennetz verschwunden und Jalam beeilte sich den Jaguar einzuholen. Majestätisch setzte Uba eine Pfote vor die andere. Sein Fell glänzte wie Rotgold in der Sonne. So massiv seine Körperstatur war, so leichtfüßig bewegte er sich, um nicht einen Halm zu krümmen oder versehentlich auf einen Käfer zu treten. Jalam überlegte sich, dass Uba die perfekte Mischung aus Kraft, Macht und Feingefühl darstellte. „Ist es weit zu den Höhlen Uba?“ „Nein, wir sind fast da. Allerdings wirst du eine kleine Klettertour auf dich nehmen müßen.“ Kaum hatte Uba zu Ende gesprochen, als sich vor ihnen ein atemberaubender Abgrund auftat. „Der Eingang zu den Höhlen ist dort unten.“ Jalam konnte nicht einen Felsvorsprung ausmachen, an dem er sich hätte festhalten können. Die Steilwand fiel ohne jegliche Unebenheit senkrecht bergab. Selbst ungeachtet seiner Beinverletzung, war das hier alles andere als ein Zuckerschlecken auch für einen klettererprobten Baumsänger, der seit Jahren unter den Adlern auf dem Kelter Felsen lebte. „Na das nenn ich mal einen anständigen Spaziergang“, versuchte Jalam seine Bedenken mit Galgenhumor zu zerstreuen. Uba peitschte mit seinem Schwanz hin und her. „Wir können auch einen Umweg nehmen, allerdings wird uns das etwa drei Tage kosten.“ „Oh nein, so viel Zeit haben wir nicht. Ich komme schon irgendwie unten an. Zur Not im freien Fall“, witzelte Jalam. Uba war dicht vor ihm stehen geblieben und begann Jalams Beinwunde zu lecken, die unter dem zerfetzten Hosenbein deutlich sichtbar war. „Hey, das kitzelt“. „Halte gefälligst still“, ließ sich Uba nicht aus der Ruhe bringen und leckte Jalams Wunde so lange bis sich das entzündete Fleisch geschlossen hatte und nicht ein Anzeichen mehr darauf hindeutete, dass Jalam dort von Sikuls Scheren verletzt worden war. „Uuuwwwauuuu, wie hast du das gemacht Uba?“ „Noch nie was von Jaguarmedizin gehört?“ Statt ihm eine Antwort zu geben machte Jalam einen doppelten Salto aus dem Stand und federte ihn gekonnt auf beiden Beinen ab. „Das klappt besser als vorher. Keine Spur mehr von Schmerz.“ „Werde nicht zu übermütig und bleib dicht hinter mir“, bremste Uba unbeeindruckt seine Begeisterung. „Die Steilwand hat es in sich, verlass dich drauf.“ Uba duckte sich und begann den Abstieg. Schritt für Schritt tastete er sich auf der Steilwand nach unten. Gleich einer Fliege, die sich mit ihren Beinen auf glatten Flächen festsaugte, krallte Uba sich mit seinen Pranken in den Stein. Auf allen Vieren versuchte Jalam sich mit Hilfe seines Kometsteinmessers auf der Felswand abzustützen. Zu seinem eigenen Erstaunen, klappte diese Technik hervorragend und er blieb kaum hinter Uba zurück. Zügig legten sie die Hälfte der Felswand zurück. Als Jalam erneut ausholte, um mit seinem Messer Halt auf dem glatten Stein zu finden, rutschte die Klinge ab. Er drohte abzurutschen und versuchte erneut das Messer in den Stein zu schlagen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte mit einem gellenden Schrei kopfüber in die Tiefe. Während Jalams Geist Bilde aus seinem Leben wie auf einen Faden gereiht vor ihm abspulte und er sich darauf gefasst machte beim Aufprall zu zerschellen, spürte er im Bruchteil einer Sekunde, dass er am Kragen gepackt wurde und gleich darauf wie eine Schaukel durch die Luft baumelte. Unter sich sah er mehrere Hundert Meter tief den Abgrund klaffen. Uba war ihm hinterher gehechtet und hatte ihn in seinem Maul abgefangen. Jalam blieb nichts anderes übrig, als sich so ruhig wie möglich zu verhalten und sich von Uba bis vor den Höhleneingang tragen zu lassen. Kaum hatte der Jaguar ihn gemächlich abgesetzt, sprang Jalam auf die Beine und drehte sich zu Uba um. „Das war nicht nötig. Ich wäre schon irgendwie runter gekommen.“, erklärte er beschämt mit hochrotem Kopf. „Ohne Zweifel, so viel ist sicher“, nickte der Jaguar gelassen und leckte sich die wunden Pfoten, die doppeltes Gewicht über die Steilwand getragen hatten. Jalam fühlte sich ebenso undankbar und dumm wie ein aufgeblasener Fünfzehnjähriger. „Ich danke dir Uba, den Sturz hätte ich nicht überlebt“, beeilte er sich dem Jaguar zu versichern. „Schon gut, du hast dich besser gehalten als ich dachte. Ich kenne niemanden, der es gewagt hätte, mir über die Steilwand zu folgen.“ Uba klopfte Jalam anerkennend mit dem Schwanz auf den Rücken und zwängte sich daraufhin durch einen Felsspalt. Jalam folgte ihm. Im Inneren der Höhle war es stockdunkel. Sekundenlang konnte Jalam nicht die Hand vor Augen sehen bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Uba überquerte vor ihm einen schmalen Grat. Unter ihnen blubberte und brodelte eine dampfende Masse. „Das ist flüssig gewordener Stein“, erklärte Uba dem Baumsänger. „Nimm dich in acht Jalam. Der Fluss ist so heiß, dass jeder noch so kleine Tropfen schwerste Verbrennungen verursacht.“ Jalam begann vorsichtig hinter Uba über den Grat zu balancieren. Er wusste, dass der geringste Fehltritt ihm das Leben kosten würde. Es war unerträglich heiß und stickig. Die Dämpfe brannten ihm in den Augen und in der Kehle. Konzentriert setzte er einen Fuß vor den anderen. Seine Arme hatte er waagerecht neben sich ausgebreitet, um besser das Gleichgewicht halten zu können. Starker Hustreiz überkam ihm. Aprupt blieb Jalam stehen und versuchte seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Trotzdem gelang es ihm nicht zu verhindern, dass seine Lunge die verbrauchte Luft durch den Kehlkopf presste. Jalam begann gefährlich zu straucheln, hielt sich jedoch tapfer aufrecht. Uba drehte sich besorgt zu ihm um. „Noch etwa Hundert Meter und wir haben es geschafft.“ Jalam biss die Zähne zusammen. „Lovan braucht dich, du schaffst es“, flüsterte er sich selbst Mut zu und ging langsam weiter. Uba war inzwischen auf der anderen Seite angekommen und beobachtete angespannt jede Bewegung von Jalam. Wenn Jalam das Gleichgewicht verlieren würde, konnte er nichts mehr für ihn tun. Mittlerweile hatte sich Jalam daran gewöhnt die scharfen Dämpfe einzuatmen und sein Husten nachgelassen. Dafür begannen seine Augen zu tränen. Unbeirrt ging er weiter. Etwa fünfzig Meter trennten ihn noch von Uba. Jalams Augen tränten so stark, dass er kaum noch etwas sehen konnte. Mit angehaltenem Atem blieb er erneut stehen und rieb sich mit der rechten Hand die brennenden Augen. Seinen linken Arm hielt er weiterhin ausgestreckt neben sich, um damit die Balance zu halten. Er vermied es in den brodelnden Steinfluss unter sich zu blicken. Plötzlich spürte er, wie ihn ein kalter Luftzug im Nacken streifte. Von Weitem hörte er einen Schrei. Es war der Schrei einer Frau. Für einen Moment setzte sein Herz aus. Es war Lovans Schrei. Sie brauchte ihn, sie war in Gefahr. Jalam hatte jede Vorsicht vergessen. Er wollte nur so schnell wie möglich auf die andere Seite des Abgrunds gelangen, um ihr zu Hilfe zu eilen. Nach zwei hektischen Schritten geriet er ins Straucheln. Jalam kippte mit dem Oberkörper nach hinten und konnte im letzten Moment verhinden, dass er abstürzte, indem er sich mit aller Kraft nach vorne warf. Er stieß einen gellenden Schrei aus und statt in die Tiefe gerissen zu werden, nutzte er den Schwung und landete mit einem Salto Mortale mit beiden Füßen auf Ubas Schwanz. Der Jaguar jaulte auf. Jalam nahm sich nicht die Zeit sich zu entschuldigen und rief aufgebracht: “Uba hast du den Schrei gehört? Das war Lovan. Ich muss zu ihr. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.“ Jalam knurrte gereizt: „Erstens könntest du dich zumindest entschuldigen, wenn du mir schon auf dem Schwanz herumtrampeln musst und zweitens hat hier niemand geschrien außer dir.“ „Es tut mir leid Uba. Aber ich weiß ganz genau, dass ich Lovan gehört habe. Ich spüre es. Sie ist in Lebensgefahr.“ Uba sah die Verzweiflung in Jalams Augen. „Schon gut folge mir“.
Nachdem Lovan, Bayard und Malva an Hunderten von Spiegeln vorbeigekommen waren, die ihr Abbild verzerrt reflektiert hatten, gab es mit einem Mal nur noch Spiegel um sie herum, die leer blieben. Auch wenn sie sich direkt davor stellten. Lovan strich nachdenklich über die glatte Fläche eines riesigen Spiegels aus Kristallglas, der so groß war wie zwei nebeneinanderstehende Bürgerhäuser. Nichts geschah. „Ich habe es endgültig satt mich von euch und den verdammten Spiegeln an der Nase herumführen zu lassen“, schrie Malva erbost und stemmte sich schnaufend aus dem Leiterwagen, in dem Bayard sie zog. „Los sorgt endlich dafür, dass wir hier herauskommen. Oder ich kümmere mich selbst drum.“ Zum ersten Mal spürte sie keinerlei Schmerz mehr. Es gab also keinen Grund warum sie noch länger warten sollte. Malva ergriff Bayard am Zügel und versuchte ihn hinter sich herzuziehen. Der Rotfuchs rührte sich nicht von der Stelle und begann nervös mit den Hufen zu scharren. Malva kochte vor Wut. Je mehr Bayard sich sträubte, desto heftiger riss sie an seinem Zügel. „Genug jetzt“. Lovan war zwischen sie getreten und schaute Malva mit flammenden Augen an. „Mit Gewalt erreichst du nichts. Absolut nichts. Hörst du?! Wir werden den Weg aus dem Spiegelkabinett finden, indem wir die Ruhe bewahren.“ Malva war so überrumpelt von Lovans Zornesausbruch, dass sie sich widerstandslos den Zügel aus der Hand nehmen ließ. Lovan klopfte Bayard, dem der Schaum aus dem Maul tropfte, beruhigend auf den Bauch und sang leise:
„Im Zauberwald steht hoch der Mond. Sein Schein ist unser Weiser. Der Silbersee ist Spiegel uns zu freiem Leit und Wege.“
Lovan hielt plötzlich inne und schnalzte mit den Fingern: „Ich weiß wie wir hier herauskommen. Das hier ist kein Spiegelkabinett, sondern ein Spiegellabyrinth. Wir brauchen nur einen Spiegel.“ „Hmmm, na wo bekommen wir jetzt nur einen Spiegel her?“ Scheinbar ratlos schaute Malva sich im Spiegellabyrinth um und grinste dabei hämisch. Lovan überhörte Malvas herausfordernde Bemerkung. „Wir müßen einen der Zerrspiegel vor einen der Spiegel stellen, der unser Bild nicht reflektiert.“ „Ja und, was soll das bringen?“ Malva hatte nicht begriffen worauf Lovan hinauswollte und ärgerte sich innerlich über ihre Begriffstutzigkeit. „Durch die Reflektion des Zerrspiegels krümmen wir die Achse des toten Winkels und erkennen so nicht nur das wahre Bild und wenn mich nicht alles täuscht auch den Ausgang aus dem Labyrinth.“ Obwohl Malva mißtrauisch erwiderte: „Hmm das möchte ich erstmal sehen“, war sie tief beeinruckt von Lovans Bildung. Während sie selbst ohne ihre laiblichen Eltern aufgewachsen war und sich mit der gemeinen Erziehung gewöhnlicher Zigeuner zufrieden geben musste, war Lovan von ihren Eltern sicher mit Liebe und Weisheit überschüttet worden. Der Stachel der Eifersucht bohrte sich tief in ihr Herz. Lovan war mit Bayard inzwischen im Höhlengang zurückgegangen, bis sie vor einer Gruppe kleinerer Zerrspiegel ankamen. Vorsichtig entfernte Lovan mit Hilfe ihres Kometsteinmessers einen der Spiegel von der Wand und hievte ihn in den Leiterwagen. Während sie an der Seite von Bayard an die Stelle zurückging an der Malva sie erwartete, sang Lovan laut: So gehen wir hin und freuen uns, auf Sonnenlicht und Tauenluft. Im Zauberwald steht hoch der Mond. Bald dämmert uns der Morgen. „Bitte hilf mir den Spiegel aus dem Wagen zu heben“, forderte sie Malva freundlich auf. „Wenn es sein muss“, gab Malva ihr genervt zur Antwort und begann gemeinsam mit Lovan den Zerrspiegel vor den großen Kristallspiegel zu tragen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Malva den zierlich geschnitzten Knauf des Kometsteinmessers, der aus Lovans Tasche ragte. Kaum hatten sie die beiden Spiegel einander gegenüber gestellt, fuhr ein Blitz durch die Höhle. Wie durch Zauberhand war die Spiegelwand verschwunden. Stattdessen tat sich vor ihnen ein Mondlicht beschienener Wald auf. „Wir haben es ge...“. Die Worte erstarben Lovan auf den Lippen. Der Knauf des Kometsteinmessers stakte aus ihrem Rücken. „Ich habe es dir ja gesagt, dass ich mich nicht aufhalten lasse“. Malva beobachtete befriedigt wie Lovans Oberkörper auf den Hals von Bayard sackte. Fieberhaft begann Malva in Lovans Taschen nach dem Kristall zu kramen. Bitter enttäuscht musste sie jedoch feststellen, dass die Baumsängerin den Edelstein nicht an sich genommen hatte. „Das hätte ich mir ja denken können. Du bist natürlich viel zu gut dazu“, raunte sie Lovan hasserfüllt ins Ohr und ließ von ihr ab. „Deinen sturren Gaul kannst du behalten“. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte Malva so schnell es ihr verletzter Oberschenkel zuließ, in den Wald hinein. Bayard wieherte schrill. Er hatte nicht einschreiten können, weil er mit seinem Körper Lovan stützte. Er leckte Lovan mit seiner Zunge über den Kopf und versuchte sie aufzuwecken. Die Glieder der Baumsängerin hingen leblos von ihrem Körper. Der Rotfuchs spürte ihren schwachen unregelmäßigen Herzschlag. „Wach auf Lovan, wach auf“, immer wieder stupste er sie mit seinen Nüstern an. „Lovan, wach auf.“ Als Bayard nahe daran war die Hoffnung aufzugegeben, kam Lovan zu sich. Keuchender Husten erschütterte ihre Lungenflügel. Lovan schrie auf vor Schmerz. Drohende Schatten versuchten ihr erneut das Bewusstsein zu rauben. Ihr Atem ging rasselnd. „Leg dich in den Karren Lovan, versuch es. Du schaffst es“, beschwor Bayard ihre verbliebenen Lebensgeister. Lovan rang nach Luft und krallte sich an Bayards Mähne fest. Ihre Beine knickten unter ihr zusammen. Lautlos schrie sie: „Amo ich brauche dich.“ Mit übermenschlicher Kraft schaffte sie es sich an Bayards Bauch festzuhalten und bis zum Leiterwagen zu hangeln. Mit einem gellenden Schmerzensschrei ließ sie sich hineinfallen. Danach verlor Lovan das Bewusstsein.
Bayard galoppierte ohne Unterlass durch den Wald. Seine Hufen dröhnten rytmisch auf die nachtkalte Erde, die im Mondlicht schwach leuchtete. Von Zeit zu Zeit drehte der Rotfuchs sich um und vergewisserte sich, dass Lovan noch atmete. Er spürte das ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Lovan lag bäuchlings im Leiterwagen. Ihr Messer steckte noch immer in ihrem Rücken. Er musste sie so schnell wie möglich nach Walden bringen. Seine Fähigkeit in weniger als einem Augenaufschlag an einen anderen Ort zu gelangen, funktionierte nur, wenn er alleine war und niemanden bei sich hatte. So sehr er genau jetzt von Schnelligkeit abhing, musste er den Weg nach Walden auf herkömmliche Weise zurücklegen. Bayard schnaubte und galoppierte schnell wie der Wind. So schnell, dass der Leiterwagen nicht den Boden berührte und Lovan zumindest die heftigen Erschütterungen des Gefährts erspart blieben, das über Stock und Stein ratterte.
Als der Morgen graute war Bayard dampfend und atemlos im Wunderhain angelangt. Es flirrte und glitzterte zwischen den weißstämmigen Birken. Er hörte lautes Flügelschlagen und den Schrei eines Vogels über sich. Unwillkürlich blieb Bayard stehen und sah Antar, den König der Adler, vor sich auf einem umgestürzten Baumstamm landen. „Sei gegrüßt Bayard. Ich bringe sie nach Walden.“ Antar hatte seine Flügel zu voller Spannweite ausgebreitet: „Ich habe Schwierigkeiten in der Nacht zu sehen, deshalb habe ich eure Spur verloren, sonst wäre ich euch schon früher zu Hilfe geeilt“, beeilte er sich zu erklären. „Ich habe Jalam versprochen auf Lovan zu achten.“ Bayard tänzelte nervös von einem Bein auf das andere. „Sie ist sehr schwach und hat viel Blut verloren.“ Bayard wieherte laut. Kurz darauf schritt aus dem Gestrüpp hocherhobenen Hauptes ein Hirsch auf sie zu. Ohne ein Wort zu verlieren spießte er die bewusstlose Lovan an ihrem Kleid aus unverwüstbarer Kastanienseide vorsichtig auf sein Geweih, um sie fürsorglich auf Antars Rücken zu setzen. Danach riss er einen dicken Hanfstrang ab, der über einem Zweig hing und band Lovan damit fest. Auf diese Weise verhinderte er, dass sie herunter fallen konnte. Bayard wieherte schrill: „Flieg Antar.“ Der Riesenadler hatte sich in die Lüfte erhoben und nahm Kurs auf Walden. Bayard blickte den Beiden besorgt hinter her und verschwand kurz darauf hinter dem Hirsch im Dickicht. Antar holte weit mit seinen Schwingen aus und pflügte durch die Luft wie ein siebenmastiges Segelschiff. Schon erkannte er Ygdars mächtige Baumkrone unter sich. Es war früh am Morgen und der Großteil der Waldener Baumsänger hatte sich zur gemeinsamen Morgenstille versammelt. Als Antar im Astrum vor ihnen landete und sie Lovan erkannten, die leblos auf seinen Rücken gebunden war, ging ein Aufschrei durch die Menge. Duir, Ullren und Ivy gefolgt von Sun und Blumai rannten zu Antar. Duir gelangte als erster zu ihm und setzte sich hinter die bewusstlose Lovan auf den Rücken des Adlers: „Flieg drei Baumkronen nach rechts, dort wo du die Brücke siehst und bring uns ins Canticum.“ Ivy, Ullren und seinen Kindern, die fassungslos vor ihnen stehen geblieben waren, nickte er kurz zu und schon waren sie zwischen den Blätterdächern ihrem Gesichtskreis entschwunden. Ullren war weiß wie die Wand geworden, als sie die verletzte Lovan erkannte. Ivy zitterte. Mit sichtlicher Mühe versuchte sie ruhig zu bleiben. Sie ergriff Ullren und Blumai bei der Hand und rief Sun zu: „Komm, wir folgen ihnen ins Canticum.“ Wie ein Lauffeuer breitete sich in Walden die Nachricht von Lovans Rückkehr und ihrem Zustand aus. Bald pilgerten Menschentrauben aus allen Ecken und Enden der Baumstadt zum Canticum, wo Lovan von den Canticas behandelt wurde. Mit geübten Händen hatten sie ihr das Messer behutsam aus dem Rücken gezogen und einen Wundverband mit einer Salbe aus Ringelblumen, Kamille, Blutwurz, Spitzwegerich und Nadelbaumharz gemacht. Lovan lag auf eine weiche Kautschukmatte gebettet neben dem Springbrunnen im Gras. Zwölf Canticas hatten einen Kreis um sie gebildet und begannen zu den Klängen von mehreren Harfen und Geigen überirdisch schön zu singen. Antar wich nicht von Lovans Seite. Ullren, Ivy, Sun und Blumai gelangten als Erste ins Canticum und ließen sich neben Lovan ins Gras fallen. Bald war der Musiktempel zum Bersten gefüllt mit Waldenern, die sich auf den Boden setzten und sich an den Händen hielten, um ihr durch die konzentrierte Energie einer Menschenkette neue Lebenskräfte zu spenden. Die Stimmen der Canticas hallten durch den Amphitempel. Ullren kniete im Gras. Sie hatte ihren Blick dem Himmel zugewandt und wiederholte immer wieder, so leise, dass niemand außer ihr die Worte verstehen konnte: „Amo bitte heile die Wunde meiner Schwester. Sie darf nicht sterben.“ Duir hatte Ivy beruhigend den Arm um die bebenden Schultern gelegt. Sun und Blumai hielten sich schweigend an den Händen. Außer den wundervollen Gesängen der Canticas, heiterem Vogelgezwitscher und dem friedlichen Summen von Bienen herrschte absolute Stille im Canticum. Viele Stunden vergingen bevor die Canticas aufhörten zu singen und sich entfernten. Darlim, die Vertreterin Lovans und Mitglied des Hathorenrats, trat vor die Menge und erklärte: „Lovan ist schwer verletzt. Das Messer hat ihr Herz getroffen. Wir helfen ihr am allermeisten, wenn wir zuversichtlich unser Tagwerk verrichten und in Dankbarkeit und Freude an ihre Genesung denken.“ Ullren rührte sich nicht von der Stelle. Sie würde ihre Schwester nicht alleine lassen. Während die Waldener sich langsam erhoben und das Canticum verließen, setzte Ullren sich dicht vor Lovan und bettete ihren Kopf behutsam in ihren Schoß. Zärtlich legte sie ihr die Hände auf Stirn und Augen und küsste sie auf beide Wangen.
Die Verwandlung
Jalam hastete hinter Uba durch die verwinkelten Höhlengänge. Er konnte an nichts anderes denken als an Lovan. Kein Tag am Adler Horst war vergangen an dem er nicht an sie gedacht hatte. Doch seit er sie wieder getroffen hatte, war ihm der Gedanke unerträglich ohne sie weiterleben zu müßen. Gleißendes Licht schlug ihnen entgegen. Jalam bedeckte sich für einen kurzen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er um sich herum nichts als glitzernde Kristalle. „Wo sind wir Uba? Bist du sicher, dass sie hier ist?“ „Ja, ganz sicher. Sie kann nur in die Kristallhöhle gelaufen sein.“ Uba sprintete weiter. Jalam rannte tapfer hinter ihm her. Von Weitem sah Uba etwas auf dem Boden liegen. Als er näher kam, erkannte er das es ein Stoffetzen war. Er nahm ihn ins Maul und trug ihn zu Jalam, der keuchend versucht hatte sein Tempo zu halten. „Das ist ein Stück Stoff aus Lovans Umhang. Sie war hier“, rief Jalam atemlos. „Sag ich doch“, knurrte Uba, weil er es hasste, wenn an seinem Wort gezweifelt wurde. Ohne sich weiter um Jalam zu kümmern, rannte er weiter. Obwohl der Jaguar ein erstaunliches Tempo an den Tag legte, blieb Jalam eisern an seiner Seite. Nach einem Sprint von etwa 500 Metern stoppte der Jaguar unvermittelt und deutete mit dem Kopf auf die Kristallwand. „Hier ist der Durchgang.“ „Durchgang wohin?“, wollte Jalam wissen. „In das Spiegellabyrinth und von dort in den Silberwald“. Uba stellte sich direkt vor den Kristall und berührte ihn mit seinem Schwanz. Das Portal öffnete sich und sie gelangten in das Spiegellabyrinth. Jalam starrte verdutzt auf die verzerrten Spiegelbilder, die sie dort empfingen. „Und wie finden wir hier Lovan?“ „Lass mich nur machen“, gab Uba ihm kurz angebunden zur Antwort. Überall an den Wänden waren lückenlos Zerrspiegel angebracht und Jalam wurde schwindelig von den ständig wechselnden Reflektionen in allen nur erdenklichen Variationen, die aus ihnen groteske Geschöpfe machte. Auf eigentümliche Weise bereiteten sie ihm Unbehagen, weil er überlegte, dass er im Grunde trotzdem sich selbst vor Augen hatte, auch wenn ihn sein Spiegelbild noch so boshaft anglotzte. Zwischen dem Wust aus Spiegeln gähnte ein Stück blanke Felswand. „Sie hat das Rätsel gelöst“, murmelte Uba in seine Barthaare hinein. „Welches Rätsel?“ Jalam war es leid keine anständigen Auskünfte von Uba zu bekommen. „Kannst du dich vielleicht ein bisschen klarer ausdrücken“, herrschte Jalam den Jaguar grob an. Uba hob seinen Kopf und schaute Jalam ruhig in die Augen. „Du solltest wissen, dass dich Ungeduld nicht weiter bringt Jalam.“ Der Baumsänger senkte betroffen den Kopf und nickte. „Komm ich zeige dir etwas“, forderte Uba ihn auf. Der Jaguar brach mit seinen Tatzen einen weiteren Spiegel aus der Wand und trug ihn im Maul mit sich. Jalam folgte dem Jaguar tiefer in das Spiegellabyrinth. Außer der Tatsache, dass die Spiegel leer blieben, anstatt ein verzerrtes Abbild von ihnen wiederzugeben, konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken, bis sie vor einem Spiegel stehen blieben, der gegenüber der durchgehenden Spiegelwand aufgestellt war. Sein Glas war zersprungen. Uba ließ den Spiegel aus seinem Maul gleiten und stellte ihn neben dem kaputten Spiegel gegenüber der Spiegelwand auf. Im selben Augenblick durchzuckte ein Blitz das Labyrinth und vor ihnen öffnete sich die Wand hinter der der Silberwald lag. Im fahlen Mondlicht konnten sie die Spuren eines Pferdes erkennen, dass einen Karren hinter sich herzog. Sie führten nach Osten. Einzelne Fußspuren, der Größe nach zu schließen von einer Frau, führten in die entgegengesetzte Richtung in den Wald. „Das müßen Lovans Spuren sein Uba.“ Ohne die Antwort des Jaguars abzuwarten lief Jalam seinen Blick starr auf den Boden gerichtet in den Wald hinein. Diesmal musste Uba sich beeilen, hinter ihm herzukommen. „Hast du es aufgegeben die Jungfrau aus dem Turm zu suchen?“, wollte Uba wissen, als er ihn eingeholt hatte. „Nein habe ich nicht. Aber vorher muss ich Lovan in Sicherheit bringen. Ich habe sie einmal im Stich gelassen. Ein zweites Mal passiert mir das nicht.“
Es schüttete wie aus Kübeln, so dass Urs kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Trotzdem hatte er es sich nicht nehmen lassen, seine tägliche Runde im Wald zu machen, um nach Hinweisen zu suchen, die ihn zu Linde und Malva führten. Alda saß auf seiner Schulter im Schutz der breiten Krempe des Strohuts, den Urs sich vor einigen Tagen selbst geflochten hatte. Es roch nach nasser Erde, Laub und Holz. Obwohl Urs und Alda auf ihrer täglichen Wanderung sonst von zwei neugierigen Eichhörnchen begleitet wurden, ließen sich die Beiden heute nicht blicken. Nicht einmal der Buntspecht hackte an seinem Häuschen. Urs hielt sein Gesicht dem Regen entgegen und fühlte wie die kalten Tropfen prickelnd auf seine Haut nieder prasselten. Selbst wenn er wieder mit leeren Händen in die Hütte zurück kommen würde, er fühlte sich zufrieden hier im Wald. „Sieh nur Urs“. Alda hatte ihr trockenes Plätzchen auf seiner Schulter verlassen und flog in den dichten Wald hinein. „Was denn, ich kann nichts besonderes sehen“. Trotzdem folgte Urs dem Schmetterling ins Dickicht. Alda war inzwischen auf einem Vogelbeerbusch gelandet und wartete auf ihn. Als Urs näher kam sah er, dass der Busch das Dach einer niedrigen Waldlaube war. In der Mitte des regengeschützten Platzes gab es eine kleine Bank aus einem umgefallenen Baumstamm und eine aus Hanf geflochtene Tischplatte, die mit dicken Pilzen bewachsen war und von mehreren aufgeschichteten Steinen getragen wurde. Ein Bourgonvillestrauch mit dunkelroten Blüten rankte sich am Dach der Laube empor. Dort wo seine Wurzeln sich unter der Erde verzweigten, hatte jemand einen Kreis mit kleinen flachen Steinen angeordnet. Urs bückte sich, um einen der Steine aufzuheben. Da er nichts besonderes an ihm entdecken konnte, legte er ihn an seinen Platz zurück und schaute sich ratlos um. Alda war wieder auf seine Schulter geflogen und streichelte Urs mit einem ihrer Flügel an der bartstoppeligen Wange: „Grab ein Loch, da wo der Steinkreis ist“, wies sie ihn an. „Wozu denn?“ „Ich habe das Gefühl, dass du dort etwas finden wirst“. „Na gut, wenn du meinst“. Urs ließ sich auf die Knie nieder und begann mit bloßen Händen zu graben. Da die Erde nass und weich war, hatte er binnen weniger Minuten ein relativ tiefes Loch gegraben. „Siehst du nichts“. Urs machte sich daran die Grube zuzuschütten. „Halt nicht so voreilig Urs. Ich glaube du mußt tiefer graben und versuchen bis zu den untersten Wurzeln vorzudringen.“ „Was soll denn hier vergraben sein Alda?“, knurrte Urs unwillig. Der Schmetterling überging seine Frage geflissentlich und ließ sich auf einer Bourgonvilleblüte nieder. Dort hüllte Alda sich in Schweigen, während sie zusah wie Urs weitergrub. Urs Kleider trieften vor Näße und waren binnen weniger Minuten von oben bis unten mit Erde bespritzt. Ab und zu machte Urs eine Verschnaufpause und vergewisserte sich, dass er die Pflanze nicht verletzte. Er grub unermüdlich bis das Loch gut und gerne zwei Meter tief war und er die weitverzweigten Wurzeln der Bourgonville bloßgelegt hatte. Gerade in dem Moment als er sich mit einem vorwurfsvollen „ich hab es dir doch gesagt, da ist nichts“ an Alda wenden wollte, spürte Urs unter seinen Fingern einen weichen Gegenstand. Hastig zog er ihn aus dem Erdreich. Urs hielt einen Lederbeutel in der Hand, der mehrfach zugeschnürt worden war, um zu verhindern das sein Inhalt naß werden würde, oder Käfern und Würmern als Fraß diente. Alda setzte sich triumphierend auf seine Schulter: „Na also, ich wusste doch, dass der Steinkreis etwas zu bedeuten hatte. Willst du den Beutel nicht aufmachen und nachsehen, was sich darin verbirgt?“ Umständlich nestelte Urs an den Lederschlaufen, die von der nassen Erde dreckverkrustet und hart wie Stein waren. Schließlich gelang es ihm den Knoten zu lösen und die Bänder aufzuwickeln. Urs zog ein vergilbtes mehrfach gefaltetes Pergament aus dem Beutel und faltete es mit zitternden Händen auf. Mit einem Blick erkannte er die Schrift, die ihm seit Wochen Rätsel auftrug. „Er ist von Linde nicht wahr?“, wollte Alda neugierig wissen. Urs nickte sichtlich aufgeregt. „Willst du ihn nicht lesen?“ „Nicht hier“. Eilig steckte Urs den Brief zurück in den Lederbeutel und ließ ihn in seine Hosentasche gleiten. Ohne ein einziges Mal stehen zu bleiben legte er den Weg zur Hütte im Laufschritt zurück. Noch immer regnete es in Strömen. Alda flog schweigend neben ihm her. Kaum war die Hütte in Sicht, riss Urs sich Hose und Hemd vom Leib und warf sie in einen grob zusammen genagelten Holzeimer in dem er Regenwasser auffing und seine Wäsche darin wusch. Splitternackt betrat er nur mit dem Lederbeutel in der Hand die Hütte. Er hüllte sich in eine Decke, die Linde zurückgelassen hatte, und schürte ein prasselndes Feuer im Kamin an. Mit einer Schale heißen Holundertee machte er es sich auf seinem Schaukelstuhl bequem. Erst jetzt zog er Lindes Brief aus dem Lederbeutel, wartete bis Alda sich auf seine Schulter gesetzt hatte und begann laut zu lesen:
Geliebter Gort,
obwohl dich dieser Brief nie erreichen wird, ist mir mit jeder Zeile, die ich zu Papier bringe, als ob ich sie direkt in dein Herz schreiben würde. Ohne dich und Lovan erscheint mir jeder Tag, der vergeht wie eine endlose Wüste. Ich habe das Liebste und Wertvollste in meinem Leben verloren, seit ich Walden verlassen habe. Ich versuche Malva Wärme und Liebe zu geben, sie nicht spüren zu lassen wie verzweifelt und traurig ich bin. Sie kann doch nichts dafür. Ich tue alles, um sie vor ihrem Schicksal zu bewahren. Ich hatte keine andere Wahl. Ich konnte dich nicht einweihen, weil du mich nie hättest gehen lassen. Es war die einzige Möglichkeit unsere Töchter zu beschützen. In der Vollmondnacht nach meiner Niederkunft hatte ich eine Vision als ich Malva zum Stillen an meine Brust legte. Eine erschreckende, unheilvolle Vision, die sich dreimal wiederholte, immer in der ersten Vollmondnacht. Ich habe gesehen wie Malva ihre Schwester Lovan mit einem Messer tötete. Ich habe mit niemanden darüber gesprochen. Nicht einmal mit Amo oder Ygdar. Ich kann nicht zulassen, dass sich die Vision erfüllt. Ich weiß, dass Lovan bei dir und in Walden gut aufgehoben ist. Meine Aufgabe ist es Malva zu beschützen, wenn es sein muss sogar, vor sich selbst. Auch wenn wir nicht gemeinsam das Aufwachsen unserer Töchter erleben dürfen, sollst du wissen, dass ich dich und Lovan ewig in meinem Herzen trage. Ihr seit mein erster und mein letzter Gedanke an jedem neuen Tag, der sich wie ein trostloser Pfad vor mir erstreckt, seit wir nicht mehr zusammen sind. Ich liebe Euch mehr als ich es mit Worten ausdrücken kann.
Verzeih mir *** Auf ewig
Deine Linde
Urs ließ den Brief nachdenklich in seinen Schoß sinken. Vielleicht gab es ja doch einen guten Ausgang und sie waren zurück zu Gort und Lovan nach Walden gegangen? „Glaubst du, dass sie zu ihrer Familie zurückgegangen sind?“, wandte Urs sich hoffnungsvoll an Alda. „Ich weiß es nicht Urs, aber nach dem Brief zu schließen, habe ich nicht viel Hoffnung. Denk nach Urs, Linde glaubt, dass Malva ihre Schwester Linde umbringt. Nie und nimmer wird sie ihre Töchter diesem Schicksal ausetzen. Außerdem haben sie nicht einmal die Puppe aus der Kinderwiege mitgenommen. Eine Mutter kann Vieles vergessen, aber nicht die Puppe ihrer Tochter.“ Urs starrte Alda mit gerunzelter Stirn an. „Wie meinst du das?“ „Das heißt, entweder sind sie beide gewaltsam aus der Hütte verschleppt worden oder nur Malva und Linde hat alles zurückgelassen, um ihre Tochter zu suchen.“ Natürlich, Alda hatte recht. Nur jemand, der es sehr eilig hat, hinterläßt seine Hütte so wie Urs und Alda sie vorgefunden hatten. Es war an der Zeit ihren Weg fortzusetzen. „Im Morgengrauen brechen wir auf Alda.“
„Seit ihr sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?“ „Ja wir sind gleich da“, antwortete Erik, der sich am besten im Wald auskannte. Bevor Egom seinen Besitz beschlagnahmt hatte, weil er seine Lehnzinsen nicht zahlen konnte und ihn als Sklavenarbeiter in die Mienen schickte, hatte Erik seine Familie jahrelang nur mit Pilzen, Nüßen und Beeren ernährt, die er im Wald gesammelt hatte. Nur er, sein Sohn Larch und Burk waren bei Aruc geblieben. Der Rest der Mienensklaven war auseinandergelaufen und jeder versuchte für sich sein Glück, um den Soldaten zu entkommen. Während Aruc im Gedanken versunken weiterging und überlegte, wie er Eufe, Fallada und die Glühmandln wiederfinden sollte, klopfte ihm Erik auf die Schulter. „Hier, siehst du? Wir sind da“. Aruc schaute angestrengt in die Richtung in die Eriks Zeigefinger deutete. Konnte aber beim besten Willen nichts erkennen. „Nein, wo denn?“ „Na hier geradeaus direkt am Baum.“ Jetzt erst wurde Aruc auf die kleine Hütte aufmerksam, die vollkommen von Kletterpflanzen bedeckt und kaum von den Bäumen und Büschen in ihrer Umgebung zu unterscheiden war. Aruc pfiff durch die Zähne. „Alle Achtung. Ein perfektes Versteck.“ Als sie näher kamen, entdeckten sie frische Fußspuren auf der matschigen Erde, die aus der Hütte herausführten. „Wie ist schon vor uns jemand hier gewesen“, flüsterte Aruc und signalisierte den anderen sich in Deckung zu halten. Lautlos pirschte er sich bis zur Eingangstür und horchte. Im Inneren der Hütte blieb es still. Aruc trat einen Schritt zurück und schaute sich um. Es gab zwei Fenster, die von innen verriegelt waren. Leise ging er um die Hütte herum. Auf einem Pflock lagen Spähne verstreut, die verrieten, daß vor kurzem jemand Holz geschlagen hatte. Daneben stand eine fast mannshohe Tonne bis zum Rand mit Regenwasser gefüllt. Nachdem Aruc seine Runde beendet hatte, blieb er vor der Eingangstür stehen und drückte entschlossen den Knauf nieder. Mit einem Ruck sprang die Tür auf. Der Geruch von Tannenzapfen und Rosmarin schlug ihm entgegen. Aruc drehte sich um und nickte seinen Freunden zu. Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Er öffnete die Fensterläden und warmes Sonnenlicht durchflutete den Raum. Der Holzboden war frisch gekehrt. Am Kamin stapelten Brennscheite, daneben stand ein Korb voller Tannenzapfen und getrockneter Kräuter und mehrere leere Körbe. Über einem Holzkohlenofen hingen getrocknete Blumen und Töpfe. Neben der Feuerstelle stand ein Schaukelstuhl, an der Rückwand der Hütte gab es einen Bettrost auf dem eine saubere Matratze lag und eine Kinderwiege in der eine Puppe schlief. Unter dem Fenster stand ein Tisch und eine Sitzbank. Erik, Larch und Burk waren Aruc in die Hütte gefolgt. „Jemand wohnt hier. Was machen wir, wenn er zurück kommt?“, runzelte Burk besorgt die Stirn. „Wir erzählen selbstverständlich die Wahrheit“, antwortete Aruc. „Jemand der so abgeschieden im Wald lebt, ist bestimmt kein Anhänger von Egom.“ Erik und Larch nickten zustimmend. Burk zuckte mit den Schultern: „Wenn ihr meint.“ „Ich habe hinter der Hütte eine Tonne mit Regenwasser gesehen. Ich schlage vor wir waschen uns erstmal und ruhen uns aus, damit wir wieder zu Kräften kommen.“ Aruc trat vor die offenstehende Tür und pflückte einen großen Strauß duftendes Seifenkraut, das direkt vor der Hütte wuchs. Während er um die Hütte herum ging, entledigte er sich angewidert seiner zerfetzten stinkenden Kleider und warf das Seifenkraut in die Regentonne. Die anderen waren ihm gefolgt. Ausgelassen begannen sie sich gegenseitig das Wasser über den Kopf zu schütten und den Dreck der Mienen abzuschrubben. Als sich einer nach dem anderen gesäubert und erfrischt hatte, wuschen sie ihre Lumpen so gut es ging mit dem restlichen Wasser und hingen sie hinter der Hütte in die Bäume zum Trocknen auf. Danach legten sie sich nackt und erschöpft bis zum Umfallen zum Schlafen hin. Erik und Larch teilten sich die Matratze, Burk legte sich auf die Holzbank und Aruc setzte sich in den Schaukelstuhl. Binnen weniger Minuten waren sie eingeschlafen. Nach einer Weile erwachte Aruc, weil ihm kalt war. In einem der Körbe neben dem Kamin fand er eine Decke, in die er sich dankbar einhüllte. Als Aruc sich zurück in den Schaukelstuhl setzten wollte, hörte er Schritte vor der Hütte. Erschrocken lief er ans Fenster. Er begann zu zittern. Den Atem anhaltend öffnete er die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Er versuchte zu sprechen. Die Stimme versagte ihm. Schließlich brachte er es doch über die Lippen: „Vater“. Aruc starrte ungläubig auf seinen Vater, der vor ihm stand und sich nicht rührte. Alda saß auf Urs Kopf und bewegte leicht ihre Flügel. Urs erwiderte Arucs staunenden Blick mit seinen blauen Augen, die leuchteten wie ein strahlender Sommerhimmel. Er trat näher an Aruc heran und ergriff behutsam dessen Hände, die zerschunden und geschwollen waren, von der schweren Arbeit in der Miene. Wortlos presste er Arucs kalte Finger an seine Brust. Aruc fühlte den heftigen Herzschlag seines Vaters. Dicke Tränen begannen an Urs stoppeligen Wangen herunterzurollen. Ohne die Hände von Aruc loszulassen ging er vor ihm in die Knie. Alda blieb regungslos auf seinem Kopf sitzen. Aruc stand fassungslos im Türrahmen: „Vater, so steh doch auf Vater.“ Urs schien ihn nicht zu hören. Er hielt seinen Kopf gebeugt, während die Tränen vor ihm auf die Erde tropften. Schließlich kniete Aruc sich neben ihn auf den Boden. Verlegen wartete er, dass sein Vater sich beruhigte. Stattdessen nahm Urs ihn mit einem Seufzer in seine Arme und drückte ihn so fest an sich, dass ihm fast die Luft wegblieb. Aruc spürte seine Wärme, die kräftigen Muskeln unter seinem Hemd, seine heißen Tränen, die ihn benetzten. Wie ein kleiner Junge legte Aruc zaghaft seinen Kopf auf die Schulter seines Vaters und begann erbittert zu weinen. Urs streichelte ihm mit seinen rauhen Händen zärtlich über den Kopf und flüsterte unter Tränen: „Verzeih mir.“
Eric, Larch und Burk schauten verdutzt zwischen Urs und Aruc hin und her. „Du hast dein Gedächtnis verloren und dein ganzes Leben vergessen?“, staunte Larch. „Na ja bei dem was man sich so alles aus Inthorm erzählt, nicht die schlechteste Sache eigentlich.“ Erik trat seinem Sohn unter dem Tisch auf den Fuß, während er ihm mit rollenden Augen andeutete zu schweigen. „Nein ist schon gut Eric, Larch hat ja recht. Es war wirklich das Beste für mich, meine Vergangenheit zu vergessen. So konnte ich mich befreien von der Schuld und Scham, die ich in all den Jahren auf mich geladen habe.“ Urs hatte seinen Kopf gesenkt und schaute verlegen auf die grobgeschnitze Tischplatte vor sich. Aruc blickte seinen Vater ungläubig an. Nie im Leben hätte er aus seinem Mund diese Worte erwartet. „Und wie sollen wir dich jetzt nennen?“, wollte Burk wissen. „Urs oder Brac?“ „Brac ist in der Bärenhöhle gestorben. Und wenn ich nicht Alda begegnet wäre, die mir den Namen Urs gegeben hat, dann würde ich jetzt nich hier sitzen.“ Urs ließ seinen Blick zärtlich über Alda streichen, die regungslos auf seiner rechten Schulter saß. „Ihr und Linde ist es zu verdanken, dass ich weitergemacht habe.“ „Hast du Mutter bereits vergessen?“ Aruc war empört aufgestanden und stellte sich kerzengerade vor seinen Vater. Urs strich sich mit Zeige- und Mittelfinger die langen schwarzen Haare hinter die Ohren und sah seinem Sohn mit gebrochenem Blick in die Augen: „Als ich dir gegenüberstand ist meine Erinnerung an meine Geschichte zurückgekommen, allerdings nicht vollständig. Ich weiß nicht was mit deiner Mutter passiert ist. Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich in der Nacht eurer Flucht wie immer ein Glas Honigmet vor dem Zubettgehen getrunken habe. Das ist alles. Ich kann mich erst wieder erinnern, dass ich in der Bärenhöhle aufgewacht bin“. „Und wer ist diese ... diese Linde“, presste Aruc enttäuscht heraus, sichtlich im Glauben, dass sich sein Vater bereits mit einer anderen Frau getröstet hatte. „Ich kenne sie nicht. Ich habe nur ein fast unleserliches Tagebuch von ihr gefunden und einen Brief an ihren Mann und ihre Tochter, den sie im Wald vergraben hat.“ Unsicher schaute er zu Aruc, der grübelnd vor ihm stand. Nichts erinnerte mehr an den boshaften Mann, der ihm seine Kindheit vergraut hatte. Urs kramte in seinem Wanderbeutel und holte Lindes Tagebuch und Brief hervor. „Ihre Geschichte hat mir Kraft gegeben. Es ist ihr zu verdanken, dass wir uns wiedergetroffen haben Aruc. Ich wollte eigentlich nicht mehr in die Hütte zurückkehren. Ich bin losgezogen, um sie zu finden, weil ich das unbestimmte Gefühl hatte, dass sie mir dabei helfen würde, herauszufinden wer ich bin. Ich war schon einen halben Tagesmarsch entfernt als mir eingefallen ist, dass sie vielleicht doch zur Hütte zurückkommen könnte und deshalb wollte ich ihr noch einen Brief hinterlassen. Für den Fall der Fälle. Deshalb bin ich zurückgekommen.“ „Und jetzt wo du wieder weißt wer du bist, was wirst du tun?“, mischte sich Larch arglos ein, wofür er erneut einen Schienbeintritt von seinem Vater unter dem Tisch einkassierte. „Ich werde zurück nach Inthorm gehen und Ullren befreien. Und ich werde dafür sorgen, dass Egom nicht mehr das Blut von Eufe braucht“, antwortete Urs mit einem gefährlichen Flackern in den Augen. „Wir gehen gemeinsam Vater“. Aruc war aufgestanden und hob seinen Krug mit Hagebuttentee. Die anderen folgten ihm. „Auf Freiheit und Leben“. Urs hielt seine Augen dankbar und stolz auf Aruc gerichtet als sie im Chor brüllten: „Hurra, Hurra, Hurra“ und sich gegenseitig in die Arme fielen. Alda saß auf einem Vogelbeerbusch vor dem Fenster und beobachtete zufrieden das strahlende Lächeln auf Urs Gesicht als er seinen Sohn umarmte. Sie kreiste zweimal vor dem Fenster bevor sie in den Wald hineinflog und sich ihre orangegelben Flügel im Blätterdickicht verloren. Als Urs etwas später die Hütte verließ, um nach ihr zu sehen, wartete er vergeblich, dass sie aus den Büschen auf seine Schulter flatterte. „Alda, Aldaaaaaa, wo bist du?“ Urs suchte den Schmetterling überall, auf den Holunder- und Vogelbeerbüschen, die rund um die Hütte wuchsen, in der Dachrinne über der Regentonne, auf dem Holzpflock, auf den Schlüsselblumen im dichten Gras. Immer wieder rief er ihren Namen. Voller Sorge lief er in den Wald hinein und folgte dem Pfad, den er so viele Male gemeinsam mit Alda entlang gewandert war. Er konnte nicht glauben, dass seine treue Begleiterin nicht mehr bei ihm war. „Alda, Aaaalda“, rief er traurig. Obwohl Urs es nicht wahrhaben wollte, spürte er, dass sie nicht zurückkommen würde. Schließlich blieb er stehen und kniete sich auf den Waldboden. Er faltete die Hände vor der Brust. Tränen rannen ihm über die Wangen als er flüsterte: „Alda, ich danke dir. Ich weiß jetzt, dass der Weg das Ziel ist. Du hast mir beigebracht zu fliegen. Ich werde dich nie vergessen.“
Malva war die ganze Nacht durch den Wald geirrt, um den Eingang zu den Höhlen wiederzufinden. Sie war entschlossen sich den Kristall zurückzuholen. Ihr verletztes Bein schmerzte höllisch. Außerdem hatte sie Hunger und Durst. Sie fühlte sich elend. Gegen ihren Willen dachte sie immer wieder an den Moment, als sie Lovan das Messer in den Rücken gerammt hatte. Sie versuchte sich einzureden, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte. Trotzdem gelang es ihr nicht sich selbst zu überzeugen. Lovan hatte ihr das Leben gerettet und sie hatte es ihr mit einem hinterhältigen Messerstich gedankt. Malva hasste sich abgrundtief. Ihre Eltern hatten sie nur deshalb im Stich gelassen, weil sie nichts wert war. Warum sonst hätten sie nicht nach ihr gesucht. Langsam wurde es hell. Malva hatte ihr Gesicht dem rotgefärbten Himmel zugewandt, der Regen ankündigte. Warum sollte sie sich kümmern, um eine fremde Frau, die ihr im Weg gestanden war. Das Leben war eben nicht immer fair. Sie war sich selbst der nächste und nur das zählte. Entweder fand sie die Jungfrau aus dem Turm und opferte sie für Egom der schwarzen Sonne oder ihr Leben war ohnehin verwirkt und sie würde bestenfalls auf dem Scheiterhaufen sterben. Wahrscheinlich würde Egom sich jedoch eine weit grausamere Methode für ihren Tod ausdenken. Sie musste trinken, essen und sich ausruhen, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann würde sie auch wieder einen klaren Gedanken fassen können. Je weiter sie ging, desto dichter wurde der Wald bis der Himmel über ihr gänzlich verschwunden war. Wie vorauszusehen gewesen war, begann es zu regnen. Zuerst war es nur ein feiner Sprühregen, der sich binnen weniger Minuten verstärkte. Malva konnte von Glück sagen, dass das dichte Blätterdach über ihr verhinderte, dass sie bis auf die Haut nass wurde. Dafür stillte sie ihren Durst indem sie ein großes Ahornblatt in ihren Handteller legte und darin das Regenwasser auffing. Nachdem sie mehrere Male das Blatt aufgeschlürft hatte, raschelte es im Dickicht. Malva horchte erschrocken auf und versteckte sich hinter einem Baumstamm. Ihr Herz pochte so laut, dass sie das Gefühl hatte, wer auch immer in der Nähe war, würde jeden einzelnen Schlag mithören. Malva hielt die Luft an. Wenn Egom seine Schergen nach ihr ausgeschickt hatte und sie unverrichteter Dinge gefangen genommen werden würde, dann konnte ihr vielleicht nicht einmal mehr helfen, dass Egom sie für das Ritual brauchte. Wahrscheinlich würde er sie foltern, bis sie ihm alle Geheimnisse verraten hatte und danach umbringen. Malvas Hände verkrampften sich zu Fäusten. Sie versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu halten. Nichts rührte sich. Vorsichtig spähte Malva hinter dem Baumstamm hervor. Anstatt sich einem schwerbewaffneten Soldaten aus Inthorm gegenüberzusehen, stand ein langbeiniges graziles Rehkitz vor ihr, dass bei Malvas Anblick mit einem Satz im Wald verschwunden war. Erleichtert atmete Malva auf. Ein paar zaghafte Sonnenstrahlen stahlen sich durch die dichte Blätterkuppel. Schon wollte Malva ihren Weg fortsetzen, um etwas Eßbares zu suchen als ihr Blick hängenblieb, genau da, wo das Reh noch vor ein paar Sekunden gestanden hatte. Das war kein gewöhnlicher Baumstamm, sondern eine dicht mit Kletterpflanzen bewachsene Hütte. Malva pirschte sich zum Eingang, klopfte an und rief: „Hallo ist da wer?“ Nachdem sie keine Antwort erhielt öffnete sie die knarzende Tür und trat ein. Im Inneren roch es anheimelnd nach Holz und Kräutern. Die Fensterläden waren einen Spalt breit geöffnet und ein paar Lichtstrahlen erhellten den Innenraum. Alles war aufgeräumt, der Boden war gefegt, das Bett gemacht und vor dem Kamin stapelte sich frisches Brennholz. Es gab eine Sitzbank, einen Schaukelstuhl und einen großen Holztisch auf dem ein Korb voller Haselnüße stand, über den sich Malva heißhungrig hermachte. Nachdem sie keine einzige Nuss übrig gelassen hatte, öffnete sie die Fensterläden und schaute sich weiter in der Hütte um. Neben dem gemachten Bett stand eine Kinderwiege in der eine zerflederte Stoffpuppe lag. Malva bückte sich und nahm die Puppe in ihre Hände. Mit der Stoffpuppe im Arm, ließ Malva sich auf das Bett sinken. Sie war müde, unsagbar müde. Die Puppe fest an ihre Brust gepresst wickelte sie sich in eine Decke, die auf dem Bett lag und war binnen weniger Sekunden eingeschlafen.
Malva gelangte an eine Wendeltreppe. Einen Schritt nach dem anderen setzte sie ihre baren Füße auf die Stufen und stieg die gewundene Treppe hinunter, die in einem fensterlosen Korredor mündete. Zuerst konnte sie die Hand vor Augen nicht erkennen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie der Umrisse von verschiedenen Türen gewahr wurde. Die erste Tür war aus schwarzem Gusseisen mit kupfernen Nieten und einem Drachenkopf als Anklopfer. Sie war schmal, dafür aber unnatürlich hoch. Die zweite Tür war aus Kristall, das selbst in der Lichtleere strahlte. Sie war breit wie ein Torbogen. Daneben gab es eine verwitterte, wurmstichige Holzklappe von der Höhe einer Hundehütte. Schräg gegenüber ragte eine rubinrote Tür mit einem schwarzen Einhornwappen auf. Am Ende des Ganges befanden sich drei in ihrer Form und Machart exakt gleiche Türen, die sich lediglich durch ihre Farben unterschieden: grün, gelb und blau. Es waren sieben Türen. Malva verharrte in der Dunkelheit. Ruhelos ließ sie ihre Augen von einer Tür zur anderen wandern und kniete sich schließlich ratlos in eine Ecke des kalten dunklen Ganges. Sie musste sich für eine der Türen entscheide, Alles hing davon ab. Malva stand auf. Obwohl das Kristallportal sie magisch anzog, näherte sie sich der verwitterten, wurmstichigen Holzluke. Der modrige Geruch von klammer Nässe und zerfasernden Brettern erinnerte sie an Armut und Exil. Von weit her drangen die Rufe und das Lachen spielender Kinder zu ihr. Sie fröstelte und begann auf und abzugehen. Endlich fasste sie einen Entschluss. Sie würde weder das Kristallportal, noch die Holzluke öffnen. Stattdessen wandte sie sich der rubinroten Tür mit dem Einhormwappen zu. Der eiserne Türknauf lag klotzig und schwer in ihrer Hand. So sehr sie sich auch bemühte ihn niederzudrücken, so wenig waren ihre immer heftigeren Bemühungen von Erfolg gekrönt. Nach schier endlosen Versuchen gelang es Malva endlich die Klinke bis zum Anschlag nach unten zu pressen, indem sie sich mit ihrem ganzen Körper dagegen stemmte. Der Knauf gab ächzend nach und die Tür sprang quietschend auf. Malva verschlug es den Atem. Außer gähnender Leere, gab es nichts hinter der Tür, nur leeren Raum. Einer plötzlichen Eingebung folgend, öffnete Malva fieberhaft eine Tür nach der anderen. Hinter jeder der Türen erwartete sie der gleiche Anblick: Unbeschreibliches absolutes Nichts. Schweißgebadet erwachte Malva aus ihrem Traum und rieb sich die Augen. Im ersten Moment konnte sie sich nicht erinnern, wo sie war, bis sie die Stoffpuppe neben sich auf dem Bett liegen sah. Behutsam nahm sie den zerfledderten Leib und spielte mit den langen kupferblonden Puppenzöpfen aus geflochtener Wolle. Sie durfte unter keinen Umständen ohne die Jungfrau aus dem Turm unter Egoms Augen treten, so viel war sicher. Es gab nur einen Ausweg. Sie musste den Höhleneingang wieder finden, um den Kristall zu suchen, der ihr im Kampf gegen die Hakenmänner aus der Tasche gefallen sein musste. Allein bei dem Gedanken daran den grausamen Kerlen noch einmal zu begegnen, stellten sich ihr sämtliche Haare zu Berge. Sie konnte nicht damit rechnen ein zweites Mal mit dem Leben davon zu kommen. Es musste einen anderen Ausweg geben. Malva blickte sich in der Hütte um. Die Sonnenstrahlen, die durch die beiden Fenster fielen bedeckten den Boden mit einem Teppich, dessen Ornamente aus Licht und Schatten gewebt zu sein schienen. Ein zusammengefaltetes Papier, dass unter dem Tisch lag, erweckte Malvas Aufmerksamkeit. Sie bückte sich und hob es neugierig auf. In großen Buchstaben war der Name Linde darauf geschrieben. Malva faltete das Blatt auf, setzte sich auf die Bank vor dem Tisch und begann zu lesen:
Verehrte Linde,
obwohl wir uns nie begegnet sind, ist ihre Geschichte eng mit der meinen verbunden. In tiefster Verzweiflung gelangte ich durch die Hand des Schicksals in Ihre Hütte und fand nach langer Zeit zum ersten Mal Schutz und Geborgenheit ... Ihr Tagebuch, d.h.. die wenigen leserlichen Seiten, die von der Feuchtigkeit und den Motten verschont geblieben sind, gaben mir neuen Lebenswillen. Deshalb bitte ich sie inständig mir meine Indiskretion zu verzeihen. Ihre Zeilen haben mich aus einem schwarzen Loch gerettet, in dem ich gefangen war. Ich wusste nicht woher ich kam und wohin ich gehen sollte,. Ich hatte mich aufgegeben, bevor mich das Echo ihrer Seele so tief berührte, dass ich in der Einsamkeit, und Stille, durch die Ungewissheit der Vergangenheit und Zukunft,, die Glückseligkeit des Augenblicks fand. Ich wünsche mir von ganzem Herzen Ihnen persönlich begegnen zu dürfen, um Ihnen zu danken und mich zu vergewissern, dass es Ihnen und Ihren Töchtern Malva ...
Das nächste Wort verschwamm vor Malvas Augen. Sie begriff nicht. Wahrscheinlich war sie doch nicht aufgewacht und diese Zeilen waren Teil ihres Traumes. Malvas Hände zitterten als sie weiterlas.
... und Lovan gut geht.
Ich gestehe dass ich auf der Suche nach Ihnen auch auf den Brief an Ihren Mann Gort gestoßen bin und ihn gelesen habe. Erlauben Sie mir Ihnen zu versichern,, dass es keine Schande ist, wie sie als Mutter gehandelt haben. Sie haben nur versucht Ihre Töchter zu beschützen und das ist das Heiligste Recht einer Mutter, auch wenn sie sich dadurch dem Schicksal in den Weg stellt. Doch kann und darf nicht einmal eine Mutter, die Last ihres Kindes tragen. Wenn Malva sich entschieden hat, ihrer Schwester Leid zuzufügen, so wie sie es in ihrer Vision gesehen haben, dann dürfen sie sich keine Schuld dafür geben. Sie haben alles versucht was in ihrer Macht steht, um dies zu verhindern. Sie haben ihre Heimat aufgegeben, ihre Liebe und ihre Tochter Lovan. Doch können wir mit unserem eigenen Unglück niemanden retten. Es ist nie zu spät umzukehren.
Da ich Sie seit Wochen im Wald suche und mir der Zustand in dem ich die Hütte vorgefunden habe, Hinweise darauf geben, dass Sie in großer Eile aufgebrochen sind (ich weiss, dass eine Mutter die Puppe ihrer Tochter nur in äußerster Not zurückläßt), wage ich nicht mehr, darauf zu hoffen, Sie hier anzutreffen. Ganz gleich wie sehr Sie sich selbst für Ihre Entscheidungen verurteilen mögen, mir haben sie mein Leben zurückgegeben, dass ich seit langer Zeit verloren hatte. Wäre ich nicht noch einmal hierher zurück gekehrt, um Ihnen diesen Brief zu hinterlassen, dann hätte ich nicht meinen Sohn wiedergefunden. Ich habe es Ihnen zu verdanken, dass ich die Kluft jahrelanger Entfremdung überwinden konnte. Ich zweifle nicht, mehr daran, dass unser aller Leben, so veerworren es uns auch zuweilen erscheinen mag, Teil eines höheren Planes ist.
In tiefer Achtung und Dankbarkeit,, die ich in Worten nicht auszudrücken vermag
Urs von Bärin
PS: Ich markiere den Weg nach Steinern.Sie finden mich dort in der verlassenen Schmiede.
Malva las den Brief mehrere Male, bevor sie ihn erschüttert in ihren Schoß sinken ließ. Zitternd hob sie die Puppe aus der Kinderkrippe und setzte sich in den Schaukelstuhl. Während sie leise eine Melodie summte, begann sie vor und zurück zu wippen immer schneller und schneller, bis sie so heftig wippte, dass ein Stuhlbein samt der Kufe abbrach. Malva wurde aus dem Sitz geschleudert und fiel mit voller Wucht auf ihren verwundeten Oberschenkel. Der Schmerz brachte sie zur Besinnung. Die Stoffpuppe in ihr Gesicht gepresst, legte sie sich auf den Boden und schluchzte. Sie hatte ihre Schwester umgebracht, so wie ihre Mutter es vorhergesehen hatte. Ihre Mutter hatte alles aufgegeben, um zu verhindern, dass sie Lovan tötete. Sie war mit ihr in diese Hütte geflüchtet bis Ekstel sie geraubt hatte. Warum war das Schicksal so grausam zu ihr. Was hatte sie getan? Was konnte sie dafür, dass das Schicksal sie für diese Rolle ausgesucht hatte? Nicht einmal das Opfer ihrer Mutter konnte sie davor bewahren. Blinde Wut und Hass flammten in Malva auf. Sie schrie und schlug um sich. Sie weinte und zerkratzte ihre Arme und riss sich büschelweise die Haare vom Kopf. Als sie keine Kraft mehr hatte ihre Rage auszuleben und apathisch liegen blieb, erinnerte Malva sich an den Traum der vergangenen Nacht mit den sieben verschiedenen Türen, die alle das gleiche verbargen: Nichts. Eine leise Stimme raunte: „Nichts hat die Bedeutung, die du ihm gibst.“ Malva hatte die Augen geschlossen und atmete tief ein und aus. In ihrem Hals steckte ein Kloß. Sie spürte stechende Schmerzen in ihrer Brust. Ihr war schwindelig vor Übelkeit. Langsam richtete sie sich auf. Ihre Finger krampften sich so fest um die Stoffpuppe, als ob sie eine Angel wäre, mit der sie ihre wahre Herkunft aus den trüben Wassern der Vergangenheit herausfischen konnte. Die Stimme kam näher. Sie war samtig und weich und begann ein vertrautes Wiegenlied zu singen. Schlagartig erkannte Malva die Stimme. Malva schlug die Augen auf. Aus dem Schatten löste sich eine wunderschöne Frau, die sich zu ihr herab beugte und ihr zärtlich über den Kopf strich. Malva sog ihren Geruch nach Melisse und Zitronenkraut in sich auf. Ein wohliger Schauer durchrieselte sie. „Mutter“, flüsterte Malva leise. „Verzeih mir Mutter. Ich bitte dich verzeih mir.“ „Es gibt nichts zu verzeihen mein Liebling. Du kannst nichts dafür. Alles hat seinen Sinn. Ich liebe dich.“ Malva spürte einen Lufthauch und einen sanften Kuss auf ihrer Wange. Ihre Mutter war fort. Malva blinzelte. Verzweifelt rief sie: „Mutter, Mutter komm zurück.“ Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wusste nicht mehr wie lange sie auf dem Boden gesessen hatte. Das Licht in der Hütte war fahl geworden. Durch das Fenster zeichneten sich die dunklen Schatten der Bäume in der untergehenden Sonne ab. Auf alle Viere gestützt, die langen dunkln Haare wirr ins Gesicht hängend, stand Malva langsam auf. Sie würde ihre Mutter nicht noch einmal enttäuschen. Wenn auch das Schicksal sie dazu auserkoren hatte auf der falschen Seite zu beginnen, konnte sie sich dafür entscheiden die Seiten zu wechseln. Malva wusste was sie von nun an zu tun hatte. Sie würde um jeden Preis verhindern, dass Egom die Jungfrau aus dem Turm in die Hände bekam. „Du sollst stolz auf mich sein können Mutter“, flüsterte sie in die Dunkelheit der Hütte. Zuerst musste sie herausfinden woher die Jungfrau aus dem Turm kam. Ekstel hatte sie ihr ohne Erkärung in die Arme gelegt und befohlen sie Egom auszuhändigen. Malva schoss die Schamesröte ins Gesicht bei dem Gedanken daran, dass sie selbst es gewesen war, die das Mädchen nach Inthorm gebracht hatte. Dafür würde sie es jetzt sein, die sie vor Egom beschützte und zu ihrer Familie zurück brachte. Es gab nur einen Menschen, der ihr verraten konnte, woher die Jungfrau stammte: Lida, sie war die älteste Zigeunerin in der Siedlung und hatte als Hebamme Generationen von Unterbergern zur Welt gebracht. Sie musste es wissen.
Eufe stand allein auf der Bergspitze. Sie fröstelte und zog sich ihren Umhang enger um die Schultern. Fonaskus Worte klangen ihr in den Ohren: „Mit dem Gesang deiner Lieder bringst du die Sonne zum Scheinen. Du hast die Macht die Menschen durch deine Stimme zu verwandeln. Nütze sie.“ Eufe ließ sich ins Gras sinken. Sie musste nachdenken. Sie beobachtete wie sich die Sonne hinter die Bergspitze schob und eine schmale Mondsichel am Himmel sichtbar wurde. Wo sollte sie beginnen? Eufe grübelte. Wenn es einen Menschen gab, der einer Verwandlung bedurfte, dann war es Egom. Mit einemal sah sie ihre Aufgabe klar vor sich. Sie musste Egom verwandeln. So wie die Faunsängerin es ihr aufgetragen hatte. Angst in Vertrauen, Gewalt in Güte, Widerwärtigkeit in Grazie, Hochmut in Einfachheit, Hass in Liebe, Trostlosigkeit in Freude, Hässlichkeit in Schönheit, Trennung in Einheit. Sie musste das Lied finden, dass seine Seele sichtbar machte. Ein endloser Sternenhimmel funkelte über ihr. Unvermittel erinnerte sie sich an den Rosenquarz in ihrem Rucksack. Als Eufe sich den Stein in den Schoß legte, begann er intensiv zu leuchten. Gebannt starrte sie auf die weißen Sprenkel, die wie gefrorene Schneeflocken auf seiner Oberfläche klebten und langsam vor ihren Augen verschwammen bis sie sich zu einem klaren Bild verbanden. Eufe sah eine wunderschöne holzgeschnitzte Leier im Inneren des Kristalls, die mit der herzförmigen Doppelspirale verziert war, die auf ihrem Anhänger eingraviert war. Allmählich verblasste das Bild. Eine Leier, natürlich sie brauchte ein Instrument, um ihre Lieder zu finden. Zwei Sternschnuppen verglühten gleichzeitig wie glitzernder Sprühregen am Firmament über ihr. Eufes Blick fiel auf den Aschenhaufen aus dem Fonaskus auferstanden war. Sie traute ihren Augen nicht. Das konnte doch nicht wahr sein. Eufe glaubte zu träumen und zwickte sich heftig in den linken Arm. „Aua“, entfuhr es ihr. Sie stand auf und näherte sich dem Aschehaufen auf dem eine wunderschöne, holzgeschnitzte Leier mit eingravierter Doppelspirale in Herzform lag. In allen Einzelheiten entsprach sie genau dem Bild, dass ihr der Rosenquarz gezeigt hatte. „Das ist kein Traum“, flüsterte Eufe ehrfürchtig und bückte sich, um das Instrument andächtig aufzuheben. Der Wind strich durch die Seiten und entlockte ihnen sanfte Töne. Eufe setzte sich ins Gras. Mit dem Rücken gegen ihren Rucksack gelehnt, begann sie zärtlich an den Seiten zu zupfen. Sie erhob ihren Blick zu den Sternen und flüsterte mit Tränen in den Augen: „Ich danke dir Amo. Verzeih, dass ich gezweifelt habe“. „Es gibt nichts zu verzeihen, weil ich nicht verurteile. Sei still und wisse. Ich bin Gott“, antwortete ihr die Stimme aus ihrem Inneren, die Eufe inzwischen vertraut geworden war. Sie streichelte liebevoll über die Leier und ließ ihre Finger von Seite zu Seite gleiten bis sie einen grazilen Tanz vollführten, so als hätte Eufe nie etwas anderes getan. Sie schloss die Augen und begann zu singen:
„Du bist nicht dein Körper. Du bist nicht deine Gedanken. Du bist nicht deine Taten. Du bist allein Dein Sein. Du kannst schön, frei und wahrhaft mächtig sein. Lass die Liebe in dein Leben ein.
Eufe sass mit angewinkelten Knien auf der Erde. Immer noch hatte sie die Augen geschlossen. Noch nie hatte sie so viel Liebe und Zuversicht in ihrem Herzen empfunden. Selbst wenn sie ganz alleine gehen musste auf ihrem Weg. Nie mehr war sie einsam. Von nun an war die Musik ihr Begleiter, wohin sie auch ging. Amo hatte ihr gezeigt, dass sie die Essenz eines jeden Wesens, die Seele des ganzen Universums durch ihre Lieder sichtbar machen konnte. Jetzt erst verstand sie, was die Bilder vor ihren Augen bedeuteten, als sie die Musik im Reich der hohen Faune hörte. Musik hatte die Macht das Unbeschreibliche, Unsichtbare auszudrücken. Sie hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Egom erwartete sie. Entschlossen schulterte Eufe ihren Rucksack, klemmte sich die Leier unter den Arm und wanderte im sanften Sternenlicht den Berg hinunter. Während sie beschwingt ausschritt, entdeckte Eufe, dass sie sich nur bewusst zu öffnen brauchte, damit ihr das Universum eine neue Melodie mit dem entpsrechenden Liedtext übermittelte:
Ich weiss nicht woher ich komme. Ich weiss nicht wohin ich geh. Grosse Wege, weite Felder, hohe Berge, dichte Wälder, tiefe Seen. Die Erde pulst zu meinen Füßen. Der Himmel wölbt sich über mir. Kein schöner Platz, als hier und jetzt. Im Schoße meiner Träume.
Als der Morgen dämmerte war Eufe fast am Fuße des Berges angelangt. Sie war seit Stunden unterwegs und hatte sich keine Rast gegönnt. Als sie an einer Quelle vorbeikam, die einladend unterhalb eines großen Felsens am Wegrand hervorsprudelte, bückte sie sich und trank in gierigen Zügen. Erst jetzt merkte sie wie durstig sie gewesen war. Sie wusch sich Gesicht und Hände und kühlte ihre müden Füße in dem frischen Wasser. Während Eufe sich noch überlegte, ob sie sich etwas ausruhen sollte bevor sie weiterging, hörte sie Hufgetrappel und eine männliche und eine weibliche Stimme, die sich zankten: „Ich hab doch gesagt, dass wir hier falsch sind.“ „Nein das hast du nicht. Du hast gesagt wir sind verkehrt.“ „Sapralot verkehrt bedeutet doch falsch.“ „Nicht schon wieder“, unterbrach die beiden Streithähne eine dritte Stimme. „Wir haben wirklich wichtigere Dinge zu tun, als uns über den Unterschied von verkehrt und falsch zu unterhalten. Wir müssen sie finden.“ Eufe glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Mit einem Sprung war sie auf den Beinen und rannte so schnell sie ihre Beine trugen, in die Richtung aus der die Stimmen kamen. So laut sie konnte rief sie: „Aaaaaaarrruuuuucc, Falladaaaa, Liiiieeeesssllliiiii, Kaaallliiiiiiiii. Als Eufe atemlos um die Kurve gebogen war, sah sie Ullrens prächtige Schimmelstute im glänzenden Morgenlicht auf sie zu kommen. Wie gewöhnlich saß Liesli auf ihrem linken Ohr und Kalimann auf ihrem rechten. Die ersten Sonnenstrahlen verwandelten Falladas Mähne in schillernde Silberfäden. Blütenpollen flirrten wie Glitzerstaub um Liesli und Kalis Köpfe. Als die Stute Eufe erkannt hatte, warf sie ihren Kopf zurück und wieherte schrill. Liesli und Kali wirbelten in hohem Bogen durch die Luft, bevor sie mit ramponierten Hütchen wieder auf Falladas Ohren landeten. Verdutzt rieben sie sich den Allerwertesten und statt wie erwartet in ein Zetergeschrei ob Falladas Unverschämtheit auszubrechen, fuchtelten sie wild mit den Händen und riefen euphorisch: „Euuuuuufffeeeeeee, Eeeeuuuuufffeeeeeeeee hier sind wiiiiirrrrrrrr. Wiiiiirrrrrr kooooommmmmeeeeennnnnn.“ Eufe rannte ihnen entgegen bis Fallada vor ihr stehen blieb und sie mit ihren warmen Nüstern an der Stirn anstupste. „Blümchen, wir haben uns solche Sorgen gemacht. Wie gut, dass wir dich gefunden haben.“ Eufe warf ihre Arme stürmisch um Falladas Hals und rieb ihre erhitzten Wangen an ihrer Flanke. Liesli und Kali waren auf ihre Schultern geflogen. „Wir haben dich überall gesucht. Unter jedem Stock und jedem Stein. Wenn ich nicht darauf bestanden hätte, diesen Weg zu nehmen“, brüstete Kali sich. „Haha, da kann ich ja nur lachen“, unterbrach Liesli ihn störrisch. „Wer hat mir denn gerade vorgeworfen, dass der Weg verkehrt ist.“ „Ja aber nicht fal ...“. Ohne sich weiter um ihren Gemahl zu kümmern, küsste Liesli schmatzend Eufes Wange und rief: „Jetzt müssen wir nur noch Aruc finden.“ „Aber ist er denn nicht mehr bei euch?“ Eufe hatte angenommen, dass Aruc jeden Moment mit seinem breiten Jungengrinsen hinter ihr auftauchen würde, um sie zu überraschen. Fragend schaute Eufe in Falladas besorgte Augen: „Nein, seit wir von dem Sturm erfasst worden sind, fehlt jede Spur von ihm.“ „Dann ist auch er seinem Lehrer begegnet“, antwortete Eufe und blickte versonnen in den Himmel. „Welchem Lehrer?“, wollte Fallada wissen. „Was soll er denn lernen?“, Liesli hatte ihre Patschhändchen resolut in die Hüften gestemmt und Kali wiederholte fragend: „Wo ist ein Lehrer?“ Eufe lachte ihre Freunde vielsagend an: „Das ist eine lange Geschichte.“
Stammt aus dem Altirischen und bedeutet:
Die Reise eines Helden in die Anderswelt, um sein Schicksal zu erfüllen
„Kommt näher an den Abgrund“, sagte er.
Sie sagten: „Wir haben Angst.“
„Kommt näher an den Abgrund“, sagte er.
Sie kamen. Er stieß sie ... und sie flogen.
(Guillaume Apollinaire)
Immram
Die Verwandlung
Bellé Flora
Genre: Fantasy
Umfang: 400 Seiten
Prolog
Seit die Bewohner von Unterbergen sich erinnern konnten, versperrte die Festung Inthorm wie ein Berg aus verwittertem, mit Ginster bewachsenem Kalkstein, jegliche Sicht auf die Welt. Sie glaubten es gäbe keine Welt außerhalb von Unterbergen und Inthorm sei die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Die Steinfestung schraubte sich unerbittlich in ewige Wolken. Egom, der tyrannische Herrscher von Inthorm und Unterbergen, verbreitete Furcht und Schrecken in seinem Reich. Er ließ die Wälder abroden und verschmutzte Felder, Wiesen und Seen mit giftigen Schwefelabfällen aus seinen Bergwerken, in denen Sklavenarbeiter nach Gold und Edelsteinen schürfen mussten. Saurer Regen verdarb hatte die Erde verdorben. Die Menschen ernährten sich fast ausschließlich von den Abfällen toter Tiere, die sie zu Blutwürsten, Knochenpastete und Knorpelfrikadellen verarbeiteten.
Angst, Unzufriedenheit, Unterdrückung und unreines Essen hatte aus den Untersbergern verrohte Menschen gemacht. Niemand hatte je Egoms Gesicht gesehen, weil er es unter einer weißen Leinenmaske versteckt hielt, die lediglich für Augen, Nase und Mund schmale Schlitze hatte und mit schwarzen, fremdartigen Ornamenten bemalt war. Ein reich besticktes Gewand aus weißer Seide, das in weiten Falten bis auf den Boden fiel, umhüllte seinen gesamten Körper wie ein Insektenkokon. Selbst sein Hals war durch einen hohen Krauskragen verborgen.
In Untersbergen munkelte man, dass Egom mit einer Krankheit geschlagen war, die seine Glieder bis zur Unkenntlichkeit anschwellen ließ und sein Gesicht mit Abzessen und Pusteln zu einer grausigen Grimasse entstellt hatte. Gehäßig und verbittert verbot der Tyrann den Untersbergern jeglichen Ausdruck von Kunst und Lebensfreude. Trotzdem versuchte niemand zu fliehen. Der einzige Weg aus Unterbergen heraus, führte durch die Steiner Höhlen. Keiner von den Untersbergern hatte es je gewagt auch nur einen Fuß dorthinein zu setzen aus Angst vor den schrecklichen Monstern und Geistern die die Höhlen bevölkern sollten.
Um sich bei Laune zu halten veranstaltete Egom einmal im Jahr die sogenannten Spiele. Die Bauern, die ihre Lehnabgaben nicht pünktlich und auf den Pfennig genau bezahlt hatten, wurden zusammengetrieben und zum Zeitvertreib der Zuschauer von Egoms Soldaten so lange gehetzt bis sie zusammen brachen und von seinen Jagdhunden in Stücke gerissen wurden. Wem es gelang die grausamen Menschenjagden zu überleben, was äußerst selten der Fall war, dem wurde die Lehnschuld erlassen. Mit diesem Ansporn erreichte Egom es, dass seine Opfer bis zum letzten Atemzug erbittert um ihr Überleben kämpften. Seiner Meinung nach erhöhte das entscheidend den Unterhaltungswert des unmenschlichen Spektakels.
Alles Feinsinnige und Edle war Egom verhasst und sollte ausgerottet werden. Wer sich seinen Befehlen widersetzte, wurde in den Kerker geworfen und zu Tode gefoltert. Wie ein verdurstender Wanderer, der in der Wüste nach Wasser lechzt, harrte Egom einzig auf den Tag, an dem sich die Verheißung einer Zigeunerin erfüllen sollte. Sie hatte ihm eines Tages ein neugeborenes Mädchen zu Füßen gelegt und prophezeit, dass, falls er sie der schwarzen Sonne opferte, der Trunk ihres Blutes ihm Unsterblichkeit und absolute Macht verleihen wuerde.
Egom wartete seither Jahr für Jahr auf den Tag der absoluten Finsternis. Je mehr Zeit verstrich, desto unzufriedener und grausamer wurde er. Der fünfte Monat, im vierzehnten Jahr seit der Prophezeiung war angebrochen.
„Wer bist du?“, fragte die flüsternde Stimme ein zweites Mal. „Was machst du hier?“, raunte es aus dem eisblauen Nebel der, wie ein aus Zedernrauch und Licht gewebtes Tuch, auf dem gefrorenen See lag. Eufe spürte in ihrem Nacken Schneekristalle, die sich auf ihrer warmen Haut in ein Rinnsaal verwandelten und unter dem schweren Fellumhang, unter dem sie nackt war, an ihrem Rücken hinuntertropften. Sie war barfuß und obwohl sie bis zu den Knöcheln im Schnee versank, empfand sie keine Kälte. „Wo gehst du hin?“ Stille. Plötzlich, ein krachender dumpfer Schlag aus der Tiefe des Wassers, das gegen die erstarrte Schicht des eigenen Körpers ankämpfte. Eufe hörte ein berstendes Knacken, das an den splitternden Stamm eines vom Blitz getroffenen Baumes erinnerte. Vor ihr öffnete sich die schneeverbrämte Eisdecke. Obwohl sie wusste, dass es ihren Tod bedeuten würde, ließ sie sich in die Spalte fallen. Ihr geschmeidiger Körper, auf Fell und Leder gebettet, sank schwerelos in den See. Tausendjähriger Farn spiegelte sich in ihren friedlichen Augen, unter dem tänzelnden Schleier bernsteinfarbener Locken.
Eufe öffnete die Augen. Sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Seit sie denken konnte war sie in den Turm gesperrt und wurde von Brac, dem Festungsmeier Egoms gepeinigt. Er war das Faktotum von Inthorm. Wer ihn zum ersten Mal sah, fiel seine stattliche Größe und seine markanten Gesichtszüge auf. Hätte er seine stechenden blauen Augen nicht unstet, gefährlich flackernd im Turm lauern lassen, die Lippen meist unerbittlich zu schmalen Strichen aufeinandergepresst, wäre er ein gutaussehender, wahrscheinlich sogar anziehender Mann gewesen. So jedoch, glich sein Gesicht einer grotesken Maske, hinter der er seinen Selbsthass versteckte. Wenn er boshafter Laune war, was so gut wie immer der Fall war, furchten sich in seine hohe Stirn horizontale Klaffen. Zwischen seinen Augenbrauen gruben sich dabei zu beiden Seiten tiefe Krater, die ihm das Aussehen eines griesgrämigen Alten gaben. Er verletzte Eufe nie körperlich. Oh nein, seine Torturen waren anderer Art, die weit schmerzhafter waren als brutale Prügel. Er beherrschte Eufe wie eine Spinne, die ihr Opfer in einen zersetzenden Faden aus Speichel und Körpersekretion wickelte, bis es sich nicht mehr rühren konnte und apathisch auf den Tod wartete. Kaum ein Tag verging, an dem er ihr nicht seine Bösartigkeiten wie Gift in den Kopf spritzte: „Du stinkst und bist häßlich. Du bist für nichts Besseres gut als zu verrecken“, bereitete es ihm Genugtun, wenn ihm der gebrochene Blick Eufes seegrüner Augen während seiner Schmähungen ins Netz ging.
Schuld und Angst bestimmten Eufes Leben und ihr Selbstbild. Sie fand ihren langgliedrigen Körper häßlich und abstoßend und schämte sich für jede Gefühlsregung. Sie hatte es sich angewöhnt teilnahmslos in der Turmkammer zu sitzen und glaubte nichts Besseres zu verdienen. Wären nicht Bracs Frau Ullren und sein Sohn Aruc gewesen, die sie täglich in ihrem Gefängnis besuchten, wäre sie irrsinnig geworden vor Einsamkeit und Verzweiflung.
Ullren war das Gegenteil von ihrem Mann. Sie war sanftmütig und gut und es bereitete ihr tiefen Kummer, dass Eufe im Turm eingesperrt war. Nach dem Tod von Ullrens Mutter wuchs sie allein bei ihrem Vater auf, bis er sich mit der eifersüchtigen Gutsherrin Heika vermählte, die Ullren ihre außerordentliche Schönheit neidete. Sobald Ullren alt genug war, nahm sie die Werbung des gutaussehenden Schmiedesohns Brac an und vermählte sich mit ihm. Nach der Heirat zogen sie in Egoms Festung Inthorm, wo Brac eine Anstellung als Burgmeier gefunden hatte. In der ersten Zeit behandelte Brac sie liebevoll und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Nachdem Ullren jedoch ihren gemeinsamen Sohn Aruc zur Welt gebracht hatte, entfremdete Brac sich von ihr. Aus dem ehemals sensiblen und liebevollen Schmiedegesellen war ein launischer, zynischer und bösartiger Handlanger Egoms geworden.
Eines Tages legte er Ullren ein neugeborenes Mädchen in die Arme und befahl ihr, sich um das Kind zu kümmern. Vom ersten Moment an liebte Ullren das Mädchen wie eine Mutter und taufte es auf den Namen Eufe, das soviel wie scheu und fein bedeutet. Doch konnte sie nicht verhindern, dass Brac es, sobald es laufen konnte, in das Turmverlies unterhalb der Zinnen sperrte. Entsetzt von seiner Grausamkeit begann Ullren ihren Mann zu verachten. Um die Zuneigung seiner Frau zurückzugewinnen, erlaubte Brac ihr einen Garten auf dem Turm zu pflanzen. Egom gegenüber rechtfertigte er den Turmgarten als Brennholzquelle bei Belgagerungen. Wie erwartet überzeugte dieses Argument den Tyrannen mit der Bedingung, dass niemand außer Ullren den Garten betreten sollte.
Mittlerweile war die Eberesche, die Ullren selbst in die Erde gesetzt hatte, bis weit über die Burgzinnen hinausgewachsen. Außerdem hatte die Turmmeierfrau Lupinen, Primeln, Amarilis und Glockenblumen gesät, die jeden Sommer so prachtvoll blühten, dass der Turmgarten der bunten Farbpalette eines Malers glich. Einem Traum folgend hatte Ullren unter den schützenden Zweigen der Eberesche ein Hühnergehege gebaut und sieben weiße Hennen hineingesetzt. Gut versteckt, unter den wild wuchernden Fliederbüschen und Goldregenzweigen zog Ullren heimlich Steckrüben, Kohl, Bohnen, Wirsing und Feldsalat, um damit ihre Kinder zu bekochen. Brac durfte nichts davon erfahren, sonst hätte er die Beete aus Angst vor Egom zerstört.
Aruc und Eufe wuchsen wie Geschwister auf, obwohl sie ihre gemeinsame Zeit im Verlies verbringen mussten. Wann immer jedoch Brac beschäftigt war und Ullren sicher gehen konnte, dass niemand sie beobachtete, nahm sie Eufe heimlich mit in den Turmgarten. Aruc war nur selten dabei. Damit sein Vater keinen Verdacht schöpfte, hielt er ihn vom Turmgarten fern und half ihm bei seinen Pflichten in der Festung.
Da Eufe nicht an Tageslicht gewöhnt war, brachte Ullren ihr einen breitkrempigen Strohhut aus ihrer eigenen Kleiderkammer mit. Sie liessen sich unter dem hohen Baum im weichen Gras nieder und Ullren bettete Eufes Kopf in ihren Schoss . Leise, so dass niemand sie belauschen konnte, sang Ullren alte Weisen für ihr Findelkind, die sie von ihrem Vater gelernt hatte, im Angedenken an ihre Mutter, die bei ihrer Geburt gestorben war.
„Ein Weg liegt vor dir, ein Weg der führt dich weit. Dem Ruf des Himmels folgst du, ganz ruhig und frei und leicht. Im Schutze meiner Hände, dein Sein, dein Werden. In mir bist du geborgen, die Liebe ist mit dir. Du lernst vom Baum des Lebens, die Weisheit und den Tanz. Phönix aus Garten Eden zeigt deiner Stimme Glanz. Am Wasser unserer Mutter erkennst du deiner Selbst. Nun schau auf zu den Wolken und wisse wer ich bin. Immram.“
Eufe vergaß in diesen Momenten den beissenden Geruch der Pechfackel, die Tag und Nacht in ihrem Verließ brannte und sog den herrlichen Blumengeruch des Turmgartens in sich auf, der sich mit dem Duft nach Kraeutern und Seifenwasser vermischte, das Ullren in einem Holzeimer aus der Turmkueche mitgebracht hatte, um darin Eufes wunde Finger zu waschen. In den vielen Stunden die Eufe allein im Verlies verbrachte, riss sie oft unbewusst an ihrer Nagelhaut so dass sich ihre Finger oft entzündeten. Sie schämte sich für ihre geschwollenen Hände, die Brac haemisch Bauernbratzen nannte. Deshalb hatte Eufe sich angewoehnt sie in den Taschen ihres braunen Leinenkittels zu verstecken. Ullren nahm Eufes gerötete Finger und tauchte sie behutsam in die sonnengewärmte Lauge in die sie ein dickes Bündel frischer Rosmarinzweige geworfen hatte, um zu verhindern, dass sich gelber Eiterschmär an den Nagelrändern einnistete. Eufe hoffte inständig die Zeit könnte stillstehen und sie dürfte immer so dasitzen, im Halbschatten des Baumes, Vogelgezwitscher und das glockige Plätschern der Seifenlauge im Ohr. Nachdem Ullren Eufes Finger einzeln mit Hanftuch sorgfältig abgetrocknet hatte, strich sie einen Brei aus Bockshornklee, den sie in einem kleinen Tigel aus ihrem Kräuterküchlein mitgebracht hatte, auf die offenen Stellen an Eufes Händen.
Obwohl Eufe nicht gerne über sich sprach, beschäftigte sie ihr Traum und sie berichtete Ullren davon: „Was hat das zu bedeuten Ullren? Wem gehörte die Stimme und warum hat sie mir diese Fragen gestellt? Ich kann doch nirgendwo hingehen“. Ullren wischte sich den überschüssigen Kräuterbrei bedächtig von den Händen und schwieg. Warum hatte sie so einen ernsten Ausdruck dachte Eufe beunruhigt. Ullren war aufgestanden und drehte Eufe den Rücken zu. Ihr langes pflaumenblaues Leinenkleid bewegte sich sacht im Wind. Sie hatte es selbst genäht und mit karminroten Blättern bestickt, die wie leuchtendes Herbstlaub über den fein gewebten Stoff fielen. Ullren blickte zu den weißen Federwolken auf, die, wie ein Schwarm von Zugvögeln auf Wanderschaft an den Zinnen vorbeischwebten. Die raschelnden Blätter der Eberesche raunten im Wind. Sonnenreflexe gleißten auf ihrem strohblumenblonden Haar, dass ihr wie ein glänzender Schleier über den Rücken fiel. Um die Stirn hatte sie sich ein schmales Band aus geflochtenem, mit Johannisbeersaft gefärbtem Hirschleder gebunden. Eufe konnte sich keine schönere Frau als Ullren vorstellen. Sie bewunderte und liebte sie grenzenlos. Ihre Gedanken schweiften zu Brac, der Ullren mit seinen groben Händen berührte. War er Ullren ein guter Mann oder hatte sie genauso Angst vor ihm wie sie selbst? Eufe schlug jedes Mal das Herz bis zum Hals, wenn sie von weitem seine harten Schritte auf den Stufen zu ihrem Verlies hörte. Solange Brac sich in ihrer Nähe befand, wagte Eufe nicht ihren Kopf zu heben. Sie starrte auf die Unebenheiten des Steinbodens und vermied es um jeden Preis ihn anzusehen. „Dummes, unnützes Ding, du glaubst wohl ich merke nicht, dass du dich für etwas Besseres hältst und mich verachtest“, herrschte er sie an. „Dir werde ich den Stolz schon noch austreiben, los verzieh dich in die Ecke, wo du hingehörst du häßliche Fratze.“ Tiefe Schamesröte überzog Eufes Gesicht und weder Aruc noch Ullren erzählte sie je von Bracs gemeinen Worten.
Ullren hatte sich zu ihr umgedreht und ihre sonst so sanften grünblauen Augen, bohrten sich wie ein gusseiserner Schlüssel in Eufes fragenden Blick, als sie eindringlich, jedes Wort sorgfältig abwägend, antwortete: „Amo hat zu dir gesprochen. Es ist an der Zeit mein Kind. Wir können nicht länger warten. Du musst aus Inthorm fliehen, bevor es zu spät ist. Egom wird dich töten, wenn du nicht fliehst.“ Eufes Hände zitterten und sie starrte die Frau des Festungsmeiers, der sie mehr als sich selbst vertraute, erschüttert an. Der blinde Zauber des Nachmittags war gebrochen. Sie spürte wie ätzende Tränen der Angst in ihr aufstiegen. Weine nicht. Weine nicht. Weine nicht, wiederholte sie ohne Unterlass im Stillen. Sie hatte es doch immer gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde und er sie holen kam. Dann hatte sie es wenigstens hinter sich. Eine Waldameise, die emsig einen Reisighalm auf dem Rücken transportierte, kroch über ihr nacktes Bein. Es kitzelte. Eufe ließ sie gewähren. Die Ameise strebte voller Lebenskraft ihrem Ziel entgegen. Sie suchte sich ihren Weg und ließ sich von keinem Hindernis aufhalten. Aber sie selbst hatte weder einen Weg, dem sie folgen konnte, noch eine Aufgabe, nur die Bestimmung für Egom zu sterben. Eufe wiegte ihren Oberkörper apathisch vor und zurück. Sie sah und spürte nichts mehr, außer der Ameise. Ullren kniete sich neben Eufe und nahm ihren Kopf in beide Hände: „Sieh mich an Eufe, sieh mich an. Du wirst nicht sterben. Dein Traum bedeutet nicht Tod, sondern Neubeginn. Unser himmlischer Vater und unsere Mutter Erde haben dich gerufen. Nichts Böses wird dir geschehen. All die Jahre in diesem Turm haben dich vorbereitet auf deine Aufgabe. Ihre drei Fragen an dich bedeuten, dass du auf deinem Weg erkennen sollst, wer du bist, warum du hier bist und wohin du gehst.“ „Für mich gibt es keine Ho- Ho-ffnung“, stotterte Eufe und versuchte krampfhaft das Weinen zurückzuhalten. Je mehr sie sich bemühte ihre Angst und Verzweiflung zu verdrängen, umso stärker verlangte ihr Körper nach einem Ventil. Tränenlose Schluchzer schüttelten sie wie eine Stoffpuppe, die von einem zerstörungswütigen Hund im Maul gebeutelt wurde. „Wie könnte ich Brac-c-c entko-oo-m-mmen. Er hass-tt mmm iich und wüürd ee mich nie gegehen llalassen“, stammelte sie unter Aufbietung all ihrer Beherrschung. „Weine Eufe, halte die Tränen nicht zurück. Weinen ist gut. Ich bin bei dir und werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht liebe Eufe“, tröstete Ullren sie und nahm sie fest in die Arme. Eufe versteckte ihr Gesicht in den dichten, welligen Haaren Ullrens, die nach Zitronengrass und Myrre rochen. Sie erinnerte sich an etwas längst Vergangenes, dass sie verloren hatte, ohne zu wissen was es war. Eine unsagbare, ohnmächtige Traurigkeit brach über sie herein wie eine riesige Welle, die alles unter ihren Wassermassen begrub. Eufe klammerte sich an Ullren wie eine Schiffbrüchige, die in der Sturzflut ihres jahrelang aufgestauten Schmerzes zu ertrinken drohte. Es war ihr, als ob eine eiserne Rüstung von ihrem Herzen abfiel, die ihr, seit sie denken konnte, die Luft zum Atmen genommen hatte. Sie weinte bitterlich.
Ullren wiegte sie unablässig in ihren Armen und summte leise ein Wiegenlied.
„Meine Schöne, meine Kleine, weine ,weine, weine. Meine Liebe ist mit dir ...“
Allmählich wurden die heftigen Schluchzer Eufes seltener, bis sie nur noch leise vor sich hin weinte.
„Ich weiß nicht was aus mir werden soll ohne dich und Aruc. Wo soll ich nur hingehen?“
„Aruc wird dich begleiten. Er wird auf dich aufpassen.
„Was wird aus dir Ullren? Was wird Brac mit dir machen, wenn er herausfindet, dass du mir geholfen hast?“ „Mach dir keine Sorgen darüber mein Kind. Mir tut er Nichts. Auch wenn er nach außen hin hart und böse wirkt. Ich kenne sein Herz“, beruhigte Ullren sie. „Er hat keine Macht über dich und mich. Er hat sie nicht einmal über sich selbst. Unser aller Leben ist einzig in der Hand Amos.“ Ullren strich sanft über Eufes Kopf, während sie sich langsam aufrichtete, um ein noch brutwarmes Ei aus dem Hühnergehege zu nehmen. Daraufhin kratzte sie behutsm mit ihren schlanken Fingern abblätternde Rindestreifen vom Stamm der Eberesche. Sie löste den Lederriemen ihres Taillenbeutels und holte ein Fläschchen mit Honigschnaps hervor. Vorsichtig schlug sie das Ei gegen den Baum und schüttete Dotter und Klar auf die Erde. Dazu goss sie einige Tropfen des Mets, den sie im vergangenen Frühjahr aus Kleehonig gebraut hatte, und streute die Baumrinde darüber. Sie bückte sich und pflückte von ihrem Kräuterbeet frische Tymianzweige, deren Blätter sie einzeln abzupfte und über die Eiermasse auf die Erde fallen ließ.
Während ihrer Vorbereitungen raunte Ullren:
„In der Unendlichkeit von Himmel, Sonne, Mond, Sterne und Wolken, sei dir gewährt Schutz auf deinem Weg. Das Wissen um dich selbst und die Geheimnisse des Universums eröffnen sich dir. Mut und Kraft verlassen dich nie bei der Vollendung deines Seins. So spreche die Worte: ´Ich glaube`“. Ehrfürchtig wiederholte Eufe mit einer ihr bislang fremden Stimme, die die Worte in ihren Schläfen vibrieren ließ, bis sie anschwollen und sich wie eine Kupel über sie spannte. Eufe empfand eine nie gekannte Gewissheit in ihrem tiefsten Inneren, dass ihr eine Verwandlung bevorstand, die sie weder verhindern, noch steuern konnte. Ullren nahm ein linnenes, blaues Kopftuch aus ihrem Beutel und wischte die Masse sorgfältig von der Erde auf. Sie wendete sich Eufe zu, nahm ihr den Strohhut vom Kopf und legte ihn neben sich auf die Erde. Unaufhörlich murmelte sie ihre Zauberformeln und band Eufe das durchtränkte, stark nach Tymian und Honigschnaps riechende Tuch um den Kopf. „Lass deine Stärke wirken, lass alle Zweifel fahren. Du bist schön und gut. Du bist eine Schülerin der großen Wege. Vertraue, ganz egal wie sehr dein Verstand dich oft prüfen möge, vertraue auf deine göttliche Essenz. Dein Vermächtnis ist die Liebe“. Als Ullren zu Ende gesprochen hatte, legte sie ihre Hände segnend auf Eufes Kopf.
Ullren hatte Eufe zurück in ihr Verlies gebracht. Brac und Aruc waren mindestens noch ein paar Stunden beschäftigt, um eine undichte Stelle im Dach der Festung mit Steinen, Lehm und Baumrinde auszubessern. Obwohl Ullren versuchte hatte sich Eufe gegenüber nichts anmerken zu lassen, war sie innerlich aufgewühlt. Die Zeit des Handelns war gekommen. Eufes vierzehnter Geburtstag stand unmittelbar bevor. Sie liebte das Mädchen wie eine eigene Tochter. Um keinen Preis durfte Egom sie der Schwarzen Sonne opfern. Auch Aruc musste fliehen aus dem Gefängnis seines Lebens in Inthorm, wo er nur Unterdrückung, die Gefühlskälte seines Vaters und die rauhen Sitten der Soldaten kennenlernte. Ihre Kinder waren jetzt groß genug, um ihren eigenen Weg zu gehen. Und selbst wenn es ihren eigenen Tod bedeutete, würde sie alles tun um ihnen zur Flucht zu verhelfen. Sie musste Aruc überzeugen gemeinsam mit Eufe zu fliehen. Ullren erinnerte sich an den erbitterten Streit den Aruc vor wenigen Tagen mit seinem Vater ausgefochten hatte. Er war spät nach Hause gekommen und seine Kleidung war prägniert von einem abgestandenen Geruch, nach Ruß, Schnaps, Lorbeer und gebratenem Hirschfleisch, der die Stunden verriet, die er im Brunnenwirtshaus von Steinern in der Gesellschaft des Schankmädchens verbracht hatte.
Nein, sie konnte beruhigt sein, er würde keine Minute zögern. Seit er als kleiner Junge auf ihren Schultern geritten war und zu den Burgzinnen in den Himmel gespäht hatte, um den Flug des Adlers zu beobachten. Seit damals war es sein einziger, leidenschaftlicher Wunsch in die Welt hinaus zu ziehen. Er wollte frei sein, Abenteuer erleben und die beengte, triste Welt des Turms hinter sich lassen. Er liebte Eufe wie eine Schwester. Natürlich würde er mit ihr gehen. Sie müßte ihn nur glauben machen, dass ihr selbst keine Gefahr drohte, wenn sie in Inthorm zurückblieb. Ullren ging nervös auf und ab in ihrem Gemach. Obwohl es bereits Mai war, brannte ein Feuer im Kamin, das seine züngelnden Schattenbilder an die fensterlose Wand aus nackten Steinquadern warf. Außer einer deckenhohen Pechfakel gab es keine weitere Lichtquelle. Ullren wusste, dass sie keine Zeit verlieren durfte. Sie musste die Vorbereitungen für Eufes und Arucs Flucht treffen, solange Brac beschäftigt war.
Obwohl Ullren sich nichts mehr als die Freiheit für ihre Kinder wünschte, war sie, jetzt als sie greifbar nahe schien, zutiefst traurig. Wie sehr würde sie Aruc und Eufe vermissen. In all den Jahren verging kein Tag an dem sie sich nicht zu den Kindern in den Turm setzte und ihnen stundenlang Geschichten erzählte. Die drei vergaßen dann, dass sie in einer dunklen staubigen Kammer auf Reisigbündeln hockten. Sie ließen Raum und Zeit hinter sich und wurden selbst Teil der Geschichten. Im Laufe der Zeit hatte Ullren sich und den Kindern eine eigene Welt erschaffen, weit weg von den tristen Mauern des Turms und der grausamen Herrschaft Egoms.
Nein, sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, sie musste sich konzentrieren und nachdenken. Es gab nur drei Wege aus dem Turm. Entweder durch das Haupttor direkt an den Wachen vorbei oder über den Geheimgang, der am Flussufer mündete, wo der griesgrämige Fährmann Kent mit seinem Floß bereitstand. Allerdings war mit seiner Hilfe kaum zu rechnen oder ... Ullren wagte die dritte Möglichkeit nicht einmal zu Ende zu denken. Sie musste einen Weg finden Eufe durch einen Vorwand an den Wachen vorbei zu schleusen. Hatten sie es einmal bis zum anderen Ufer geschafft, lag der schwierigste Teil jedoch erst noch vor ihnen: die Steiner Höhlen. Es war ihre einzige Chance, Egom, Inthorm und ganz Unterbergen hinter sich zu lassen.
Ullren spürte wie sich die feinen Härchen an ihren Armen aufstellten und eine Kältewoge ihren Körper erschauern ließ. Die verbotenen Höhlen. Es war der einzige Ausweg. Und auch wenn noch niemand vor ihnen es gewagt hatte die Höhlen zu betreten, wusste Ullren instinktiv, dass dahinter eine bessere Welt auf Aruc und Eufe wartete. Sie mussten es durch die Höhlen schaffen, koste es was es wolle. Fallada wird sie sicher durch die Höhlen bringen. Der Gedanke an ihre treue Schimmelstute, die so stark und groß war wie ein Stier, stimmte Ullren zuversichtlich. Doch wie würde sie Brac ablenken? Für dieses Problem kam nur eine Lösung in Frage. Entschlossen stieß sie die schwere Tür ihrer Kammer auf, raffte ihr langes Kleid in der Taille zusammen und eilte über den Gewölbegang zur Kräuterküche, die sich am Ende des östlichen Teils der Festung befand.
Das Betreten des nördlichen Teils von Inthorm war ihr strikt verboten. Ein Giftzackenbesetztes Eisenportal schottete dort Egoms Gemächer vom Rest der Festung ab. Ullren war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie beim Betreten der Küche fast nicht auf das schleifende Geräusch geachtet hätte, das hinter dem Eisenportal beunruhigend hervorkroch. Für einen Moment hielt sie inne und lauschte. Schwere Schritte schleppten sich voran, gefolgt von einem dumpfen Ton von Holz, das beharrlich auf Stein traf. Das musste Egom sein, der, auf seinen Stock gestützt, durch seine Gemächer humpelte. Erneut erschauerte sie es. Die feinen Poren ihrer Unterarme schwollen an und hinerließen eine Gänsehaut. Es gab kein Zurück, ihr Plan musste gelingen. Aus einem kleinen Lederbeutel an ihrer Taille, nahm Ullren ein daumengroßes Stück der Alraunenwurzel, die sie beim letzten Neumond in ihrem Garten geschnitten hatte und warf sie in einen irdenen Topf, den sie über der offenen Feuerstelle erhitzte. Danach fügte sie Honigmet hinzu und ließ die Flüssigkeit so lange köcheln bis der Wein zu einem Dritten seiner ursprünglichen Menge geschrumpft war. Den Rest seihte sie durch ein sauberes Linnen und füllte es in das Silberfläschchen, dass sie wieder in ihrem Beutel versteckte.
Mit diesem Trank würde Brac eine Nacht und einen guten Teil des darauffolgenden Tages bewusstlos sein. Den Wachen würde sie erzählen, dass Brac ihr aufgetragen hatte, Eufe von den Sumpfgeistern reinigen zu lassen. Sie hoffte inständig, dass Niemand Verdacht schöpfte und die Wachen sich ihnen nicht in den Weg stellen würden. Falls sie es doch taten, dann gab es nur noch einen Weg aus der Festung ...
Aruc setzte einen Fuß nach dem anderen auf die Sprossen der schwankenden Holzleiter und vermied es nach unten zu schauen. Seine Hände klammerten sich verkrampft an die oberste Sprosse. Ein Rinnsaal aus Angstschweiß tropfte ihm von der Stirn in die Augen. „Stell dich nicht an wie eine Memme und mach ein bisschen schneller so lange wir noch Licht haben“, herrschte ihn sein Vater von unten an. Aruc hasste sich selbst für seine Feigheit. Warum konnte er nicht wie die anderen Jungen seines Alters Freude empfinden bei riskanten Kletterunternehmungen? „Los mach endlich Junge, ich bin es leid zu warten. Und wenn du zu feige bist, dann sag es gleich und ich rufe jemanden, der sich geschickter anstellt.“ Aruc biss die Zähne zusammen und zog sich über die letzten beiden Sprossen nach oben. Er vermied es ruckartige Bewegungen zu machen und hielt sich verbissen an der Leiter fest, während er versuchte mit der linken Hand ein Seil unter dem Dachstuhl zu befestigen, um damit die Arbeitsmaterialen in einem Korb nach oben zu ziehen. Er war so angespannt, dass es ihm erst beim dritten Versuch gelang. Er spürte wie Bracs Augen förmlich in seinen Rücken stachen und ihn fast von der Leiter stürzten, hätte er sich nicht mit aller Kraft dagegen gewehrt. In seinem Geiste wiederholte er fortwährend einen Satz: Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei.
Diesen Spruch hatte seine Mutter ihn gelehrt, nachdem er von den Söhnen der Wachmänner gehänselt und verprügelt worden war. Sie verachteten ihn, weil er es vorzog bei Eufe in der Turmkammer seine Zeit zu verbringen, anstatt sich bei ihren perversen Spielen zu beteiligen, bei denen so manche Spinne, Käfer, Maus oder Katze grausam ihr Leben langsam und stückweise verloren. Als er versuchte sie davon abzuhalten ein neugeborenes Katzenjunges zu ertränken, dass sie johlend der fauchenden und kratzenden Mutter weggenommen hatten, stürzte sich die Meute rasend vor Wut auf ihn. Zerstörungslust, einer sich gegenseitig aufwiegelnden Bubenmeute, entlud sich hemmungslos an seinen Gliedern. Er versuchte sich zu wehren so gut er konnte, aber fünf gegen einen war einfach zu viel. Wie von Sinnen schlug er um sich, schrie, biss und riss an den Haaren seiner Gegner. Seine Nase triefte, das Blut pochte unter der dünnen Haut seines linken Auges. Eine Faust hatte ihn auf die Lippe getroffen. Er schmeckte den leicht süßlichen Geschmack von Blut in seinen Mundwinkeln. Tränen der Wut und des Schmerzes machten ihn blind. Als die wütende Meute von ihm abließ, weil sie die Schritte von Ullren hörten, die vom Lärm der Rauferei alarmiert herbei geeilt kam, blieb er in einem erbarmungswürdigen Zustand in der Lache der umgefallenen Holzwanne liegen, in der die Leiche des Katzenjungen wie ein struppiger grauweißer Wollknäuel trieb.
Noch nie in seinem Leben hatte Aruc seine Mutter so erschüttert und außer sich gesehen. Sie nahm ihn weinend in ihre Arme, bedeckte ihn mit Küßen und wiederholte immer wieder diesen einen Satz, der ihn während seiner Kindheit begleiten sollte wie ein treuer, beschützender Hund: Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei.
Von diesem Tag an machten die Jungen einen großen Bogen um Aruc. Er vermutete, dass seine Mutter, Perchta, den Anführer der Bande, zur Rede gestellt hatte, nachdem sie ihn mit Ringelblumensalbe und heißer Honigmilch versorgt hatte und ihm eine seiner Lieblingsgeschichten erzählt hatte. Obwohl seine Mutter ihm nichts über ihre Begegnung mit Perchta erzählt hatte, musste sie auf den sonst großmauligen, groben Jungen Eindruck gemacht haben. Wann immer er fortan in die Nähe von Ullren kam, senkte er seinen Blick, dämpfte seine laute auftreiberische Stimme und machte sich so schnell es ging aus dem Staub. Von jenem Tag an, traute sich keiner der Jungs mehr Aruc zu belästigen.
„Zieh endlich den Korb nach oben“, riss ihn die ungeduldige Stimme seines Vaters aus seinen Gedanken. „Mach schon“. Obwohl es ihm noch immer schwindelte vor Höhenangst, versuchte er seine Schultern zu lockern und wiederholte unabläßig seinen Zauberspruch. Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei. Aruc atmete tief durch und konzentrierte sich auf die undichte Stelle des Dachs. Mit den Augen maß er ein passendes Stück Rinde im Korb ab und befestigte es mit feuchter Moosstopfe über dem Loch. „Na also geht doch“, kläffte Brac ungeduldig von unten. Aruc ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und seine Lippen entspannten sich zu einem zufriedenen Lächeln.
Eufe saß auf der Holzpritsche im Turmverlies und betastete ihren Kopfverband. Ullren hatte ihr befohlen ihn erst am nächsten Morgen abzunehmen und darauf zu schlafen. Wie sollte sie jedoch Schlaf finden? Sie war innerlich aufgewühlt, sie hatte Angst und gleichzeitig spürte sie ein verheißungsvolles Zittern am ganzen Körper. Gab es ein Leben außerhalb dieser grauen Mauern, die sie langsam erstickten? Wie war sie in diesen Turm gekommen? Wo kam sie her? Wer waren ihre Eltern und warum ließen sie es zu, dass Egom sie gefangenhielt? Selbst Ullren hatte ihr nie eine Antwort auf diese Fragen gegeben.
Im Traum sah sie sich einmal ohne Mittelfinger. Er fehlte einfach an ihrer linken Hand. Sie empfand mehr, als dass sie es regelrecht gesehen hatte, dass eine eigentümliche Kraft von ihr ausging. Es musste mit dem fehlenden Finger zu tun haben, aber auch mit Etwas, das vor ihr auf dem Boden lag. Sie konnte nicht sehen, was es war. Als sie Ullren fragte, was der abgeschnittene Finger zu bedeuten habe, erklärte sie ihr, dass der Mittelfinger ein Symbol für den Vater sei.
Es war dunkel und durch eine schmale Ritze der kalten Steinquader, die sie von der Außenwelt abschirmten, fiel ein dünner Strahl silbernen Mondlichts in ihren Schoß. Plötzlich funkelten kleine Glühwürmchen in ihrem Verlies. Es schien, als ob ein Stück Sternenhimmel in ihr Gefängnis Einzug gehalten hatte. Ehrfürchtig faltete Eufe die Hände und flüsterte: „Amo, lass mich die Antworten auf die Fragen finden, die du mir in meinem Traum gestellt hast. Lass mich erkennen wer ich bin, warum ich hier bin und wohin ich gehen soll.“
2. Die Flucht
Ullren lauschte. Ein Uhu gurrte schnarrend im Wald. Zwei Käuzchen begannen ein ausgedehntes Liebesspiel. Die hallenden Schritte der abgelösten Wachen entfernten sich langsam und verklangen allmählich auf den kalten Steinplatten des Kreuzganges, der zu den Gemächern des Festungsmeiers führte. Brac lag leise schnarchend neben ihr unter dem tannengrünen Samtbaldachin ihres Ehebettes und wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte bis die Alraunenwurzel Bracs Nervensysthem vollständig lahm legen würde. Er hatte ohne Hintergedanken ein volles Glas Met getrunken, das Ullren mit der Flüssigkeit aus dem Fläschchen ihres Taillenbeutels vermischt, und ihm vor dem zu Bett gehen gereicht hatte. „Bitte Amo lass die Flucht gelingen und hilf den Kindern ihren Weg zu finden“, flehte sie mit der Kraft ihres ganzen Herzens.
Egom hasste Amo und hatte jeglichen Kult der Naturgöttin verboten, die die Unterberger, bis zur Thronbesteigung Egoms, als ihre Erdmutter angebetet hatten. Stattdessen zwang er das Volk ihn zu verehren. Zu diesem Zweck hatte Egom eine goldene Statue, die ihn triumphierend auf einem Drachen reitend darstellte, auf dem höchsten Gipfel von Unterbergen errichten lassen.
Endlich waren Bracs Atemzüge gleichmäßig und sein Körper ruhte totenstarr auf der Bettstatt. Ullren schlug die, mit Gänsedaunen gefüllte, Leinendecke zurück und ließ sich lautlos auf den Boden gleiten. Obwohl sie wusste, dass Brac noch viele Stunden betäubt war, wagte sie nicht die Kammerfackel anzuzünden. Sie tastete in der Finsternis nach ihrem wollenen Unterkleid und warf es sich über ihren zitternden Körper. Sie fragte sich, ob es dem Nachtfrost zuzuschreiben war oder ihrer inneren Erregung, dass ihr Körper wie ein überspanntes Seil vibrierte und sie ihre Hände kaum unter Kontrolle halten konnte. Sie griff nach ihren wildledernen Stiefeln, die sie vorsorglich unter dem Bett versteckt hatte, schlüpfte barfuß hinein und schlich sich zur Tür, die leicht knarzte als sie den Knauf herunterdrückte. Vorsichtig spähte sie den spährlich beleuchteten Gang entlang. Keiner der Wachen durfte sie sehen. Unbemerkt und mit laut pochendem Herzen gelangte sie zur Kleiderkammer, wo sie die Rucksäcke, die sie für Eufe und Aruc gepackt hatte, vorsichtig aus ihrem Versteck holte.
Hoffentlich konnten Eufe und Aruc Schlaf finden. Die Flucht würde alles von ihnen abverlangen. Es war wichtig, dass sie ausgeruht waren. Obwohl Aruc nichts mehr ersehnte als dem Turm zu entkommen, wollte er zuerst nicht ohne seine Mutter gehen. Sie musste stundenlang auf ihn einreden bis er ihr glaubte, dass ihr keine Gefahr drohte, wenn sie alleine in Inthorm zurückblieb. Als sie die Angst in seinen Augen sah, hatte sie ihn umarmt und ihm zugeflüstert: „Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei“. Aruc hatte ihr geantwortet wie früher, wenn er sich als Kind in ihre Arme geflüchtet hatte: „ Es gibt nichts zu fürchten, ich bin stark und frei.“ Es zerriss Ullren fast das Herz ihn gehen zu lassen, aber sie wusste, dass seine einzige Chance ein erfülltes Leben in Freiheit zu führen, die Flucht aus Inthorm war. Koste es was es wolle. Selbst wenn keiner der Unterberger sich vorstellen konnte, dass hinter den Höhlen die Freiheit lag. Ullren wusste es besser. Amo hatte ihr im Traum gezeigt, dass die Freiheit dort auf sie wartete.
Sie hastete den dämmrigen Gang entlang und erreichte die steile Wendeltreppe, die sie bis zum Haupttor der Festung bringen würde. Von dort aus musste sie unbemerkt in den Stall gelangen und die Ranzen in Falladas Satteltaschen verstecken. Sie gönnte sich keine Verschnaufpause und gelangte atemlos in den Innenhof von Inthorm. Obwohl es kalt war, war ihr Wollkleid feucht von den salzigen Schweißtropfen, die an ihren Armen und Rücken herunter rannen. Mit der Hand wischte sie sich eine klebrige Haarsträhne aus der Stirn. Immerhin war sie unbehelligt bis hierher gelangt. Im Stall roch es nach frischem Stroh, Pferdedung und Leder. Sie liebte diesen Ort. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, besuchte sie Fallada. Die prächtige Schimmelstute stand mit gespitzten Ohren in ihrem Verschlag und hatte Ullren bereits an ihren Schritten erkannt. „So meine Schöne, es ist soweit. Aruc und Eufe werden fliehen. Ich bitte dich meine Kinder sicher durch die Höhlen zu bringen. Versprich mir, dass du ihnen nichts geschehen läßt.“ Fallada schnaubte heftig und stupste Ullrens erhitzte Wangen mit ihren weichen Nüstern an. „Selbstverständlich passe ich auf die beiden auf. Mach dir keine Sorgen.“ Falladas Fell war weiß wie die Spitzen einer frisch gesprungenen Jasminblüte im Morgentau. Sie maß knapp neun Fuß und Ullren musste sich an ihrer welligen, silbergrauen Mähne, die fast bis zum Boden reichte, hochziehen, um auf ihren breiten Rücken zu gelangen. Ihre Vorder- und Hinterläufe waren ausgeprägt und fast so stark wie von einem Stier. Dennoch wirkte das Pferd grazil und königlich. Sie ließ niemanden außer Ullren und Aruc auf sich reiten. „Du wirst Eufe gern haben Fallada. Ich habe ihr schon so viel von dir erzählt. Endlich wird sie dich kennenlernen.“ Wieder schnaubte Fallada ungeduldig und peitschte ihren dichten Schwanz gegen die Holzwand der Box. Ullren musste unwillkürlich lächeln. „Eufe ist gut aufgehoben bei mir“. Durch Falladas Körper lief ein leichtes Schauern, während sie ihren edlen Kopf auf Ullrens Schulter legte. „Ich muss zurück und die Kinder holen Fallada. Du weißt was du zu tun hast. Danke meine Schöne, danke“, flüsterte Ullren und umarmte die Stute heftig. Fallada blieb gebückt vor Ullren stehen, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen.
Der Morgen graute. Nebelschwaden hingen dicht über den Moorfeldern, die Inthorm umgaben. Die Wachen froren unter ihren grobgewebten Sommerumhängen. Müde und gereizt gingen sie an der Festungsmauer auf und ab und ersehnten die Ablöse, um sich so schnell wie möglich mit einem heißen Krug Met auf ihren harten Holzbritschen in den Soldatenkammern auszustrecken. „Lang mache ich das doppelte Wacheschieben nicht mehr mit“, schimpfte der Bulligste von ihnen. Er nannte sich Veltron und war der Vater von Perchta, der Anführer der Bubenbande, der Aruc so böse zugerichtet hatte. Veltron hasste die Frau des Festungsmeiers und konnte es nicht verwinden, dass sein Stepke ausgerechnet vor einem Weib Schwäche gezeigt hatte und seit des Vorfalls nicht mehr der Redelsführer unter den Jungen war. Was bildete sich diese dahergelaufene Dorfschlampe mit ihren geheimnisvollen Kräutermixturen überhaupt ein. Als Hexe sollte sie verbrannt werden, genau wie dieses magere, verschreckte Hühnchen im Turmverlies. Schritte näherten sich. Er traute seinen Augen nicht. Was wollte ausgerechnet die Hexenschlampe mit ihrem missratenen Sohn und der Turmgefangenen zu dieser Stunde im Burghof? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Böse grinsend beschloss er ihren Plan zu durchkreuzen, was auch immer sie im Schilde führen sollte. Er würde sie bestrafen.
„Veltron öffne das Tor für mich und meinen Sohn. Wir bringen die Gefangene zur Moorfraune, um ihren Geist reinigen zu lassen. Brac befiehlt es, damit sie würdig sei, für Egom ihr Blut zu geben. „Herrin, zeig Bracs Bescheid, sonst wird dieses Tor weder für euch, noch sonst jemanden geöffnet“, entgegnete ihr Veltron gönnerhaft. „Du wagst es an meinem Wort zu zweifeln? Ich werde meinem Mann über deine Unverschämtheit Bericht erstatten und wehe sei dir Wächter“. Ullren versuchte hart und überzeugend zu klingen. Aber sie wusste selbst, dass sie nichts auszurichten vermochte, wenn Veltron sich ihr widersetzte. Der Wächter rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle und schaute sie herausfordernd an, ohne ein weiteres Wort an sie zu richten. Was sollte sie tun? Die Flucht musste durchgeführt werden, solange Brac betäubt war. Sie durften keine Zeit verlieren. Aruc und Eufe standen betreten neben ihr und sagten kein Wort. Ullren konnte ihre Angst und Mutlosigkeit förmlich riechen. Sie musste irgendetwas sagen, irgendetwas unternehmen. Amo was sollen wir tun? Hilf uns! Wir dürfen nicht hier, noch vor dem Anfang, verlieren! Von der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes, wo sich der Stall befand, hörte Ullren lautes Wiehern und Hufgestampfe. Obwohl sich die Szene am Tor in wenigen Sekunden abspielte, erschien es Ullren wie eine halbe Ewigkeit. Sie geriet in Panik, durfte sich aber weder vor den Kindern, noch vor dem Wächter etwas anmerken lassen. Es blieb ihnen nur ein Ausweg, der Sprung von den Zinnen in den Fluss. Allein bei dem Gedanken wurde Ullren übel. Ausserdem hatte sie dabei nicht bedacht, wie Fallada aus der Festung gelangen sollte. Wohl kaum mit Veltrons Einwilligung. Wieder wieherte Fallada und trat nervös gegen die Box. Ullren spürte die Botschaft ihrer Stute: „Mach dir um mich keine Sorgen, ich komme schon aus der Burg. Sie müßen es wagen.“ Ullren wurde schlagartig bewusst, dass Fallada recht hatte. Auf normalen Weg würden die Kinder nie aus der Festung gelangen. Sie mussten das Risiko auf sich nehmen und in den Fluss springen. Es war ihre einzige Chance.
Gefasst richtete sie sich an Veltron, der sie erwartungsvoll anstarrte und sich an ihren ratlosen Minen weidete.
„Wächter, wisse, dass ich diese Ungehörigkeit nicht durchgehenlassen werde und meinem Mann darüber berichten muss.“ Immer noch hoffte Ullren, dass Veltron doch noch das Tor für sie öffnen würde.
„So sei es Herrin, ich tue nur meine Pflicht.“ Veltron schaute sie herausfordernd an und grinste dabei.
„Aruc folge mir mit der Gefangenen. Wir werden mit deinem Vater über diesen Vorfall sprechen müssen“. Als sie ausser Sichtweite waren und hintereinander die steilen Stufen von Inthorm hinaufkletterten, erzählte sie Aruc und Eufe flüsternd von ihrem Plan. „Ihr müßt in den Fluss springen und ans andere Ufer schwimmen. Bis wir oben angelangt sind, ist es hell genug.“ „Mutter, du weißt doch, dass ich schwindelig werde in der Höhe. Das werde ich nie und nimmer über mich bringen“. Vor Angst hatte Aruc jegliche Vorsicht vergessen und laut gesprochen, so dass seine Worte in den hohen Gewölben der Burg widerhallten. „Leise Aruc, leise ich bitte dich“, flüsterte Ullren und legte ihrem Sohn den ausgestreckten Zeigefinger auf den Mund. Eufe war noch blasser als gewöhnlich und sagte kein Wort. Schritt für Schritt setzte sie einen Fuss nach dem anderen auf die Stufen und kam ihrem Turmverlies erbarmungslos näher. Besorgt beobachtete Ullren, dass sie am ganzen Leib zitterte. „Aruc, es gibt nur diesen einen Weg. Amo ist bei euch und wird euch beschützen. Es ist Eufes einzige Chance lebend aus Inthorm heraus zu kommen.“ Aruc ballte die Hände zu Fäusten und unterdrückte einen heftigen Aufschrei, der ihm die Kehle zuschnürte. „Aruc bitte, glaub an dich und an deine Stärke. Ich bin deine Mutter, ich weiß das du es kannst.“ Aruc war stehen geblieben und drehte sich zu Eufe um, die wie in Trance hinter ihm hergegangen war und ihren Blick starr zu Boden gerichtet hielt. „Warum sagst du nichts? Los sag endlich was“, herrschte Aruc sie ungehalten an. „Schließlich geht es um dein Leben, um dein Schicksal“. Aruc legte seine unbeholfenen Jungenhände auf Eufes gebeugte Schultern und schüttelte sie. „Aruc hör auf, lass sie“. Ullren war schützend hinter Eufe getreten und streichelte beruhigend über ihren zitternden Rücken. „Ich, ich kann doch nicht schwimmen“, stammelte Eufe schließlich leise ohne ihren Blick aufzurichten. Die Kapuze ihres Umhangs verdeckte ihr Gesicht. Lautlose Tränen tropften vor ihr auf den Steinboden. Ihr ganzer Körper vibrierte. Aruc hatte noch nie soviel Hoffnungslosigkeit und Trauer gespürt wie in diesem Moment, nicht einmal als er zerschunden und blutend vor der Holzwanne mit dem toten Kätzchen kniete. Wie konnte er es nur vergessen: Es gibt nichts zu fürchten. Ich bin stark und frei. Er würde nicht weiter als Opfer seiner Angst leben. Nein, er würde handeln, hier und jetzt. Er würde es schaffen Eufe zu befreien.
Aruc kniete vor Eufe auf der Treppe nieder und nahm ihre kalte, zitternde Hand in die seine. Er schaute ihr tief in die tränenüberflossenen Augen und erklärte mit fester Stimme: „Ich werde dich auf meinem Rücken tragen und auf die andere Seite bringen. Wir werden es schaffen. Du kannst dich auf mich verlassen.“ Ullren stand sprachlos hinter Aruc und Eufe und merkte erst, dass sie weinte, als Aruc sie besorgt fragte: „Mutter, was hast du? Warum weinst du?“ Lächelnd beeilte sie sich über die Augen zu wischen. „Nichts Aruc, nichts, es ist nur ... ich bin sehr, sehr stolz auf dich.“
Sie erreichten das Turmplateau ohne weiteren Zwischenfall und noch bevor die Wachen auf sie aufmerksam werden konnten, waren sie bereits hinter der Dornenhecke verschwunden, die Ullrens Garten vor neugierigen Blicken bewahrte. Ohne einen Laut von sich zu geben, winkte Ullren Aruc und Eufe zu der Eberesche, die meterhoch über die Zinnenmauer ragte. Mittlerweile war es fast hell geworden. Der Himmel war grau. Es war kalt und regnerisch.
Ullren beobachtete ihren Sohn und Eufe wie sie vorsichtig und konzentriert einen Schritt vor den anderen setzten, ständig bedacht darauf, auf keinen der Äste zu treten, die nach dem Gewitter der vergangenen Nacht überall verstreut lagen. Jeder Laut würde die Wachen auf sie aufmerksam machen. Aruc hatte Eufe an die Hand genommen und führte sie behutsam durch den Garten. Seine dunklen, dichten Locken hatten seine Kapuze auf die Schultern verdrängt. Tiefe Schatten betonten das dunkle Blau seiner Augen, dass an einen Sommerhimmel kurz vor Sturm erinnerte. Wie oft hatte Ullren ihn beobachtet, wenn er mit sehnsüchtigem Blick in die Ferne geschaut und gedankenverloren auf seiner breiten Oberlippe gekaut hatte, um sie im nächsten Moment verlegen anzugrinsen, wenn er sich ertappt fühlte. Ernst und Entschlossenheit lag jetzt in seinem Blick und Ullren wusste, dass ihr halbwüchsiger Sohn auf dem besten Weg war ein mutiger und guter Mann zu werden.
Ullren drehte sich nach allen Seiten um und vergewisste sich, dass keiner der Soldaten ihnen gefolgt war. Dann hastete sie leise zu Aruc und Eufe, die sie erwartungsvoll anschauten. Flüsternd erklärte Ullren: „Wir steigen über den Baum auf die Zinnen. Dort binde ich jeweils eine eurer Hände zusammen, damit ihr euch beim Sprung und unter Wasser nicht verliert.“ Ullren hielt inne und legte ihre Hand auf Eufes Schulter: „Du brauchst keine Angst zu haben Eufe. Aruc ist ein ausdauernder, sehr guter Schwimmer. Er wird dich sicher ans andere Ufer bringen.“ Aruc nickte und lächelte Eufe aufmunternd zu. „Fallada wird euch ans andere Ufer folgen. In ihren Satteltaschen habe ich Rucksäcke für euch versteckt. Darin findet ihr Kleidung, Proviant und einige Gegenstände, die euch nützlich sein werden. Ich bin im Gedanken immer bei euch. Unsere Liebe verbindet uns, wo auch immer ihr sein mögt. Amo beschütze euch.“
Eufe hielt krampfhaft Arucs Hand. Ihre Wangen waren erhitzt und gaben ihrem sonst blassen Gesicht einen rosigen Schimmer. Sie war fast so groß wie Aruc und schlank wie ein Gerte. Eine bernsteinfarbene Strähne hatte sich aus ihrem zurückgesteckten Haar gelöst und umrahmte ihr ausdrucksvolles Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den edel geschwungenen Brauen, die sich über den schräg stehenden aquamaringrünen Augen und der kräftigen Nase wölbten und ihr das Aussehen einer geschmeidigen Wildkatze verliehen. Zum ersten Mal fiel Ullren das Ausmaß von Eufes exotischer Schönheit auf, von der das Mädchen selbst nichts ahnte. Behende kletterte Aruc auf den Stamm der Eberesche und streckte seiner Mutter und Eufe die Hände entgegen, um ihnen beim Aufstieg zu helfen. Nacheinander hangelten sie sich über den längsten Ast bis auf die Zinnen. Allen dreien verschlug es den Atem beim Anblick des schwindelerregenden Abgrunds, der sich aus den Nebelschwaden gähnend vor ihnen auftat. Unerbittlich bannte sich der Fluß Unkam seinen Weg durch die Sümpfe in die Freiheit. Bevor sie es sich anders überlegen konnten, befahl Ullren rasch: „Schaut zum Horizont“. Sie löste ihren Ledergürtel und schlang ein Ende um Arucs linkes und das andere Ende um Eufes rechtes Handgelenk und band sie mit einem geschickten Knoten aneinander. Die Angst vor dem Sprung in die Freiheit, von den Wachen entdeckt zu werden und vor dem Abschied überfiel Eufe und Aruc wie ein lauernder Gauner aus dem Hinterhalt. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Nicht einmal die Blätter der Eberesche bewegten sich im kalten Morgenwind. Eine gnädige Leere bemächtigte sich ihrer Sinne. Wie aus weiter Ferne hörten sie Ullren. „Gebt mir eure Umhänge. Ja so ist es gut. Was immer geschieht verliert nie das Vertrauen in euch selbst. Amo ist mit euch. Ihr seid stark und frei.“
Sie hatten nicht mehr die Kraft sich umzudrehen, um nocheinmal in die gütigen Augen Ullrens zu blicken. Es gab nur noch diesen einen allesumfassenden Moment. Der Sprung in den Fluss, der sie in eine bessere Welt führen sollte. „Jetzt“, Ullren blieb auf den Zinnen zurück und sah wie die Körper von Aruc und Eufe in die Tiefe stürzten als wären sie leblose Puppen. Sie hatte ihre Hände gefaltet und betete leise. „So geht hin, euch selbst, eure Aufgabe und euren Weg zu finden. Amo schütze euch.“ Als sie Zeugin wurde wie Aruc und Eufe in den, vom rauhen Morgenwind aufgewühlten, Fluss eintauchten, riss sie die Stimme eines Wächters aus ihren Gedanken. „Herrin, was macht ihr da oben? Ich muss euch bitten mir zu folgen“. Ullren rührte sich nicht von der Stelle. Sie hielt ihre Augen gebannt auf das Wasser gerrichtet, um sich zu vergewissern, dass Aruc und Eufe den Sprung überlebt hatten. Doch kein Kopf tauchte an die Oberfläche. „Herrin, ich befehle euch meiner Anweisung nachzukommen“, rief der Wachsoldat ein zweites Mal und richtete drohend das Schwert auf sie. Ullren schreckte aus ihrer Starre. Sie durfte keinen Verdacht erregen. Sie musste Zeit für Aruc und Eufe gewinnen, bevor die Soldaten herausfanden, dass sie in den Fluss gesprungen waren. Es kostete sie ihre ganze Willensanstrengung sich nicht nocheinmal umzudrehen, um sicher zu gehen, dass sie inzwischen aufgetaucht waren. Langsam und so ruhig sie konnte kletterte Ullren über den Baum zurück auf das Turmplatteau. „Was ist geschehen, was hattet ihr auf den Zinnen zu suchen?“ Die Stimme des Wächters klang drohend. „Ruft meinen Mann“, verweigerte Ullren hoheitsvoll die Antwort. „Das haben wir bereits versucht. Er liegt bewusstlos in euren Gemächern. Ich muss euch abführen. Ich bitte euch, euch mir nicht zu widersetzen, sonst muss ich Gewalt anwenden.“ Ullrens einziger Gedanke galt Aruc und Eufe.
Vom Burghof ertönte lautes Wiehern und Stampfen. Holz splitterte. Der Wachmann neben ihr fluchte und trieb sie unsanft zur Eile an. „Das geht mit dem Teufel zu.“ Ullren wusste es besser. Fallada hatte die Bretterwand des Stalls durchbrochen und war aus dem Stand über die Festungsmauer gesprungen. Die Torwächter schrien aufgebracht durcheinander. Ullren ließ sich widerstandlos von dem Soldaten abführen. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Daran konnte kein Sterblicher irgendetwas ändern, nicht einmal Egom, dachte sie insgeheim und folgte dem Wächter, der sie an ihren Gemächern vorbei zum Eingang des Nordflügels führte. Bedrohlich ragte das schwere Eisentor mit spitzen Giftzacken vor ihnen auf. Ausgerechnet Veltron wartete dort auf sie. Von allen Wächtern wollte Ullren am wenigsten mit ihm zusammentreffen. „Wen haben wir denn da?“, grinste er Ullren unverschämt an und zeigte dabei eine Reihe schwarzer abgestorbener Zahnstumpen, die noch nicht gänzlich in seiner Mundhöhle verfault waren. Obwohl er eigentlich schon von der Morgenwache abgelöst sein sollte, um auf seiner Holzbritsche zu schnarchen, genoss er es Ullren als Gefangene vor sich zu haben. Er war bester Laune, obwohl mittlerweile die Flucht der Gefangenen bemerkt worden war. Ihm konnte das nicht angehängt werden. Brac musste sich dafür verantworten. Und da er sich von seinem eigenen Weib hinters Licht hatte führen lassen, erhöhten sich Veltrons Chancen beträchtlich ihn in Kürze als Festungsmeier abzulösen. Besser hätten sich die Dinge für ihn gar nicht entwickeln können. „Ich hoffe die Herrin hatte Zeit sich den Bescheid des Festungsmeiers zu holen“, richtete er sich übertrieben höflich an Ullren und zwinkerte dabei verschlagen.
Veltrons aufgedunsenes Gesicht, dass seinen übermäßigen Genuss von stark gebranntem Fusel nicht verhehlen konnte, verzog sich zu einer hämischen Grimasse. Die Haare hatte er sich mit einer groben Klinge selbst geschoren und auf seiner narbigen Kopfhaut zeigten sich zahlreiche, bereits eingetrocknete Blutspuren, von den Wunden, die er sich ungeduldig bei der Kahlrasur selbst zugefügt hatte. Die üppige Behaarung, die aus seinen fleischigen Ohren und der Zinkennase quoll und auf seinem massigen Handrücken wucherte, schuf den Anschein die Platte seines Kopfes wett machen zu wollen. Er hätte sich gerne der schönen Herrin etwas näher angenommen und sie sich gefügig gemacht. Meine Zeit kommt noch mein Täubchen, verlass dich drauf, begnügte er sich, Ullren im Gedanken zu drohen.
„Ich möchte sofort zu meinem Mann gebracht werden“, verlangte Ullren und konnte selbst hören, wie wenig überzeugend ihre Stimme klang. Sie wusste nur zu gut, dass Brac bis zur Abenddämmerung bewusstlos sein würde. Noch war es früher Morgen. Ausserdem, wie sollte sie ihm seine Betäubung und die Flucht von Eufe und Aruc erklären? Veltron rührte sich nicht von der Stelle und ignorierte gönnerhaft den Befehl der Festungsmeierfrau. Er ergötzte sich daran, dass sie ihm ausgeliefert war. Doch wollte Ullren ihm keinesfalls die Genugtuung geben sie schwach und ängstlich zu sehen. Gefasst schaute sie Veltron in die boshaften Augen und erklärte hoheitsvoll: „Ich hatte nicht die Gelegenheit mir die Anweisung meines Mannes schriftlich geben zu lassen. Nehmt mich gefangen, wenn ihr Angst habt, dass ich euch entfliehen könnte, ich werde mich nicht widersetzen.“ Was erlaubte sich diese eingebildete Schlampe. Veltron war außer sich, er hatte gehofft Ullren würde ihn bitten, nein betteln, um sie gehen zu lassen. Nun gut, sollte sie ihren Willen haben.
Erst als das kalte Wasser über Aruc zusammen schlug und Eufes Gewicht ihn bleischwer in die Tiefe zog, kam er zu sich. Verzweifelt versuchte er an die Oberfläche zu gelangen. Er nestelte an dem Knoten, der seine linke Hand mit Eufe verband, die leblos an ihm hing und ihn daran hinderte zu schwimmen. Seine Lungen drohten zu zerbersten. Panik hatte von ihm Besitz ergriffen. Er strampelte, zerrte an dem Lederriemen um sein Handgelenk und war unfähig an etwas anderes zu denken als an Luft. Er brauchte Sauerstoff. Arucs Bewegungen wurden langsamer, das dumpfe Tiefgrün des Flusses verwandelte sich in undurchdringliche Schwärze. Er spürte wie ihm langsam die Sinne schwanden. Plötzlich gab der Knoten nach. Mit letzter Kraft riss er seine Arme aus der Starre seines Todeskampfes und strebte wie ein aufgedunsener Moosklumpen der Oberfläche entgegen. Gierig wie ein Rudel hungriger Wölfe, die sich auf das noch warme Fleisch eines frisch gerissenen Hirsches stürzen, sog er die klamme Morgenluft in sich auf bis er das Gefühl hatte, dass ihm die Schläfen das Gehirn durch die Schädeldecke drückten. Sein Oberkörper schmerzte, sein linker Arm war ohne Gefühl. Wie mit einem Hammerschlag wurde ihm bewusst das Eufe nicht mehr bei ihm war und auf dem Grund des Flusses lag. Nein, nein sie durfte nicht sterben, sie vertraute ihm, er hatte ihr versprochen sie zu retten. In panischer Angst um Eufe tauchte Aruc erneut in das kalte Wasser und schwamm so schnell er konnte bis auf den Grund. Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Wieder spürte er wie ihm die Luft zum Atmen ausging. Er musste Eufe finden, er durfte nicht versagen. Die letzten Worte, die Ullren zu ihnen auf den Zinnen gesagt hatte, klangen wie der Gesang von Sirenen in seinen Ohren. Verliert nie das Vertrauen in euch selbst. Unter Aufgebot all seiner Kräfte suchte Aruc weiter, obwohl er der Ohnmacht nahe war. Verzweifelt tastete er sich auf dem schlammigen Grund des Flusses entlang. Plötzlich spürte er den samtenen Schleier von Eufes langen Haaren unter seinen Fingern. Fieberhaft packte er sie unter den Armen und entriss sie dem morastigen Flussgrund, indem er sich so fest er konnte mit beiden Beinen vom Boden abstieß. Eufe fest umklammert, schoss Aruc wie ein Pfeil an die Wasseroberfläche. Eufe war noch immer bewusstlos. Vom Turm hörte Aruc Rufe und lautes Wiehern. Die Wachen, ging es ihm durch den Kopf, sie sind auf uns aufmerksam geworden und verfolgen uns. Was wird mit Mutter geschehen? Was werden sie mit ihr machen? Denk an nichts, schwimm einfach, schwimm, hörte er die Stimme seiner Mutter im Gedanken. Aruc schwamm um ihrer aller Leben, wie er noch nie zuvor geschwommen war. Als ihn die Erschöpfung zu überwältigen drohte, gelangten sie mit der Hilfe eines großen Fisches, der sich ihrer erbarmt hatte, ans andere Ufer. Kaum spürte er festen Boden unter den Füßen, schleppte Aruc sich mit Eufe auf den Armen ans Ufer und bettete sie ins Gras. Immer wieder presste er seine Arme auf Eufes Oberkörper und versuchte das Wasser aus ihren Lungen zu drücken. „Komm schon wach Eufe, bitte. Du darfst nicht sterben“. Die Tränen strömten ihm hemmungslos über die Wangen. Lautes Hufgetrappel ließ ihn aufhorchen. Fallada preschte wie ein gleißender Blitz mit wehender Mähne auf ihn zu. „Schnell setze Eufe auf meinen Rücken. Beim Galopp wird sich das Wasser aus ihren Lungen lösen.“ Mit einem lauten Schrei hievte Aruc das leblose Mädchen auf die Schimmelstute und sprang hinter ihr auf den Pferderücken und umklammerte Eufe. Binnen weniger Sekunden stoben sie in gestrecktem Galopp in Richtung Wald davon. Schon nach der ersten Erschütterung begann Eufe Wasser zu spucken und kam keuchend zu sich. Aruc konnte sein Glück kaum fassen. Außer sich vor Erleichterung und Freude jubelte er: „Wir haben es geschafft! Eufe wir haben es geschafft! Wir sind frei!“ Dabei drückte er das verdatterte Mädchen so fest an sich, dass es keine Luft mehr bekam. „Aruc, ich ersticke. Wo sind wir? Was ist geschehen? Wo ist Ullren?“ Fallada hatte den rasanten Galopp, den sie vorgelegt hatte etwas gedrosselt, um Eufe nicht noch mehr zu erschrecken und das Reiten zu erleichtern. Aufgekratzt rief Aruc ihr zu: „Wir sind in den Fluß gesprungen. Du bist dabei ohnmächtig geworden und ich habe dich vom Grund herausgetaucht und ans Ufer gebracht. Na ja, genau genommen hat mir ein Fisch auch noch dabei geholfen.“ Obwohl Aruc sich alle Mühe gab seine Tat so nebenher wie möglich zu erzählen, hatte er sich noch nie so glücklich und mutig gefühlt. Er hatte seine erste richtige Heldentat vollbracht. Er hatte sie beide gerettet. Eufe versuchte sich zu ihm herumzudrehen und kam ins Schwanken. Wenn Aruc sie nicht von hinten festgehalten hätte, wäre sie vom Pferd gestürzt. „Vorsicht Eufe, pass auf, sonst fällst du noch runter.“ Eufe hielt sich krampfhaft an Falladas Mähne fest. Aruc legte seinen Kopf vertraulich auf ihre Schulter. Eufe wandte ihr Gesicht zu ihm, so dass sich ihre Wangen berührten und flüsterte: „Danke Aruc. Was würde ich nur tun ohne dich.“ Eufes Stimme zitterte. „Ach nicht der Rede wert, ich hab´s dir doch versprochen“, winkte Aruc ab und spürte wie seine Brust vor Stolz anschwoll. „Wir sind noch lange nicht in Sicherheit“, mischte sich Fallada nüchtern ein. „Egoms Wachen sind hinter uns her. Wir haben nur eine Chance, wenn wir so schnell wie möglich zu den Höhlen gelangen.“ „Zu den Höhlen, wir sollen durch die Höhlen?“ Aruc wurde es mulmig. Davon hatte seine Mutter nichts erwähnt. Jeder wusste, dass die Höhlen verboten und Herberge von so manch grausigem Bewohner waren. Jedenfalls war es das Lieblingsthema der Bubenbande von Inthorm gewesen über die Schrecken zu berichten, die auf Jeden warteten, der sich in die Steiner Höhlen wagen sollte. Eufe stutzte: „Mit wem redest du denn Aruc? Es ist doch niemand hier außer uns?“ „Ja eben, ich rede mit Fallada“, antwortete ihr Aruc selbstverständlich. „Wie kannst du denn mit Fallada reden? Ein Pferd spricht doch nicht.“ Eufe mochte ihr Leben bisher in einem Verlies im Turm verbracht haben, aber sie wusste das Tiere nicht sprechen konnten. „Da irrst du dich Eufe. Mutter hat mir beigebracht Fallada zu verstehen. Es ist ganz einfach. Du musst dich nur auf sie einlassen.“ Eufe spürte den warmen Pferderücken unter sich und bevor sie wusste was mit ihr geschah, bekam sie ihre Antwort von Fallada, die unaufhörlich weiter galoppierte: „Ja meine Schöne, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als du dir je in deinem Turmverlies hast träumen lassen.“
Ullren wurde von den Wachen vor dem Nordportal zurückgelassen. Hände und Beine mit harten Stricken so eng aneinander gefesselt, dass es ihr unmöglich war auch nur die geringste Bewegung zu machen. Die Giftzacken des Eisentors ragten so nahe an ihren Körper, dass die kleinste Schwächeerscheinung unweigerlich ihren Tod bedeuten würde, wenn sie nach hinten kippte und sich, die mit Skorpiongift getränkten Eisenspitzen in ihr Fleisch bohrten.
Ullren wusste nicht wie lange sie bewegungslos so dagestanden hatte. Waren es Minuten oder Stunden? Sie hatte jeglichen Zeitbegriff verloren. Es war totentstill, kein Laut, kein Geräusch, nur ihr eigener Herzschlag, der ihr in den Ohren toste. Mit schier übermenschlicher Kraftanstrengung hielt sie dem Verlangen stand sich anzulehnen. Ullren horchte auf. Schritte kamen näher. Es waren Bracs Schritte. Ullren kannte den holpernden, energischen Gang ihres Mannes nur zu gut. Was wird er mit mir machen?, schoss es ihr durch den Kopf. Was sollte sie ihm sagen? Brac wurde von einem der Wächter begleitet. Gott sei Dank, es war nicht Veltron. Bracs Gesicht hatte einen noch härteren Ausdruck als sonst. Er hatte sich nicht die Zeit genommen seinen Gehrock anzuziehen. Seine Haare hingen ihm wirr in die flammenden Augen. Außer sich vor Wut riss er Ullren von dem gefährlichen Portal weg. „Lass uns allein“, herrschte er den Wächter an, der sich unwillig entfernte und zwischen seinen schmierig gelben Zähnen, „aber nur einen Moment, hervorstieß. Als er außer Sicht- und Hörweite war umarmte Brac seine gefesselte Frau, um sie gleich darauf brüsk von sich zu stoßen. „Was hast du getan Ullren? Warum? Du hast dein eigenes Todesurteil unterschrieben und ich kann nichts für dich tun. Nichts hörst du, nichts. Egom hat mich aus Inthorm verbannt.Veltron ist der neue Meier. Ich bin von nun an verdammt dazu als Geächteter mein Leben zu fristen. Schuld daran ist diese Hexe.“ Bracs Gesicht war aschfahl und eingefallen, in seinem Blick lag Hoffnungslosigkeit und blinder Hass. „Sie hat mich und meine Familie zerstört, mir alles genommen. Ich bin nichts mehr, ich bin verloren. Du bist eine Verräterin. Du bist gegen mich. Du bist eben so wenig wert wie diese Hexe. Du hast mir meinen Sohn genommen, mein Leben. Oh wie ich euch hasse.“ Brac spuckte verächtlich vor Ullren aus und schlug ihr mit dem flachen Handrücken ins Gesicht. Sie verlor das Gleichgewicht und während sie wie ein Kartoffelsack auf den harten Steinboden fiel, streifte sie mit der linken Schulter eine der Giftzacken. Der stechende Schmerz explodierte in ihrem Kopf und verklebte ihre Sinne wie purpurrotes Siegelwachs. Ihr letzter Gedanke galt Aruc, Eufe und Fallada auf ihrem großen Weg.
3.Der Inhalt der Rucksäcke
Es dämmerte bereits. Fallada galoppierte ohne Unterlass mit Aruc und Eufe auf dem Rücken und ließ nicht eher nach, bis sie endlich die Baumgrenze zum Steiner Wald erreicht hatten und sicher sein konnten, dass die Verfolger fürs Erste abgeschüttelt waren. Fallada verlangsamte ihr Tempo erst als der dichte Laubwald sie in seinem schwarzen Schattenlabyrinth verschluckt hatte. Erschöpft kam sie unter einer riesigen Kastanie zum Stehen, deren Äste sich wie eine Laube über den moosigen Waldboden ausbreiteten. Aruc ließ sich stöhnend auf den Boden gleiten. Danach half er Eufe fürsorglich beim Absteigen. „Mir knurrt der Magen und ich kann kaum stehen, geschweige denn gehen, so weh tut mir mein Hinterteil und meine Schenkel“, brummte er gereizt und schaute Fallada dabei vorwurfsvoll an. Von der anfänglichen Euphorie der Flucht war bei ihm nicht viel übrig geblieben. Eufe sagte nichts und strich Fallada zärtlich über die weichen Nüstern und klopfte ihr die schweißverklebte Flanke. Das schöne Tier war gebannt von Eufes Lieblichkeit und schien keine Notiz von Aruc zu nehmen, der sich nur noch mehr ärgerte. Da ihn niemand beachtete, machte er sich an den Satteltaschen von Fallada zu schaffen und brachte die beiden Rucksäcke zu Tage, die Ullren fürsorglich für sie gepackt hatte. Erwartungsvoll öffnete er den Ranzen aus Sackleinen, der ein in Rindsleder gebranntes A auf dem Verschlußriemen trug. Gierig steckte er sich ein Stück salzigen Weizenkuchen in den Mund, den seine Mutter ihm reichlich in einem irdenen Töpfchen mitgegeben hatte. „Eufe, komm mach deinen Beutel auf und iss mit mir. Hier sind frische Möhren und Äpfel aus Mutters Garten Fallada.“ Die Schimmelstute schnaubte ihnen warme, nach Heu und Rosskraut duftende Luft ins Gesicht und machte sich genüßlich über die Leckerbissen her. Eufe hatte sich neben Aruc ins Gras gesetzt und war dabei ihren Proviant auszupacken. Eine Weile war es mucksmäuschenstill zwischen den Dreien. Zirpende Waldgrillen und das Rascheln der Kastanienblätter im Abendwind erfüllten ihren Rastplatz mit einer friedlichen Stimmung und ließ sie sich für kurze Zeit in Sicherheit wähnen. Kaum hatte Aruc seinen Hunger gestillt, machte er sich daran den restlichen Inhalt seines Rucksacks vor sich auszubreiten. Er brachte eine Adlerfeder, einen grünen Lederbeutel gefüllt mit getrockneten Kräutern, ein silbriges Band, ein Steinmesser und einen Kiesel zum Vorschein. Auch Eufe hatte ihren Beutel ausgepackt und alles daraus zu tage tretende auf einem Stein vor sich aufgereiht: eine schwarze Kerze, ein Holzrohr, ein in grün und blau Tönen schillernder Schmetterlingsflügel, ein rosenholzfarbenes Kristall und ein feines Goldkettchen, das ein Anhäger in Blattform zierte auf dem zwei Spiralen graviert waren, die in Herzform zusammenliefen. Eufe hielt das Schmuckstück staunend zwischen ihren Fingern. Ratlos sahen sich Aruc und Eufe an. „In der Satteltasche ist noch ein Brief an euch von Ullren“. Fallada schnaubte und peitschte mit ihrem langen Schweif lästige Fliegen von ihrem Rücken. Aruc sprang auf und nestelte an Falladas Satteltasche bis er den Brief seiner Mutter gefunden hatte. Er räusperte sich und las mit lauter Stimme:
Meine geliebten Kinder,
lasst Inthorm hinter euch und traut nur eurem Instinkt und eurem Herzen. Fallada wird euch sicher führen. Habt keine Angst vor den Höhlen. Gerade dort werdet ihr vieles über euch selbst und euren Weg erkennen. Die Gegenstände, die ich euch mitgegeben habe sind mir von meiner Mutter vermacht worden. Amo hat mir aufgetragen sie euch mit auf den Weg zu geben. Lasst euch nicht aufhalten, von Nichts und Niemandem. Denkt immer daran: All das was ihr euch vorstellen könnt, ist möglich. Es gibt nichts zu fürchten, ihr seit stark und frei.
Macht euch keine Sorgen um mich. Wenn es an der Zeit ist, werden wir uns wieder sehen.
Amo sei mit euch
In Liebe
Mutter
Als er geendet hatte, tropften salzige Tränen von Arucs Wangen auf das Pergament in seinen bebenden Händen. Eufe stand neben ihm und wischte sich mit dem Handrücken über die tränenden Augen. Keiner von ihnen sagte ein Wort bis Aruc mit heiserer Stimme verkündete: „Wir werden es schaffen Mutter. Du kannst dich auf uns verlassen.“ Fallada schnaubte zustimmend. Eufe nickte und wiederholte Arucs Worte entschlossen: „Wir werden es schaffen“. Sie hatte noch immer die Kette in der Hand und begann im Zwielicht der Dämmerung die Gravur des Blattanhängers genauer zu betrachten. Das eigentümliche Gefühl den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit gefunden zu haben bemächtigte sich ihrer. Die Kette war zu kurz für ihren Hals und zu lang für ihr Handgelenk. „Wo soll ich die Kette denn tragen?, wandte sie sich hilfesuchend an Aruc.
Umständlich nestelte er mit seinen etwas unbeholfenen Jungenhänden an dem Anhänger, der so fein gearbeitet war, dass er Sorge hatte ihn zu beschädigen. „Versuch es doch an einem deiner Fußgelenke“, überlegte er laut. Eufe befolgte seinen Rat und wand die Kette um ihr linkes Fußgelenk. Staunend betrachtete sie das glitzernde Goldband an ihrer schlanken Fessel. „Wir müßen weiter. Der Eingang zu den Höhlen ist unter dem Stein Kalypto verborgen“, ermahnte Fallada sie zum Aufbruch. „Was bedeutet Kalypto?“, fragte Eufe neugierig. „Verhüllende Nacht“, antwortete Fallada, was der Stute sofort leid tat, nachdem sie die erschreckte Miene von Eufe sah. „Und wo ist der Stein?“ mischte Aruc sich ungeduldig ein. Er hoffte dabei von seiner eigenen Angst abzulenken, die nach ihm schnappte, wie die Fallquetschen nach den Ratten, die sein Vater überall im Turm aufgestellt hatte. „Es bedeutet auch so viel wie Schleier“, versuchte Fallada das ängstliche Mädchen zu beruhigen. „Na das sind ja schöne Aussichten“. Aruc war beleidigt, dass Fallada auf Eufes Frage geantwortet hatte und von ihm keine Notiz nahm. „Ich weiß immer noch nicht nach welchem Stein ich Ausschau halten soll“, murrte Aruc ungehalten. Fallada vermied es weiterhin Arucs Frage zu beantworten und verfiel in einen schnellen Trab. Ihr Schweif fegte über die Büsche und niedrigen Kletterpflanzen des Waldes hinweg. Ab und zu verhakte sich ein Büschel ihres üppigen Schweifes und blieb hängen. Obwohl Fallada es hasste an Fell und Mähne gerissen zu werden, bemerkte sie es kaum. Sie mussten den Höhleneingang finden, bevor der letzte Rest Licht an die Nacht verloren war. Längst konnten die Drei die blassen Umrisse des Mondes ausmachen, der fast seine volle Gestalt angenommen hatte. Nach einiger Zeit verlangsamte Fallada ihr Tempo und machte an einem Bach halt. Gierig erfrischten sie sich an dem klaren, kühlen Waldquell und fühlten neue Lebenskräfte in sich aufsteigen. „Wo ist er nun der Stein Fallada?“ Aruc wischte sich über den Mund und schaute die Stute erwartungsvoll an. „Das wirst du wissen, sobald wir ihn gefunden haben.“ „Wie ... sobald wir ihn gefunden haben? Du weißt nicht wo der Stein ist gibs endlich zu! „Aruc“, versuchte Eufe zu vermitteln, „Ullren hat versprochen, dass Fallada uns sicher führen wird. Wir müssen ihr vertrauen.“ Aruc kämpfte innerlich gegen seinen Stolz. Schließlich war er es, der Eufe aus dem Fluss gerettet hatte. Warum sollte Fallada alles besser wissen und ihn noch dazu als dummen Jungen behandeln. Im Geiste sah er seine Mutter vor sich. Sie lächelte ihm zu und strich ihm begütigend über die Wange. Unwillkürlich erhob Aruc seinen Blick und sah wie über ihnen ein Steinadler seine Bahnen zog. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er wollte nicht werden wie sein Vater, rechthaberisch und mürrisch. Fallada hatte ihn schon auf ihrem Rücken getragen als er noch nicht einmal laufen konnte. Einlenkend streckte Aruc seine Hand aus und legte sie sanft auf Falladas Nüstern. „Tschuldige Mylady. Ich vertaue dir und werde dir folgen wohin du uns führst.“
4. Im Reich der Baumsänger
Vielstimmiger Gesang erfüllte die Kronen der mächtigen Sequoiadendronen. Die Zweige der Baumriesen wuchsen bis in die Wolken. Das Lied aus den Kehlen befremdlich schöner Frauen und Männer, deren ebenmäßige Gesichter mit blauen ineinander verschlungenen Blättern auf Stirn und Wangen bemalt waren, schwang in der frischen Morgenluft und begleitete die rythmischen Bewegungen ihrer grazilen Körper. Sie gehörten dem Volk der Baumsänger an, dass sich vor vielen tausend Jahren unter den Mammutbäumen niedergelassen hatte. Dort lebten sie fast sechshundertfünfzig Fuß hoch auf den Baumwipfeln, wo sie geschützt von den üppigen Laubdächern die Stadt Walden errichtet hatten. Statt Gassen und Straßen waren ihre dreistöckigen Häuser, die aussahen wie runde, mit Moos und Blättern bewachsene Holziglos, durch schwingende Brücken aus geflochtenem Hanf verbunden. Die Größe der Kosis, wie die Baumsänger ihre Häuser nannten, die sich wie Bienenwaben an die Äste schmiegten, richtete sich nach der bis zu siebzig Fuß breiten Dicke der Baumstämme. Vor und hinter den Kosis hatten die Baumsänger hängende Blumenbeete und Gemüsegärten angepflanzt. Die schönen Künste bildeten die Grundlage ihrer hohen Kultur, von der niemand wusste, woher sie stammte. Die hängenden Gärten von Walden waren nur eine der Meisterproben ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten. Sie bestanden aus unzähligen Schichten von wild gewachsenem Kautschukm, die die Baumsänger mit Erde und Humus beschichtet und allmählich mit Gemüse, Büschen, Blumen, ja sogar Bäumen bepflanzt hatten. Das ständig dichter und stärker werdende Wurzelreich verwandelte sich nach und nach in ein massives Erdplatteau, das sich homogen in die Baumkuppeln einfügte und aus Walden eine schwebende Stadt unter den Wolken gemacht hatte. Selbst Seen gab es in Walden. Die Erdbecken hatten die Waldener mit bunten Steinen und Kristallen besetzt und fingen darin das Regenwasser auf. Aufgrund des hohen Mineralanteils übte das Wasser eine energiespendende und heilende Wirkung aus. Es war keine Seltenheit für einen Baumsänger aus Walden tausend Jahre alt zu werden. Trotz des hohen Alters, das sie erreichten, blieben ihre Körper jugendlich und ihre Gesichter von den Zeichen der Zeit verschont. Sie wussten um die grenzenlosen Kräfte der Natur und nutzten dankbar ihre Schätze. Sie bereiteten köstliche Speisen aus den Blättern, Wurzeln, Samen, Körnern, Gemüse und Früchten, die ihnen der Wald großzügig schenkte. Mit harzbehandelten Gräsern und Kastanien webten sie herrliche Stoffe aus denen sie fantasievolle Gewänder nähten, die mit den farbenprächtigsten Mustern und Formen der Pflanzen- und Tierwelt des Waldes wetteifern konnten. Aus Rinde, Lianen und Hanf gewannen sie natürliche Baumaterialien für ihre architektonischen Wunderwerke. Mittelpunkt von Walden war das Seminarium Werden. Die Studierlauben, die einen Kreis bildeten waren von Rosenranken und wildem Wein umwuchert und durch Erker miteinander verbunden. Dort verbrachten die Baumsänger ihre Zeit mit Lesen, Schreiben und dem Studieren der Metalehren, die darauf ausgerichtet waren ihre Sinne zu erweitern und ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Telepathie stand ebenso auf dem Stundenplan wie die Materialisation von Wünschen, Traumdeutung und die Verständigung mit Tieren, Pflanzen und den Elementen wie Wasser, Feuer, Luft und Erde. Im angrenzenden Canticum wurde 24 Stunden gesungen. Für die Baumsänger war die Musik Lebenselexier. Sie besuchten das Canticum zu jeder Tages- und Nachtzeit, um sich von den magischen Gesängen in eine andere Dimension entführen zu lassen. Während Unterbergen trist war und unter dem Joch der Tyrannei zugrunde ging, war Walden Inbegriff von Harmonie und Schönheit. Leuchtende Schmetterlinge schwebten durch die flirrende Luft und ließen sich von Zeit zu Zeit auf den Seen treiben, die je nach den Edelsteinen aus denen ihr Grund beschaffen war, in allen Farben des Regenbogens schillerten: tiefes grünblau des Amazonit, goldenes Gelb des Citrin, dunkelrot des Granats, moosgrün des Achats, altrosa des Rosenquarzes, blassrosa des Jadesteins, nachtblau des Lapislazuli und im Glanz von Sternenstaub des blitzenden Glimmersteins. Besonderer Stolz der Waldener war ihr Turmalinsee,der allen Farben gleichzeitig schillerte. Magnetische Spannungen brachten die Steine auf dem Grund des Sees in Schwingung und erzeugten dadurch glockige Töne auf der Wasseroberfläche. Abgeschirmt von dem dichten Blätterwerk der Bäume, in Höhen, die kein bloßes Auge erfassen konnte, lebten die Baumsänger in vollkommener Freiheit. Anstatt eines Königs oder Ministers wurde von Ygdar, dem Baum der Weisheit, alle dreihundert Jahre unter den Frauen eine Hathore ernannt. Während ihrer Amtszeit war sie für das Wachstum, Gedeihen und Wohlergehen ihres Volkes und der Natur verantwortlich. Anläßlich der Wahl gab es ein großes Fest im Astrum, ihrem Theater. Von der Freiluftbühne aus, die sie Himmelssteg nannten, konnten sie auf der einen Seite bis weit über die abgeholzten verstümmelten Wälder von Unterbergen und auf der anderen Seite bis zu den glänzenden Seen und Tälern von Überbergen schauen. Die Waldener liebten es sich im Astrum zu präsentieren. Täglich gab es dort Liederabende, Poesie und Geschichtslesungen, Tanzdarbietungen, die Vorführung ausgefallener Roben und die Ausstellung von Gemälden, Möbeln, Schmuck und jeder Art von Kunstgegenständen. Schon in ihren ersten Lebensjahren wurden die Waldener Kinder spielerisch zu individuellem Ausdruck ihrer Begabungen inspiriert. Der Fantasie war keine Grenzen gesetzt.
Für die Baumsänger bedeutete Erschaffen und Ausdruck von Kunst die Verehrung Gottes, den sie nicht außerhalb von sich selbst suchten, sondern in ihrem eigenen Inneren.
Ygdar wölbte seine dichten Zweige huldvoll über die Köpfe der Waldener, die sich erwartungsvoll im Astrum versammelt hatten und hob mit wurzeltiefer Stimme seine Rede an. Hätte ein Nichtwaldener die Szene beobachtet, dem wäre Ygdars Ansprache wie das bloße Rascheln von Blättern im Wind erschienen. Die Waldener jedoch verstanden jedes Wort von ihm: „Meine geliebten Schwestern und Brüder. Wir sind heute hier versammelt um unsere neue Hathore zu ernennen. Ich habe mich lange beratschlagt mit dem Rat der Ältesten und unsere Wahl ist auf Lovan gefallen.“ Ein Raunen ging durch die Menge und alle Blicke waren auf eine Frau gerichtet, die selbst unter dem schönen Volk der Baumsänger besondere Aufmerksamkeit erregte. Ihre Augen waren groß und klar wie das Wasser eines Bergsees, ihre Lippen fein geschwungen, von der Farbe reifer Walderbeeren. Sie trug ein schillerndes, den blaugrünen Flügeln der Taubenfalter nachempfundenes, Kleid aus gesponnenem Heidekraut und Kobaltseide. Ihr langes Haar leuchtete im Sonnenlicht wie kupferglänzender Zimt. Sie trug es zu mehreren Zöpfen geflochten, die sie kunstvoll ineinander verschlungen hatte unter einem Kranz aus weißen Margeriten. Alles an ihr strahlte von innen. Ygdar fuhr fort: „Lovan ist besonnen und stark, großzügig und von feiner Gesinnung. Sie hat die Prüfungen in ihrem Leben würdevoll und mit Güte getragen und deshalb wissen wir, dass sie den Waldenern eine fähige Hathore sein wird und ihrem Volk mit Liebe, Weisheit und Mut dienen wird.“ Lauter Jubel ertönte und Ygdars Blätter raschelten rythmisch zu den stürmischen Beifallsbezeugungen der Umstehenden, die immer wieder Lovans Namen riefen und sie hochleben ließen. Nachdem sich der tosende Applaus gelegt hatte, trat Lovan aus der Menge und kniete sich unter die Blätterkuppel Ygdars. Mit klarer, samtener Stimme sang sie vor aller Augen den Schwur:
„Wir sind die Schwestern und Brüder der Bäume. Wir sind Teil der Natur. Walden ist unsere Heimat. Ich gelobe meinem Volk zu dienen, es zu führen und zu schützen. Ich gelobe durch mein Sein Harmonie, Schönheit und Liebe zu bringen.“
Ygdar neigte seine Zweige zu Lovan herab. Eine glänzende Liane streifte ihren Kopf. Andächtig richtete sie sich auf und ergriff den Pflanzenstrang, der sich wie von selbst aus dem Blätterwerk löste. Ehrfürchtig legte sie sich das glitzernde Gewächs um den Hals. Niemand sagte ein Wort. Alle starrten gebannt auf Lovan und schienen den Atem anzuhalten. Die silberne Liane war das Wahrzeichen der Hathore und verlieh ihrer Trägerin die Gabe sich in jedem Ausdruck der Schöpfung selbst zu erkennen. Als Lovan das Pflanzenband glatt und geschmeidig an ihrem Kehlkopf spürte, begannen ihre Augen zu leuchten. Ihre Brust hob und senkte sich heftig. Um ihre Lippen spielte ein entrücktes Lächeln. Nur der Rat der Ältesten, der aus den vorangehenden Hathoren gebildet war, konnte ermessen welche gewaltige Sinneswahrnehmung Lovan zuteil wurde. Tränen standen in ihren Augen. Sie fühlte sich eins mit dem kleinsten lebenden Organismus des Universums und zugleich mit der Unendlichkeit der Schöpfung. Bedingungslose Liebe erfasste ihr ganzes Denken, Fühlen und Sein. Es gab nichts außer Liebe in ihrem Herzen und den brennenden Wunsch zu dienen, zu verbinden und zu schöpfen. Andächtig beobachteten die Waldener den bewegenden Moment in dem aus der Baumsängerin Lovan ihre neue Hathore von Walden hervorging.
5. Abstieg in die Steiner Höhlen
„Ich glaube wir haben den Eingang gefunden.“ Fallada war vor einem flachen Felsen stehengeblieben, der vollständig mit Moos bedeckt war und sich kaum von dem Waldboden unterschied. Wo die Oberfläche des Steins das Moos nicht angenommen hatte, entblößte das fahle Licht des Vollmonds ein Bild: „Es sieht aus wie eine Fratze“, stellte Aruc beeindruckt fest. Eufe starrte gebannt auf die Moosfläche, die im Mondlicht wie schwarzes Blut auf dem Felsen klebte. Aruc hatte Recht. Sie konnte deutlich Augen und einen aufgerissenen Schlund erkennen aus dem eine lange Zunge bleckte. „Was hat dieses Symbol zu bedeuten Fallada?“ wendete sie sich an die weiße Stute, die sie in den wenigen Stunden seit ihrer Flucht innig in ihr Herz geschlossen hatte. „Ich weiß es nicht Eufe“, schüttelte Fallada heftig ihre Mähne. „Vielleicht ist es eine Art Siegelwappen“, mischte sich Aruc ein und beugte sich näher über den Stein. „Hier seht, die Augäpfel sind aus schwarzen Kristallen“, rief er aufgeregt und umkreiste den Felsen in der Hoffnung noch ein wichtiges Zeichen zu finden, dass sie bis dahin übersehen hatten. „Seht nur, ein gußeisener Haken, hier, hier unten. Er ist fast von der Baumwurzel verdeckt.“ Aruc zog und riss an dem Ring. Doch nichts geschah. Der Stein ließ sich keine Elle verrücken.
Mutlos setzte er sich auf den Stein, um gleich darauf mit einem gellenden Auaschrei aufzuspringen und sich sein Hinterteil zu halten. „Verdammt der Stein hat mir einen Schlag versetzt.“ Obwohl Eufe alles andere als zum Lachen zumute war, konnte sie nicht an sich halten bei dem Anblick des entsetzten Aruc, der sich weinerlich den Allerwertesten rieb, obwohl er noch wenige Minuten zuvor wie ein mächtiger Krieger um den Stein gepirscht war. „Du hast gut lachen. Dir hat der Stein ja keinen drauf gegeben“. Eufe legte entschuldigend ihre Hand auf Arucs Schulter: „Verzeih Aruc. Es hat bestimmt weh getan. Ich weiß ja, dass Du nicht wehleidig bist.“
„Schon gut, ich habe eine Idee. Ich weiß wie wir es machen. Mutter haein Seil in Falladas Satteltasche verstaut.“ Froh endlich wieder mit einer Idee Eindruck schinden zu können, machte Aruc sich an den Satteltaschen zu schaffen und brachte das Seil zu Tage. „Na also, damit können wir es schaffen. Was meinst du Fallada? Wenn ich es gut an dem Ring festmache und das andere Ende am Sattelknauf, dann kannst du den Stein vom Eingang der Höhlen wegziehen.“ Fallada schnaubte heftig. Ein Zittern durchlief ihren kräftigen Leib. „Lass mich nur machen. Das werden wir gleich haben.“ Aruc schlang das Seil durch den groben Eisenring und bemühte sich ihn keinesfalls mit der Hand zu berühren, um nicht noch einen Schlag versetzt zu bekommen. Er knüpfte ein Seilende mit einem doppelten Knoten, den ihm Brac an einem seiner seltenen guten Tage beigebracht hatte, an den Ring und das andere an Falladas Sattelknauf. Wenigstens habe ich etwas Brauchbares von meinem Vater gelernt, ging es Aruc dabei durch den Kopf. „Los Eufe, pack mit an, wir helfen Fallada.“ Zu Dritt stemmten sie sich mit aller Kraft gegen das Gewicht des Steins. Doch der Stein rührte sich keinen Millimeter. „Nocheinmal wir schaffen es“, ermutigte Fallada die schnaufenden Gefährten. „Eins, Zwei, Drei und looooooooos“, Fallada sprang aus dem Stand in Galopp. Das Seil spannte sich und zerriss krachend. Der Stein war unverrückt an der selben Stelle liegen geblieben.
Entmutigt ließen sich Eufe und Aruc ins Gras fallen, während Fallada mit hängendem Kopf zu ihnen zurücktrottete und schnaubte: „So geht es nicht. Wir müssen einen anderen Weg finden“.
Eufe war aufgestanden und streichelte Falladas weiche Nüstern. Die Wärme und der Geruch nach frischem Gras, der von der Stute ausging, beruhigten sie und halfen ihr beim Nachdenken. Ullren hatte ihnen doch Geschenke mit auf den Weg gegeben, die ihnen nützlich sein sollten. Die Lösung des Problems musste irgendwo in den Rucksäcken verborgen sein. Ja das war es. „Aruc, los lass uns nocheinmal alles aus den Rucksäcken holen und genau anschauen. Ich glaube, dass uns Ullren etwas mitgegeben hat, womit wir den Einang öffnen können.“
Aruc schaute sie mit großen Augen an. Natürlich, warum war er nicht eher drauf gekommen.
Eufe hatte ihren Rucksack bereits ausgepackt. „Schau nur Aruc, der Kristall leuchtet in der Dunkelheit. „Vorsicht Eufe, der Stein verteilt Schläge“, antwortete er ihr besorgt. Aber Eufe war bereits aufgestanden und hatte mit dem Kristall den Stein berührt. Nichts geschah. „Wenigstens hat er mir keinen Schlag versetzt“, tröstete sich Eufe selbst.
Sie nahm das Holzrohr und drehte es ratlos von einer Seite auf die andere. Danach betrachtete sie andächtig den Schmetterlingsflügel. Je nachdem wie sie ihn ins blasse Mondlicht hielt, glänzte er in verschiedenen Grün und Blautönen. Er war so fein, dass Eufe ihn kaum zu berühren wagte, um ihn nicht zu zerbrechen. Bei aller Schönheit dieses Naturwunders, konnte sie sich nicht vorstellen, dass es in irgendeiner Weise zur Öffnung des Steins beitragen konnte.
„Ich glaube wir müssen in deinem Rucksack suchen.“ Aruc hatte schon begonnen nacheinander die Adlerfeder, das Steinmesser, den Lederbeutel mit den Kräutern, das Band aus Silberhaar und den Kieselstein aus seinem Ranzen zu kramen. „Die Feder wohl kaum, der Kräuterbeutel ... eher nicht, Silberhaar ... nicht wirklich, dann haben wir noch den Kiesel und das Steinmesser.“ Noch immer mit gehörigem Respekt vor dem Stein warf Aruc misstrauisch den Kiesel nach dem Kalypto. Das Steinchen prallte auf dem Felsen ab und wieder passierte nicht das Geringste. „Bleibt also nur das Messer“ meldete sich Fallada zu Wort. „Schlaumeierin ... was soll ein Messer gegen einen Stein ausrichten“, antwortete Aruc hämisch, nachdem er den Kieselstein wieder in seinen Rucksack befördert hatte. „Was macht man mit einem Messer normalerweise?“, fragte Eufe unschuldig. „Schneiden natürlich“, antwortete Aruc ungeduldig. „Dann müssen wir versuchen den Stein aufzuschneiden“. „Wie meinst du das? Wir können doch keinen Stein mit einem Messer aufschneiden. Das ist unmöglich.“ Aruc ärgerte sich über die Einfältigkeit von Eufe. Na ja kein Wunder, sie hat schließlich die letzten vierzehn Jahre im Turm verbracht und konnte nicht so genau Bescheid wissen. „Dein Messer ist schließlich kein gewöhnliches Messer, sonst hätte es dir Ullren nicht mitgegeben“, beharrte Eufe. Fallada stampfte mit den Vorderhufen beipflichtend auf. Aruc überprüfte das Messer neugierig. Es war aus hartem Stein. Er fuhr mit der Fingerkuppe leicht über die Schneide und sofort tropfte sein Blut auf die Erde. „Flixtverkreuzkrampf“, fluchte Aruc und drückte einen einigermaßen sauberen Zipfel seines Leinenhemdes auf den Schnitt. „Also gut ich versuche es“. Vorsichtig setzte er die Klinge an der Mitte des Felsens zum Schnitt an und drückte mit aller Kraft zu. Mit einem lauten Krach zerbarst das Gestein in zwei Hälften und gab den Blick auf den Höhleneingang frei. „Wauu, habt ihr das gesehen. Ich habe ihn einfach zerbröselt. Wauu, wenn das die anderen gesehen hätten, dann würden ihnen vor Staunen die Augen übergehen und der Mund offen bleiben“. Aruc steckte das Messer in das Lederetui zurück, dass mit einer Adlerkopfgravur verziert war und schnallte es sich um die Hüften. „Mit diesem Messer gibt es kein Hindernis mehr für uns. Lasst uns den Weg in die Höhlen von Steinern antreten“, verbeugte er sich feierlich vor Eufe und Fallada. Die schauten sich vielsagend an und verkniffen es sich Aruc daran zu erinnern, dass er derjenige gewesen war, der am wenigsten an die Macht des Messers geglaubt hatte. „Folgt mir ich gehe voran“. Aruc wollte seinen Freunden um jeden Preis beweisen, dass er sich vor nichts fürchtete. Er schulterte seinen Rucksack und betrat als Erster die berüchtigten Steiner Höhlen von Untersbergen. Vor ihnen tat sich ein treppenartiger Abstieg aus Erde und Wurzeln auf, der steil in die absolute Finsternis hinabführte. Die Luft war modrig und abgestanden und es roch nach Fledermausdreck und feuchter Erde. Eisige Kälte umfing sie und Eufe und Aruc waren froh, dass Ullren ihnen warme Winterpelze und eine Satteldecke für Fallada eingepackt hatte. „Mir ist unheimlich Aruc“, flüsterte Eufe und hielt sich krampfhaft an seiner Hand fest. Überall ragten wild verzweigte Wurzeln aus dem Erdreich, die mit etwas Fantasie die Gestalt von grausigen Tierköpfen und seltsamen Fratzen hatten. Sie ging zwischen Aruc, der ihre Hand drückte, um ihr Mut zu machen und Fallada, die dicht hinter ihr schritt und Eufe ihren warmen Atem in den Nacken blies und versuchte sie aufzuheitern, indem sie die eigenartigen Wandformationen der Höhle kommentierte. „Die hier sieht aus wie ein Schweinskopf mit Zöpfen“. Aruc prustete los. „Und die wie eine zerrupfte Fledermaus mit Hörnern“, begann er mit Fallada einen Wettbewerb, wer sich die lustigtsten Vergleiche ausdenken konnte. Je tiefer sie in die Erde hinabstiegen, desto wärmer wurde es. Längst hatten sie ihre Winterumhänge wieder im Gepäck verstaut. In der Dunkelheit erhellten ihnen hunderte von blitzenden Glühwürmchen den Weg durch den unterirdischen Höhlengang. „Das sind meine Freunde, sie haben mich in der letzten Nacht im Turm besucht. Das sind unsere Schutzgeister“, hallte Eufes Stimme dumpf im Stollen wider. Die Wurzeltreppe führte sie immer weiter in die Tiefe. Der Stollen wurde an manchen Stellen so schmal, dass Fallada sich alle Mühe geben musste, um voranzukommen. Trotzdem blieb sie mehrmals stecken. Ihr silbrig weißes Fell war mittlerweile schwarz über und über mit Erde verschmiert. Aruc und Eufes Wanderhose und Kutte hingen ihnen dreckstarrend von den Laibern. Ihre Gesichter waren erdverkrustet. Keiner von ihnen sagte mehr ein Wort. Still setzten sie mechanisch einen Fuß vor den andern um so schnell wie möglich die Höhlen hinter sich zu lassen.
„Pssst, habt ihr das gehört“, Fallada hatte ihre Ohren gespitzt: „Es hört sich an wie ein Wasserfall“.
„Hoffentlich hast du recht Fallada. Ich sterbe vor Durst und es ist heiß und stickig hier unten“. Längst hatte Aruc sein überlegenes Anführergehabe aufgegeben. Während Eufe noch mit sich kämpfte ob sie zugeben sollte, dass sie nicht wusste, was ein Wasserfall war, machte der Erdgang eine scharfe Windung in der Fallada endgültig steckenblieb. Nur mit Hilfe von Aruc und Eufe, die sich gemeinsam an ihre Mähne hingen und sie forwärtszogen, konnte Fallada doch noch die Kurve kriegen. „Nicht so grob. Ihr reißt mir ja noch sämtliche Haare vom Laib“, beschwerte sie sich über die unsanfte Behandlung. Insgeheim war Fallada jedoch heilfroh, dass Aruc und Eufe sie, wenn auch unsanft, aus der starren Umklammerung der Höhle befreit hatten. Kaum waren sie um die Ecke gebogen, blieben sie vor Erstaunen wie angewurzelt stehen. Vor ihnen tat sich eine riesige mit purpurrotem Licht durchflutete Grotte auf, deren Wände aus Kristallen bestand, die sich violett im See spiegelten, der von einem Wasserfall gespeist wurde. In der Mitte des unterirdischen Sees wuchsen hunderte von weißen Rosen. Es roch nach nasser Erde, Narzißnektar und Algen. Über dem Wasser flirrten unzählige Lichter. „Da sind sie wieder unsere Schutzgeister.“ Eufe stand am Ufer des Sees und drehte sich andächtig wieder und wieder um die eigene Achse. Sie hatte noch nie in ihrem Leben etwas Schöneres gesehen. „Ich hoffe das Wasser ist trinkbar. Von der Schönheit allein können wir unseren Durst nicht stillen“. Aruc hatte sich bereits bäuchlings auf die Erde gelegt um mit der hohlen Hand nach Wasser zu schöpfen. „Halt warte Aruc“, wieherte Fallada. „Lass mich vorher trinken. Falls mit dem Wasser etwas nicht in Ordnung ist, bin ich weniger empfindlich als ihr“. Doch Aruc hatte schon einen großen gierigen Schluck gemacht. Die Flüssigkeit rann ihm weich und süß, wie der würzige Kleeblumenmet seiner Mutter durch die Kehle. Er fühlte sich erfrischt wie nie zuvor und sprang mit einem Satz auf die Beine. „Das ist das köstlichste Wasser, das ich je getrunken habe.“ Eufe und Fallada, ließen sich nicht zweimal bitten und sogen das flüssige Labsal in sich auf. Nachdem sie sich lachend und neckend mit samt ihren Kleidern im See gebadet und gewaschen hatten, rollte sich Fallada zufrieden auf dem Rücken bis sie eine bequeme Stellung gefunden hatte und Eufe und Aruc legten sich neben sie und betteten ihre Köpfe auf ihren warmen Bauch. Es dauerte nicht lange und alle Drei sanken in einen tiefen Schlaf.
6. Im Kerker von Inthorm
Ullren spürte einen stechenden Schmerz in ihrer linken Schulter. Sie konnte sich nicht bewegen und alles um sie herum war schwarz. Ihre Augen waren verbunden. Es dauerte eine Weile bis sie sich erinnerte was geschehen war. Nachdem Brac sie geschlagen hatte, musste sie sich beim Sturz an einem der Giftzacken des Eisenportals verletzt haben. Es konnte aber nur ein Kratzer sein, sonst wäre sie nicht mehr aufgewacht. Ihr Kopf schmerzte von der strafen Augenbinde. Ihre Lippen waren trocken und klebten aufeinander wie dickflüssiger Mehlleim. Sie versuchte sich aufzurichten, wurde jedoch von Fußketten und einem Eisenstrang, der sich um ihren Hals spannte, daran gehindert. Ullren stöhnte vor Schmerz und sank auf den kalten Steinboden zurück.
Wenn nur den Kindern nichts passiert ist, war alles woran sie denken konnte.
Plötzlich spürte sie einen Luftzug, der an ihrer Wange vorbeiwischte. Unwillkürlich stellten sich ihr die Haare zu Berge. Sie war nicht allein. Sie wurde beobachtet. Sie fühlte sich nackt und geschunden, obwohl sie das feine Gewebe ihres liebsten Sommerkleides auf ihrer Haut spürte. Sie hatte den Stoff eigenhändig gewebt. Es war hellgrün wie die prachtvollen Blätter des Ahorns, versetzt mit dem Ton reifer Saueräpfel, blassem Reseda und sattem erlenblattgrün. Sie hatte Wochen dabei in iher Kräuterküche zugebracht, um die verschiedenen Schattierungen zu mischen. „Schade, dass du keine Jungfrau mehr bist“. Der Sprecher hatte seine Stimme weder erhoben, noch drohend gedämpft. Dennoch, oder gerade wegen der scheinbaren Ruhe in der Stimme klang Ullren ihre bösartige Zerstörungswut schrill in den Ohren Die Worte schlängelten sich wie eine schuppige Schlange um ihren Körper, die im Begriff war ihr Opfer zu erwürgen. Egom kicherte gönnerhaft. Wieder strich ein Windzug über Ullrens Gesicht. Sie fühlte die verbitterte Kälte die von ihrem Gegenüber ausging. „Sie werden mir nicht entkommen, hörst du. Niemand wird meinen Plan durchkreuzen.“ Egom war ganz nahe an Ullren herangetreten und beugte sich über ihren zusammengekauerten Körper, „und du wirst mir sagen wo sie sind.“ Ullren würde nie mehr seinen Geruch vergessen nach saurem süßlich überpudertem Schweiß. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Brechreiz, der einen abgestandenen Geschmack von Maisfladen in ihrer Kehle zurückließ. Obwohl sie nichts sehen konnte, spürte Ullren, dass Egom sich wieder aufgerichtet hatte und sie von oben herab anstarrte. Noch bevor Ullren ihm etwas entgegnen konnte, pochte es an der Kerkertür. Es war ein dumpfes metallenes Klopfen auf schweres Blei, dass Egom durch die Arbeit von Hunderten von Sklaven aus seinen Mineralgruben gewann. Ein lautes Quietschen verriet, dass sich die Tür geöffnet haben musste. „Herr, ich habe euch eine Mitteilung zu machen.“ „Es ist besser eine wichtige Nachricht, die du mir überbringst“, schnauzte er den eingeschüchterten Wachmann an, der mit belegter Stimme antwortete: „Herr, ich konnte die Zigeunerin nicht finden...sie..., plötzlich war die Stimme des Wachmanns kaum noch zu hören und aus seiner Kehle drangen seltsame Geräusche wie beim Abschlachten eines verendenden Schweins. „Wie meinst du das?“, schrie Egom außer sich vor Wut. „Das wirst du mir büßen.“ Die Tür zu Ullrens Verließ wurde heftig zugeworfen und von außen verriegelt. Hastige Schritte, gefolgt von Schmerzensschreien hallten in der Dunkelheit an Ullrens Ohr bis ihr Echo in der Ferne verklang. Ullren wusste, dass Egom zurückkommen würde und zwar sehr bald. Trotzdem war sie erleichtert. Egoms Aufruhr bedeutete, dass die Kinder es geschafft hatten. Das erste Hindernis war überwunden. Obwohl Ullrens Körper überall schmerzte und jede kleinste Bewegung durch ihre Fesseln verhindert wurde, war sie zutiefst dankbar. Die Kinder waren frei. Diese Gewissheit gab ihr Ruhe. Sie vergaß den peinigenden Durst, die Kälte und die Schmerzen. Gnädig erhoben sie sanfte Traumschwingen aus dem frostigen Verlies.
Ullren wusste nicht wie lange sie geschlafen hatte. Das Gift benebelte ihre Sinne. Ihre Augenbinde war entfernt. Neben ihr stand eine Schale mit Wasser. Es war dunkel. Sobald sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte Ullren einzelne Umrisse im Kerker ausmachen. Hoch über ihr sah sie ein kleines vergittertes Fenster. Ullren überlegte, ob Egom zurückgekommen war um sie weiter zu verhören und sie bewusstlos vorgefunden hatte. Ausgerechnet Bracs Schlag, wegen dem sie die Giftzacke gesreift hatte, sollte ihr möglicherweise das Leben gerettet haben. Zumindest vorerst. In dem kalten Verlies gab es nichts, nicht einmal einen Stuhl, absolut nichts. Nur eine Mulde an der gegenüberliegenden Seite der groben Steinwand, die ihr wohl zur Verrichtung ihrer Notdurft dienen sollte. Ihre Hände und Füße waren an einem verrosteten Ring, der in die Wand geschlagen worden war, angekettet und gaben ihr nur soviel Bewegungsfreiheit, um auf die andere Seite der Zelle zu gelangen. Es stank erbärmlich nach gärenden Exkrementen. Aus der Dunkelheit blitzten gelbe Rattenaugen vor ihr auf, die verschwanden sobald sie sich bewegte. Ullren ergriff mit zitternden Händen die Blechschüssel neben ihr und trank gierig das abgestandene Wasser bis sie ihren Durst gelöscht hatte. Sie schloss ihre Augen und wartete. Sie erhoffte ein Zeichen, eine Antwort. „Amo gib mir Kraft, lass mich erkennen wie ich diesem Gefängnis entfliehen kann“. Ullren bemerkte erst, dass sie laut gesprochen hatte nachdem sie ein hämisches Lachen über ihr hörte. Veltrons Sohn Perchta sah höhnisch zwischen den Gitterstäben des Kerkerfensters auf sie herab und genoss sichtlich seine Macht. „Soll ich auf dich pissen oder lieber Schweinescheiße über dich schütten oder beides du Hexe?“ Für einen Moment zog der dichte Wolkenschleier auf und silbernes Mondlicht erhellte die drohende Erscheinung des Halbwüchsigen. Er hatte sich das Gesicht und den bloßen Oberkörper mit Ruß geschwärzt. In seinen weit aufgerissenen Augen flackerte Hass und Verachtung. Er kaute auf einem langen Pflanzenstengel, der unter der Bevölkerung als Teufelsstrang bekannt war und eine berauschende Wirkung ausübte wenn sich seine Bitterstoffe mit Speichel vermischten. Perchta zog ein langes Messer aus seiner Hosentasche und setzte es sich an seinen Unterarm. „Jetzt zeig ich dir, dass ich keine Angst vor dir habe. Ich habe vor niemandem Angst“. Perchta schnitt sich mit einem kurzen Aufheulen in seinen linken Arm kurz unterhalb von seinem Bizepsmuskel. Den Blutstrom fing er in einem Holzeimer auf, der neben ihm stand. Ullren wandte entsetzt ihr Gesicht ab. Kurze Zeit war es still bis sie das Rauschen eines Flüssigkeitsstrahls wahrnahm, der auf eine dickflüssige Masse traf. Instinktiv drehte Ullren sich ruckartig auf die Seite, so weit es ihre Ketten zuließen und entging um Haaresbreite dem Inhalt des Eimers, den Perchta wutentbrannt über sie entleert hatte. Nur ein paar stinkende Spritzer einer Mischung aus Blut, Urin und Kot trafen sie im Nacken. Abscheu und Ekel verschlugen ihr den Atem. Ihr Puls raste. Sie konnte es nicht verhindern, dass sie am ganzen Laib zu zittern begann. Perchta spuckte durch die Gitterstäbe auf sie hinunter und schlurfte befriedigt pfeifend davon. Mit dem letzten Rest des Wassers aus ihrer Trinkschale säuberte sie sich fieberhaft ihre besudelte Haut. Wie konnte dieser Junge es wagen, wie konnte er es wagen? Ullren empfand blinde Wut. Er sollte es büßen, er sollte vor ihr auf allen Vieren kriechen und um Vergebung winseln. Oh wie sie diesen Abschaum eines Menschen hasste. Ullren schluchzte vor Erniedrigung. Nein, dass waren nicht ihre Gedanken. Nein, sie würden es nicht schaffen ihren inneren Himmel zu zerstören. Amo ist die Liebe, die Vergebung, die Schönheit und alles Gute und Göttliche in uns. In ihrem Kopf pulste zuerst leise, dann immer lauter eine Stimme, die wiederholte: „Sei still und wisse mein Kind. Ich bin Gott.“ Ullrens angespannte Züge glätteten sich. Einem Impuls folgend begann sie leise zu singen:
Ich bin in deinen Händen, ich bin ganz ruhig und frei. Ich schwebe zu den Wolken. Ich bin auf meinem Weg zu dir.
Das Mondlicht warf silberne Reflexe auf die modrigen Steinquader in ihrem Verlies. Der penetrante Geruch der Exkrementenlache, die Perchta nach ihr geschüttet hatte, vermischte sich mit der Ausdünstung abgestandenen Schimmels und fauliger Erde. Ullren fröstelte und versuchte sich so weit es ihre Fußketten erlaubten dem Gestank zu entwinden. Was würde mit ihr geschehen? Was würde Egom mit ihr machen? Ullren stellten sich sämtliche Haare zu Berge bei dem Gedanken an den Tyrannen. Wo waren Aruc, Eufe und Fallada jetzt? Ullren zweifelte keinen Moment daran, dass Amo ihnen gutes Geleit schenkte und vor allen Gefahren beschützte, die in der Höhlenwelt auf sie lauern mochten. Was war mit Brac geschehen? Erinnerungen überfielen sie wie schwirrende Motten, die sich vom Licht einer Pechfackel anlocken ließen und jämmerlich verbrannten.
Obwohl er sie geschlagen hatte, empfand sie ihm gegenüber keinen Groll. Ullren bedauerte ihren Mann aus tiefstem Herzen. Er war nicht immer so gewesen. Sie hatte ihn in der Schmiedewerkstatt kennengelernt. Niemand konnte schöner Gebilde aus dem rotglühenden Eisen zaubern als er. Zwei Wochen nach ihrer ersten Begegnung, hatte er sie auf dem Hof ihres Vaters besucht und ihr schüchtern eine bemalte Holzkiste und einen Strauß selbstgepflückter Sumpfdotterblumen überreicht.
Obwohl ihm fast alle heiratsfähigen Mädchen des Dorfes zu Füßen lagen, glühten seine Ohren wie bei einem unbedarften Schuljungen als Ullren sein Geschenk mit fliegenden Händen auspackte. Nie hatte sie etwas Schöneres bekommen. Brac hatte ihr einen kunstvoll verschnörkelten Wunschreif geschmiedet an den er an zierlich ineinander greifenden Kettengliedern verschiedener Länge, Blumen, Vögel, Schmetterlinge, Bienen und Blätter gehängt hatte, die er in feinster Schmiedearbeit gefertigt hatte. Als er ihr einen Monat später einen Heiratsantrag machte, stimmte Ullren ohne zu zögern zu. Sie war sich sicher in Brac einen guten Mann gefunden zu haben, der sie aufrichtig liebte. Außerdem konnte sie es nicht erwarten endlich ihre eigene Familie zu gründen, um den Schikanen ihrer Stiefmutter zu entrinnen. Nachdem Ullren ihren Sohn Aruc zur Welt gebracht hatte, nahm Brac die Stelle als Festungsmeier in Inthorm an. Was Ullren anfangs als großes Glück ansah, stellte sich sehr schnell als Alptraum heraus. Aus dem ehemals liebevollen und sanften Schmiedemeister wurde nach und nach ein zynischer, böser und launischer Diener Egoms, der sich seiner Frau und seinem Sohn entfremdete. Eines Tages legte Brac ihr ein Neugeborenes in die Arme und befahl ihr sich um das Kind zu kümmern. Ullren liebte es von Stund an wie eine Mutter und taufte es Eufe, was soviel wie fein und scheu bedeutete. Trotzdem konnte Ullren nicht verhindern, dass Brac das Mädchen, sobald es laufen konnte, in das Turmverlies sperrte. Ullren schloss die Augen. Es konnte nicht mehr lange dauern bis Egom zurückkam, um sie zu verhören.
Die Zigeunerin
Egom humpelte wie ein verwundetes Wild von einer Seite seines Gemachs zur anderen. Immer wieder schlug er mit seinem Gehstock gegen die Wand. Selbst seinen Thron malträtierte er mit zornigen Hieben und wurde nur noch wütender als sich ein Edelstein aus der Fassung an der Armlehne löste. Furios peitschte er den verschnörkelten Bronzestab gegen sein kostbares Sitzmöbel aus Gold für das er ein Vermögen ausgegeben hatte. „Wache, Wacheeeee“, brüllte er mit überkieksender Stimme. „Bringt mir auf der Stelle die Zigeunerin und wenn du jeden Stein von Unterbergen einzeln umdrehen musst, um sie zu finden. Bring sie mir. Hörst du, ich brauche sie sofort hier im Turm“. Der Soldat machte auf dem Absatz kehrt und wäre fast gegen die verschlossene Tür gelaufen, so eilig hatte er es Egoms Befehl auszuführen. „Tölpel. Kein Wunder, dass ihnen die Flucht gelungen ist. Ich bin nur von Idioten und Nichtsnutzen umgeben“, hallte Egoms gellende Schreierei in den Ohren des Soldaten, der sich im Laufschritt davon machte, um die Zigeunerin zu suchen. „Ich muss sie finden, koste es was es wolle. Koste es was es wolle“, wiederholte Egom monoton und es war nicht klar, ob er damit Eufe, oder die Zigeunerin meinte. Sein Wutanfall hatte ihn erschöpft. Mühsam wuchtete er seinen schweren Körper über die Stufen, die zu seinem Thron führten und setzte sich atemlos auf das purpurfarbene Sitzkissen. Auf seiner weißen Tunika hatten sich Schweißflecken gebildet. Seine Kapuze war verrutscht. Er bot den grotesken Anblick eines Scharfrichters an, der sich unbeobachtet fühlte. Er brauchte das Blut der Jungfrau. Nur dadurch würde er allmächtig und unsterblich werden. Lautes Pochen riss ihn aus seinen Gedanken. „Wer wagt es mich zu stören?“ „Hoheit ich bringe die Zigeunerin auf euren Befehl“. Erleichterung schwang in der Stimme des Soldaten, der noch immer sein Glück kaum fassen konnte. Gerade als er sich aufmachen wollte, um die Zigeunerin zu suchen, galoppierte sie in den Vorhof der Festung. Er wusste, dass er knapp einem grausamen Tod in Egoms Kerker entkommen war, hätte er sie nicht gefunden.
„Lass sie eintreten.“ Hastig richtete sich Egom auf und rückte seine Kapuze hastig zurecht. Die schwere Eisentür zu seinem Gemach wurde aufgestoßen und eine dunkelhaarige Frau trat vor den Thron und knickste tief. „Ihr habt nach mir rufen lassen Majestät“. Sie war hochgewachsen und trug ein langes schwarzes Kleid, dass ihre schlanke Figur betonte. Ein großer Rubin an einer schweren Goldkette baumelte von ihrem Hals auf ihr Dekoltée, dass einen großzüigen Einblick auf ihre festen Brüste bot. Sie hatte ein schönes Gesicht. Das intensive indigoblau ihrer Augen verlieh ihr eine geheimnisvolle Aura. Die Zigeunerin war der einzige Mensch in Unterbergen, den Egom insgeheim bewunderte. Er hatte sie reich belohnt für die Prophezeihung, die sie ihm gemacht hatte. Ausser der Rubinkette, trug die Zigeunerin einen großen Diamantring an ihrem linken Ringfinger und blaue Saphirarmbänder an beiden Handgelenken.
„Wie kann ich Euch dienen Herr?“ Ihre kühlen Augen waren wachsam auf Egom gerichtet und nahmen einen harten Ausdruck an als er zeeterte: „Wo warst du so lange? Weißt du nicht was geschehen ist? Der Jungfrau ist die Flucht gelungen. Das vermaledeite Weib des Turmmeiers hat ihr geholfen. Und jetzt ist sie einfach aus dem Turm verschwunden.„ Beherrscht antwortete die Zigeunerin: „Majestät die Sicherheit von Inhtorm ist nicht meine Sache. Ich war im Wald, um das Opferritual für die schwarze Sonne vorzubereiten.“ Obwohl sie vorgab vollkommen gelassen zu sein, brodelte es in ihr. Wie konnte das passieren? Sie wusste, dass Egom sie verantwortlich machen würde, wenn es nicht gelang die Jungfrau der schwarzen Sonne zu opfern. Es würde ihren eigenen Tod bedeuten, daran gab es keinen Zweifel. Ihren Einfluß auf Egom verdankte sie einzig seiner Gier nach dem Blut der Jungfrau. Wenn sie ihm nicht mehr nützlich sein konnte würde er sie ebenso vernichten wie alle anderen. Ohne ein weiteres Wort an die Zigeunerin zu richten, ließ Egom sich auf seinen Thron fallen. Er hatte sich so aufgeregt, dass er kaum noch zu Atem kam. Rasselnd versuchte er Luft in seine kranken Lungen zu pumpen. Ein Diener brachte ihm ein Fläschchen mit einer zähflüssigen Tinktur, die er gierig trank. Die Zigeunerin blieb steif vor dem Thron stehen und wartete. Nach einer Weile erhob Egom sich und trat so dicht vor sie, dass sie seine unnatürlich geweiteten Pupillen hinter seiner Maske erkennen konnte: „Bring mir das Mädchen und ich gebe dir was immer du willst. Wenn ich allmächtig und unsterblich geworden bin, sollst du gemeinsam mit mir regieren. Falls du jedoch versagst...“ Der bedrohliche Unterton seiner heiseren Worte war nicht zu überhören. Egoms abgestandener Atem streifte das Gesicht der Zigeunerin, die nur mit Mühe ihren Abscheu verbergen konnte. Unwillkürlich setzte sie einen Schritt zurück: „Majestät gebt mir eure besten Männer. Ich werde noch im Morgengrauen aufbrechen und sie zurückbringen. Das verspreche ich euch.“ „Ich wusste doch, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe. Wenigstens dir kann ich vertrauen. Du wirst es nicht bereuen meine Schöne. Verlass dich drauf.“ Egom kicherte zufrieden und klatschte zweimal in die Hände. Einer seiner Leibwächter erschien mit einem Silbertablett auf dem er eine Karaffe aus geschliffenem Kristall mit einer roten Flüssigkeit und zwei langstieligen Kelchgläsern trug. „Trink ein Glas Stierblutwein mit mir vor deiner Reise. Das wird dich stärken.“ „Verzeiht Herr. Ich denke es ist besser ich mache mich sofort auf den Weg. Jede Minute ist kostbar“, beeilte sich die Zigeunerin abzulehnen. „Schickt mir die Soldaten so schnell es geht. Ich werde einstweilen versuchen herauszufinden, wo ich die Jungfrau finde.“ Wieder knickste die Zigeunerin tief. Ohne eine Antwort von Egom abzuwarten, verließ sie sein Gemach. Noch brauchte er sie und diese Macht über ihn wollte sie ihn deutlich spüren lassen. Die Zigeunerin wusste wie man mit Menschen seines Schlages umzugehen hatte. Sie versuchten ihre Unsicherheit und ihren Mangel an wahrer Stärke durch Grausamkeit zu vertuschen. Solange sie ihm keine Angst zeigte, hatte er keine Gewalt über sie.
Während die Zigeunerin in ihre Gedanken versunken den Innenhof der Festung überquerte und dem Stalldiener zurief, ihr Pferd zu bringen, überlegte sie fieberhaft. Es gab nur einen Ausweg. Übelkeit bemächtigte sich iher. Sie würde ihre Mutter besuchen, das heißt das was noch von ihr übrig war, und ihr den Kristall abnehmen. Sie hätte ihn von Anfang an nicht aus der Hand geben sollen, um ihn der alten Zigeunerin ins Grab zu legen. Ein verbittertes Lächeln umspielte ihren Mund. Ihre Mutter hatte bis über den Tod hinaus über sie bestimmt. Über sie und alle Menschen in ihrer Umgebung. Sie war an allem Schuld. Sie hatte ihr das Neugeborene in die Arme gelegt und befohlen es Egom zu bringen und ihm zu prophezeien dass er es der schwarzen Sonne opfern sollte und ihr Blut ihn unsterblich und allmächtig machen würde. An ihrem Sterbebett musste sie ihrer Mutter versprechen den Kristall der alten Zigeunerin mit ins Grab zu legen. Doch jetzt brauchte sie ihn. Durch den Kristall konnte sie alles sehen was in der Gegenwart geschah. Nur so konnte sie den Ort ausfinding machen, an dem sich die Jungfrau befand. Seit Wochen war sie im Wald unterwegs, um die notwendigen Zutaten für das Opferritual zu sammeln. Ihre Mutter hatte ihr genaue Anleitungen gegeben. So musste sie einen Frosch suchen, der einen roten Fleck auf dem Bauch trug. Außerdem eine blaue Blume, die während einer einzigen Nacht blühte. Den Zahn eines wilden Ebers, eine violette Silberdistel und die Wurzel eines schwarzen Grashalms. Die Zigeunerin brauchte Monate bis es ihr endlich gelungen war alles zusammenzubringen. Und ausgerechnet jetzt, wo sie sogar die abgeworfene Haut eines Feuersalamanders gefunden hatte, ausgerechnet jetzt musste die Jungfrau aus dem Turm verschwinden. Es blieb nur dieser eine Auswege. Sie musste das Grab ihrer Mutter schänden. Angeekelt von dem Gedanken rümpfte die Zigeunerin ihre Nase. „Ich habe sie im Stall, neben den Schweinen untergestellt. Ich hab mich schon an den strengen Geruch gewöhnt“, entschuldigte sich der Stallknecht unbeholfen bei ihr und riss sie aus ihren Gedanken. „Ja, Ja, ist schon gut.“ Die Zigeunerin ließ sich von dem jungen Mann, der sie im Stillen anhimmelte, in den Sattel helfen und galoppierte ohne sich zu bedanken, oder ihn auch nur eines Blickes zu würdigen aus der Festung. Sie lenkte ihr Pferd zu der abgelegenen Lichtung auf der ein Zigeunerfriedhof entstanden war. Obwohl Egom seit der Prophezeiung nichts mehr gegen Zigeuner hatte, und sie auch auf dem Untersberger Friedhof ihre letzte Ruhe finden hätte können, wollte ihre Mutter trotzdem hier begraben werden, unter den ihren. Die Zigeunerin band ihr Pferd an den wurmstichigen Zaun, der die Lichtung umschloss und wanderte zwischen den mit Beifuß und Wegerich bewachsenen Gräbern zu einem frisch aufgeworfenen Erdhügel. Sie blieb davor stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Wie zu erwarten gewesen war, blieb alles ruhig und nur das Zwitschern der Spatzen war zu hören, die sich die Lichtung als bevorzugte Nestregion ausgesucht hatten. Keiner der Untersberger verirrte sich je hierher, aus Angst vor den bösen Geistern der Begrabenen. Selbst die Zigeuner kamen nur zu den Bestattungen. Auf einer Holzlatte, die aus dem Grabhügel stakte, stand ein Datum unter dem Namen Ekstel. Die Zigeunerin raffte ihr Kleid in der Taille und rollte den Stoff so lange um ihre Hüften bis sie bis zu den Knien nackt war und genügend Beinfreiheit hatte. Ihr Blick fiel auf einen verfallenen Schuppen, den die Totengräber nützten, um ihre Werkzeuge aufzubewahren. Entschlossen stieß sie die Tür mit einem Fußtritt auf. Es roch nach modriger Erde. Spinnweben wehten im Wind. Ein Spaten lehnte neben der Tür. Wahrscheinlich war es sogar derjenige mit dem ihre Mutter eingegraben worden war, ging es der Zigeunerin durch den Kopf. Sie hatte nicht eine Träne vergossen bei der Beerdigung. Sie wusste, dass ihre Mutter sie nur für ihre selbstsüchtigen Zwecke benützt hatte. Die Zigeunerin empfand ihren Tod nichts weiter als eine Befreiung. Sie musste sich beeilen, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Es schauderte sie bei dem Gedanken in der Nacht allein auf dem Friedhof zu sein. Nach Stunden härtester Schaufelarbeit hatte sie es endlich geschafft und den Oberkörper von Ekstel freigelegt. Es stank erbärmlich. Der Zersetzungsprozess war bereits eingetreten und sie musste sich den Ärmel ihres Kleides vor Mund und Nase halten, um nicht die äztenden Dämpfe einzuatmen. Maden und Würmer krochen aus dem verwesenden Fleisch. Der Kristall lag unversehrt auf Ekstels Brust. Die verwesenden Hände der Toten waren darum gefaltet. „Verzeih Mutter, du brauchst ihn jetzt nicht mehr.“ Mit einem wilden Aufschrei des Ekels schlug sie auf die bereits unkenntlich gewordenen Finger der Toten. Die Kristallkugel rollte neben die Leiche und blieb in der Grube liegen. Mit größter Überwindung, einen Zipfel ihres Kleides schützend um ihre Hände gehüllt, ergriff die Zigeunerin hektisch den Kristall und rannte ohne sich noch einmal umzusehen zu ihrem Pferd. Es war ihr egal, dass das Grab offen blieb. Bis es entdeckt worden war, hätte sich längst alles erledigt. Sobald Egom sie zur Mitherrscherin machte, konnte ihr niemand mehr etwas anhaben.
7. Die Untersberger Glühmandln
„Sieh nur wie friedlich sie schläft. Das schöne goldene Haar und ihre geschmeidigen Glieder“, hörte Eufe eine zirpende Stimme neben sich. Es dauerte nicht lange und eine zweite, etwas dunklere Stimme antwortete: „Wir müssen sie warnen.“ „Bevor es zu spät ist“, ließ sich die erste Stimme erneut vernehmen. Eufe traute sich kaum zu atmen und wagte es nicht ihre Augen zu öffnen. Fallada und Aruc schliefen fest und atmeten regelmäßig und in tiefen Zügen. Plötzlich spürte sie ein zartes Streifen auf ihrem bloßen Arm, so als würde ihr jemand mit einer Gänsefeder über die Haut streicheln. „Wach auf schönes Mädchen, wach auf“, raunte die erste Stimme von ihrer Schulter aus in ihr linkes Ohr. „Wir müssen dir eine wichtige Mitteilung machen“, half die zweite Stimme von ihrer rechten Schulter aus nach. Vorsichtig öffnete Eufe die Augen und sah in die gutmütigen Gesichter von einer klitzekleinen Frau und einem fast ebenso kleinen Mann, die nur etwa so groß waren wie Eufes Handteller. Sie sahen aus wie Miniaturmenschen mit Kleidern aus Blättern und Gräsern. Das Männlein hatte eine halbe Haselnussschale auf dem Kopf. Das Weiblein hatte ein vierblättriges Kleeblatt kunstvoll um ihre granatapfelroten kurzen Locken drappiert. Sie waren von einem Glanz umgeben, der wie Sternenstaub um sie herum wirbelte und Eufe fragte sich, ob sie träumte. „Wer seit ihr?“ flüsterte sie verdutzt und richtete sich langsam auf, während die Strahlenmenschlein sich behende auf ihrem rechten und linken Bein niederließen. „Wir sind Untersberger Glühmandln. Darf ich vorstellen, die bezaubernde Liesli“, verbeugte sich das Männlein galant vor Eufe und lüftete dabei die Haselnussschale auf seinem Kopf, „und der holde Kaliman“, flötete das Weiblein mit einem etwas verunglückten Knicks bei dem sie ihren steifen Rock aus Kastanienblättern umständlich raffte. „Wir sind hier um euch zu warnen. Du und deine Gefährten müsst euch sofort auf den Weg machen. Ihr seit in der Höhle der Kormoraner, die jeden Augenblick auftauchen können. Wir kennen einen geheimen Steig, der euch in den Spinndlwall bringt. Es ist das Reich von Sikull. Sie ist gefräßig und gefährlich......“. „So treib dem Mädchen doch keine Angst ein Liesli“. „Ich treib ihr doch keine Angst ein, ich warne sie nur, dass wird man schließlich noch dürfen.“ „Nein, weil es schließlich keinen anderen Weg gibt und sie...“ „Immer weißt du alles besser.“ Eufe konnte ihre Augen nicht trauen. Das musste ein Traum sein. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete waren die beiden Untersberger Glühmandln immer noch da. Während Liesli und Kaliman sich zankten, schüttelte Eufe Aruc und klopfte auf Falladas Bauch. „Wacht auf Aruc, Fallada, wacht auf, wir müssen weiter. Bitte wacht auf.“ Keiner der beiden rührte sich. „Warum wachen sie nicht auf? Was soll ich tun?“ Eufe war außer sich vor Angst und Verzweiflung. „Was ist mit ihnen geschehen?“ „Beruhige dich meine Schöne. Sie haben wahrscheinlich nur zu tief in den See geschaut, wenn du meinst was ich weiß äh, wenn du weißt was ich meine“, tätschelte ihr Kaliman beruhigend den linken Oberschenkel. Eufe schaute das Untersberger Glühmännlein verständnislos an. „Wie soll sie wissen was du meinst Kali? Du und deine Besserwisserei“, keifte Liesli ihren Gatten an, um sich für seine vorhergehende Zurechtweisung zu rächen. Würdevoll erklärte sie Eufe und versuchte so gelehrt wie möglich dabei zu klingen: „Also meine Liebe, sie haben zu hastig und zu viel aus dem See getrunken und sind betrunken. Das Wasser des Sees ist kein normales Wasser, sondern Höhlenrauschwasser.“ „Aber ich habe auch daraus getrunken und ich spüre nichts.“
„Du hast wahrscheinlich weniger als die beiden getrunken und verträgst mehr, was mich allerdings wundern sollte. Du bist die magerste und kleinste. Na ja Größe soll nicht unbedingt auf Stärke schließen lassen. Das sieht man schließlich an meinem Beispiel“, tippte sich Liesli an die freche Stupsnase. „Bitte, bitte helft ihnen, bitte“, flehte Eufe inbrünstig. „Liesli Gute, bleib hier mit der Maid und pass auf sie auf. Ich pflücke Höllkraut, damit wir ihre Freunde wieder auf die Beine bringen.“
„Kaliman Guter, das ist ein feiner Zug von dir“, waren sie wieder ein Herz und eine Seele. Welch eigenartige Geschöpfe, dachte Eufe, zänkisch und liebenswürdig zugleich. Kaliman breitete ein Paar durchsichtige Schwingen aus, die wie Libellenflügel aussahen und flog surrend in den Wasserfall. Binnen weniger Sekunden war er verschwunden.
„Mach dir keine Sorgen meine Liebe, er ist gleich wieder zurück.“ Eufe versuchte sich ruhig neben Fallada und Aruc zu setzen und zu warten. Nervös begann sie ihre Nagelhaut an den Ecken aufzureißen bis sie blutete. „Lass das, so ein schönes Kind und so eine Unart auch“, zeeterte Liesli und flatterte auf ihre Schulter. Zart streichelten ihre Flügel über Eufes Wange und etwas milder sagte sie: „Tu dir nicht selber weh meine Schöne. Du bist nicht Schuld.“ Eufe hatte aufgehört an ihren Fingern zu zupfen und schaute Liesli mit großen Augen an. Wieso wusste dieses kleine Geschöpf, dass sie sich schuldig fühlte. Seit sie denken konnte, fühlte sie sich schuldig. Dafür, dass sie im Turm eingesperrt gewesen war, dafür das Ullren jetzt allein in Inthorm war und sie nicht wussten was mit ihr geschehen würde, dafür das Aruc und Fallada mit ihr in Gefahr waren und sogar dafür, dass sie nicht einmal wusste, woher sie kam. Liesli schwieg eine Weile. Sie strich bedächtig über ihr aus Gänseblumen und Grashalmen geflochtenes Hemdchen. Ein dumpfes Poltern unterbrach sie. „Oh nein, dass müssen sie sein. Wo bleibt nur Kaliman?“ Eufe war so aprupt aufgestanden, dass Liesli fast heruntergefallen wäre und sie vorwurfsvoll anschaute. „Entschuldige Liesli, aber ich muss meine Freunde retten. Ich muss irgendetwas tun.“ Liesli schaute sich ratlos um und versuchte Kaliman in der Höhle zu entdecken. Nichts, nicht das entfernteste Anzeichen von Kali. „Er muss wohl in eine abgelegene Höhle geflogen sein, weil er in der Nähe kein Höllkraut gefunden hat“, versuchte sie ihn vor Eufe zu entschuldigen. „Aber wir können nicht länger warten Liesli. Wir müssen uns irgendetwas einfallen lassen“. Eufe war außer sich. Was konnte sie nur tun? Es musste doch irgendetwas geben. Der Rucksack, ja, natürlich. Ullren musste ihnen irgendetwas mitgegeben haben, dass sie vor Gefahr beschützte.
Eufe ergriff fieberhaft ihren Rucksack und brachte seinen Inhalt der Reihe nach zu Tage. Im Licht der Höhle blieb das rosenholzfarbene Kristall dunkel. Holzrohr, Flügel, Kristall, Kerze. Nichts schien ihr brauchbar um sich damit gegen die Kormoraner zur Wehr zu setzen. Vielleicht finde ich etwas unter Arucs Sachen? Adlerfeder, Kräuterbeutel, Silberband, Kieselstein. Das Steinmesser, dass ihnen schon einmal geholfen hatte, steckte in Arucs Gürteltasche. Sollte sie die Männer mit dem Messer bedrohen und im Ernstfall sich und ihre Freunde damit verteidigen? Das Getrampel von schweren Stiefeln und ein schreckliches Kratzen als ob Eisen über Steine schleifen würde, ließ Eufe das Blut in den Venen gefrieren. Liesli summte aufgeregt um sie herum und quietschte immer wieder: „Kali wo bleibst du nur Kaaaaaaalllliiiiiiii“. Eufe kaute angestrengt auf ihrer Oberlippe. Im Stillen wiederholte sie immer wieder, denk nach Eufe, denk nach. Sie durfte nicht untätig zuschauen wie...Noch immer lagen Fallada und Aruc regungslos neben ihr auf dem Boden. Die Kormoraner waren bereits so nahe, dass sie einzelne Wortfetzen verstehen konnte: „...rieche Fleisch... du...“ Es waren böse, unmenschliche Stimmen. Eufe drückte ihre rechte Hand gegen ihre Brust. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die Luft anhielt. In ihrer Todesangst rief sie laut: „Es gibt nichts zu fürchten. Ich bin stark und frei.“ Noch im selben Augenblick begann sie gleichmäßig zu atmen und konnte wieder klare Gedanken fassen. Aufmerksam ließ sie ihre Augen über Ullrens Geschenke gleiten. „Ich hab´s“, rief sie so plötzlich, dass Liesli aus dem Gleichgewicht geriet und es diesmal nicht verhindern konnte und rücklings von Eufes Schulter stürzte. „Liesli, die schwarze Kerze“, schrie Eufe aufgeregt. „Ja und, deshalb brauchst du mich ja nicht so zu erschrecken“, maulte das Untersberger Glühweiblein mürrisch und rückte sich das ramponierte Kleeblatthütchen auf ihrem zerzausten Lockenkopf zurecht. „Was ist nun mit der schwarzen Kerze?“ „Ich muss diese Kerze anzünden Liesli. Ich brauche Feuer, wie mache ich Feuer hier?“ Liesli war froh, dass sie endlich etwas tun konnte und umschwirrte die Kerze dreimal mit ihrem Sternenstaubglitter bis sie sich entzündet hatte. „Krachderlei, dass habe ich gut gemacht“, triumphierte sie strahlend, um gleich darauf einen gellenden Hilfeschrei nach Kaliman auszustoßen. Trampelnd und schnaufend brachen die Kormoraner aus dem Stollen in die Grotte. Eine wilde Horde von dunklen pockennarbigen Männern, die anstelle ihrer linken Hand einen Eisenring mit langen Stacheln an der Innenseite ihrer Armstumpfe gebunden hatten. Das also erklärte das entsetzliche Kratzen, dass sie von weitem gehört hatte, schoss es Eufe durch den Kopf. Ihre Schädel waren kahlrasiert und, von rotglühenden Eisen, die in ihre Haut gestemmt worden waren, mit vernarbten schwarzen Brandmalen gekennzeichnet. Alle trugen das gleiche Symbol. Ein nachoben und daneben ein nach unten verlaufender Blitz. Ihre Arme und Beine waren mit Eisenspitzen gespickt, die mit Säure in die Haut geätzt und darin eingewachsen waren. Um den Hals trugen sie die gleichen Stachelringe, die sie als Handersatz hatten. Ihre Gesichter waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, von tiefen Schnittwunden, die, um die Narben wulstig wuchern zu lassen und um sie schmerzunempfindlicher zu machen, mit Salz behandelt worden waren. Obwohl Eufe nicht einmal in ihren wildesten Alpträumen im Turm schrecklicheren Monstern begegnet war, stellte sie sich schützend vor ihre Freunde, die schwarze Kerze zitternd in ihrer linken Hand vor sich haltend. Laut betete sie: „Bitte hilf uns Amo, steh uns bei!“ Die Höhle hallte wider vom furchtbaren Gelächter der entsetzlichen Kreaturen. Plötzlich sprühte eine Funkenfontäne aus der Kerzenflamme und umhüllte die Kormoraner mit dichtem Nebel. Aus ihrem hämischen Lachen wurden gellende Schmerzensschreie. Die Höhlenmänner krümmten sich und rieben sich die Augen während brüllten: „Ich bin blind, ich sehe nichts mehr...“ Eufe hörte ein Summen an ihrem Ohr und Kaliman landete mit einer riesigen Ladung violetten Höllkrauts, die ihn fast gänzlich verdeckte, auf ihrer Schulter. Ohne auch nur eine Frage zu stellen, befahl er Eufe: „Steck ihnen das Kraut in den Mund, schnell“. Im Bruchteil einer Sekunde hatten Fallada und Aruc Höllkraut auf ihren Zungen und erwachten aprupt aus ihrer Ohnmacht. Eufe rief so laut sie konnte:
„Folgt mir. Wir müssen fliehen.“ Kali und Liesli waren bereits vorausgeflogen und erwarteten sie in der Nähe des Wasserfalls. Fallada wieherte schrill und sprang donnernd auf ihre Vorderbeine. Aruc rollte sich zur Seite, während er geistesgegenwärtig die beiden Rucksäcke schnappte, die Eufe hastig zusammengepackt hatte und rannte wie von einer Hornisse gestochen hinter ihnen her. Bevor die Kormoraner reagieren konnten, waren Eufe, Aruc und Fallada hinter Kaliman und Liesli in einem Seitengang der Höhle verschwunden. „Was ist passiert Eufe, ich kann mich an nichts erinnern. Wer sind diese kleinen Flugmännchen?“, keuchte Aruc. „Wir sind keine kleinen Flugmännchen, sondern Untersberger Glühmandln“, erklärten Kaliman und Liesli hoheitsvoll und musterten den schnaufenden Aruc geringschätzig. „Sobald wir in Sicherheit sind erklär ich euch alles“, antwortete Eufe abgekämft. „Jetzt ist keine Zeit dazu, wenn die Kormoraner uns einholen ist es um uns geschehen. „Das hat sie gut erkannt“, ließen sich Kaliman und Liesli erneut vernehmen, während sie stolz, jeder auf einem Ohr Falladas saßen und im Takt des strammen Trabs, den die Stute vorgelegt hatte, auf und abhüpften, so dass die Nussschale und das Kleeblatt auf ihren Köpfchen von einer Seite auf die andere rutschten. Der Stollen war so niedrig, dass Eufe und Aruc hinter Fallada herlaufen mussten. „Dann sag mir wenigstens wohin wir rennen“, gab Aruc nicht auf, obwohl er kaum sprechen konnte, weil sein Herz gegen seine Rippen hämmerte. Noch bevor Eufe antworten konnte, zirpte Liesli von ihrem hohen Ross herunter: „Wir sind auf dem Weg in den Spinndlwall. Es ist das Reich Sikulls. Mehr darf ich dir nicht verraten, sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit meinem Gemahl“, fügte sie mit einem anklagenden Seitenblick auf Kaliman hinzu. Doch der war so glücklich auf Falladas Ohr, dass er die Bemerkung von Liesli einfach zu überhören schien. „Wer ist Silkul?“, bohrte Aruc weiter. „Nicht Silkul, Siiiikull“, berichtigte Liesli ihn schulmeisterisch. „Also gut wer ist Siiiikull?“, presste Aruc mühsam hervor und rannte murrend weiter, bis Fallada aprupt stehen blieb und sich zu ihm umdrehte: „Aruc es ist keine Zeit für Erklärungen. Eufe und die Glühmandln haben uns das Leben gerettet. Aber die Gefahr ist noch lange nicht gebannt.“ Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, preschte Fallada weiter und Aruc spürte wie ihm die Schamesröte ins Gesicht schoss. Mit gesenktem Blick lief er weiter und war dankbar, dass Eufe ihm die Hand reichte und ihm zuflüsterte. „Ich weiß auch nicht wer Sikull ist“.
8. Das Wiedersehen
Lovan stand vor dem Ältestenrat, der sich im Morgengrauen im Astrum versammelt hatte. „Ich habe euch zu dieser Stunde gerufen, um euch zu bitten meinem Plan zuzustimmen. Ich habe mich entschlossen die Jungfrau aus dem Turm zu befreien und nach Walden zu bringen.“ Lange herrschte Schweigen unter den Baumsängerinnen, die vor Lovan das Amt der Hathore inne hatten. Endlich ergriff Lovans direkte Vorgängerin Darlim das Wort: „Seit Menschengedenken leben wir in Frieden und im Einklang mit der Natur. Wir meiden den Kontakt zu Unterbergen und das aus gutem Grund. Warum willst du dich in Egoms Regierung einmischen Lovan?“ „Darlim du weißt das es keine Regierung ist. Er ist ein Tyrann, der alles um sich herum zerstört. Wenn die Jungfrau der schwarzen Sonne geopfert wird, dann wird er seine Herrschaft bis weit über Unterbergen hinaus ausdehnen. Wir haben lange vor seinen Grausamkeiten die Augen verschlossen. Noch ist es Zeit ihn aufzuhalten. Wir dürfen nicht mehr länger warten. Wir müssen handeln.“ Wieder herrschte Stille bis die mächtige Baumkrone Ygdars über ihnen zu rauschen begann und sie seine stämmigen Worte vernahmen: „Lovan hat recht. Egom muss Einhalt geboten werden. Es ist die richtige Entscheidung.“ Lovan verneigte sich ehrerbietig vor Ygdar und den ehemaligen Hathoren, die einen Kreis um sie gebildet hatten. Eine nach der Anderen küsste sie auf die Stirn und wünschte ihr Schutz und Segen. Lovan brach noch in der selben Stunde zu den Kelter Felsen auf, wo ihr ehemaliger Gemahl Jalam unter den Adlern lebte. Er hatte sie vor vielen Jahren verlassen, nachdem ihre neugeborene Tochter Laka auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Lovan war damals fast an ihrem Schmerz zerbrochen. Und wenn es ihr auch noch so schwer fiel ausgerechnet ihn, um Hilfe zu bitten. Wenn es irgendjemand gab dem es gelingen konnte die Jungfrau aus den Klauen Egoms zu befreien, dann war Jalam es. Niemand konnte sich mit ihm messen an Mut, Ausdauer und Stärke. Im Gedanken an Jalam vertieft sprang sie geübt zwischen den Ästen von Baumkrone zu Baumkrone. Je näher sie dem Kelter Felsen kam, desto heftiger schlug ihr Herz. Wie er wohl aussah nach all den Jahren? Was würde Jalam sagen? Würde er sie nach Inthorm begleiten? Es dauerte Stunden bis sie den Horst der Kelter Adler erreichte hatte. Endlich ragten die Kelter Felsen mächtig und erhaben vor ihr auf. Dichte Wolken umschwebten die zerklüfteten Bergspitzen, die selbst im Sommer schneebedeckt waren. Der Adlerhorst war auf mittlerer Höhe in die steilste der Felswände gebaut. Etwas abseits bemerkte Lovan eine Holzhütte, die an die Kosis in Walden erinnerte. Es gab keinen Zweifel. Jalam musste sie gebaut haben. Ebenso wie das Katapult, dass Lovan zwischen den Blättern entdeckte, als sie nach einem Weg suchte, um die Kelter Felswand zu besteigen. Ihre Hände wurden feucht. Es gab kein Zurück mehr. Lovan atmete tief durch und stellte sich auf den Wurfarm der Holzschleuder. Mit geübten Blick maß sie die in den Fels geschlagene Einbuchtung vor der Hütte. Sie durfte sie nicht verfehlen, sonst würde sie abstürzen. Lovan zog aufgeregt an einem Hanfstrang, der über ihr hing. Der schwere Hebelarm rasselte nieder und Lovan wurde mit einem hohen Salto aus der Baumkrone direkt vor die Hütte geschleudert. Obwohl sie aus der Übung war, gelang ihr eine perfekte Landung. Gekonnt fing sie den Schwung ab indem sie ihr linkes Bein nach hinten ausstreckte und mit dem rechten Standbein abfederte. Ihre Arme hielt sie horizontal von sich gestreckt. Jalam hatte ihr das beigebracht. Sie durfte als erste seine Erfindung benutzen, nachdem er wochenlang an seiner Konstruktion getüftelt hatte. In Walden hatte es sich allerdings nicht durchgesetzt, weil das dichte Blätterwerk der Mammutbäume die Sicht zu sehr einschränkte und es deshalb zu gefährlich es zu benützen. Hier am Adlerhorst jedoch war es die perfekte Lösung um einen gefährlichen und langwierigen Aufstieg über die Felswände zu umgehen. Mit erhitzten Wangen richtete sie sich lächelnd auf und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihren Blumengeschmückten Zöpfen gelöst hatte. Gerade als sie an die Tür der Hütte klopfen wollte, öffnete sie sich von innen. „Antar ich habe dir doch gesagt, dass du mir nicht die Äpfel vor die...“. Wie vom Blitz getroffen blieb ein Hüne von einem Mann auf der Schwelle der Hütte stehen. Er musste sich gerade gewaschen haben. Seine langen Haare hingen ihm nass in die Augen. Er hatte sich nicht die Zeit genommen ein Hemd anzuziehen und stand mit bloßem Oberkörper vor ihr. Er war sonnengebräunt und noch schöner als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Sein Körper war wie in Stein gemeisselt, muskelgestählt und sehnig. Er sah wild und verwegen aus. „Eehhh....., ich dachte es wäre einer der Adler, ein ...hm... Freund von mir. Ich habe nicht mit hmmm... Besuch gerechnet“,stotterte er als er sich halbwegs gefasst hatte. „Wo kommst du her? Ich meine..., wie eehhhhh warum bist du hier?“, verhaspelte er sich und lief dabei puterrot an. Lovan stand mit offenem Mund vor ihm. Ihr war heiß und kalt gleichzeitig. Sie hatte nicht geahnt welche Wirkung Jalam immer noch auf sie ausübte. Nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft gelang es ihr, ihre Stimme einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr Kehlkopf sich verengte und ihre Worte heiser klangen: „Ich bin hier, um dich zu bitten mich nach Inthorm zu begleiten, um die Jungfrau aus dem Turm zu befreien. Ich bin zur neuen Hathore von Walden erwählt worden. Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht den Pakt Egoms mit der schwarzen Sonne zu verhindern. Doch alleine kann ich es nicht schaffen. Ich brauche deine Hilfe Jalam.“ Als Lovan seinen Namen ausgesprochen hatte, glaubte sie eine Träne in Jalams rechten Augenwinkel zu sehen. Immer noch standen sie an der Türschwelle. Ihre Blicke trafen sich. Ohne eine weitere Frage zu stellen antwortete Jalam mit ruhiger Stimme: „Ich muss mir nur ein Hemd anziehen, dann können wir aufbrechen“.
9. Sikull und die hohen Faune
Nach einer Weile ging der Tunnel steil bergab und verwandelte sich in eine feuchte Rutschbahn. So sehr sich Eufe und Aruc bemühten nicht hinzufallen, mussten sie dennoch ihren Weg auf allen Vieren fortsetzen. Selbst Fallada hatte alle Mühe sich mit ihren Hufen gegen den Hang zu stemmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und abzurutschen. Liesli und Kaliman zogen es deshalb vor, ihren Ehrenplatz auf Falladas Kopf vorläufig zu räumen und stattdessen neben ihnen herzuschwirren und von Zeit zu Zeit „Vorsicht, so passt doch auf“, zu kreischen und damit die Totenstille zu durchbrechen, die auf ihnen lastete. Die Luft war abgestanden. Es stank nach Fledermausdreck, der ihnen Brechreiz verursachte.
„Vielleicht haben wir ja Glück und Sikull läßt sich nicht blicken“, versuchte Liesli die Gesellschaft aufzuheitern. Kaliman beschränkte sich auf einen tadelnden Seitenblick in ihre Richtung und zog es vor zu schweigen. „Na ja, viel Hoffnung gibt es allerdings nicht“, plapperte Liesli weiter. „Wer ist denn nun diese Silkulk?“, erkundigte sich Aruc ungeduldig bei den beiden Untersberger Glühmandln. „Siiiiikull“, konnte es Liesli sich nicht verbeissen ihn erneut zurecht zu weisen. „Kali, sag du es ihm, sonst heißt es wieder ich übertreibe“, forderte Liesli ihren Ehegatten auf und stieß dem kleinen Mann ihren Ellbogen unsanft in die Seite. „Also sowas, auuuuuuuuaaaaa. Lass mich gefälligst in Ruhe du Furie“. „Zankt euch doch nicht dauernd, dafür ist nun wirklich weder der geeignete Ort noch der passende Zeitpunkt“, schnaubte Fallada und peitschte mit ihrem erdverkrusteten Schweif nach den beiden, die sich eiligst in Sicherheit brachten und wieder in schönster Eintracht schimpften: „Zackdipack, lass mir meinen Kali in Ruhe“. „Untersteh dich meinem Lieschen zu nahe zu rücken“. Fallada trottete ungerührt weiter. „Nur die Ruhe. Ich hab schon aufgepasst euch nicht zu treffen“. Eufe hatte sich still verhalten, weil sie jede Art von Streit verabscheute. „Spannt uns nicht weiter auf die Folter, was ist nun mit Silkull?“, machte Aruc dem Zwist ein Ende und sprach den Namen absichtlich falsch aus. „Siiiiiiiikull“. Diesmal war es Kaliman, der übertrieben auf die richtige Aussprache des Namens pochte und verschwörerisch hinzu fügte, „ist ein Riesenskorpion. Sie ist die letzte Überlebende des Pterygotus-Clan, der vor über 500 Millionen Jahren über Unterbergen herrschte“. „Und warum flüsterst du plötzlich?“, wollte Aruc wissen. „Weil Sikull alles was sich bewegt mit ihren Giftscheren zerquetscht und auffrisst“, antwortete Liesli an Kalis statt. Eufe stellte insgeheim bewundernd fest, dass Liesli die seltene Kunst beherrschte flüsternd zu schreien. Fallada peitschte wieder nervös mit ihrem Schwanz hin und her, weshalb Liesli und Kaliman weiterhin auf Sicherheitsabstand blieben und grantig auf die weiße Stute hinunter schauten. „Und wieso seit ihr dann noch am Leben, wenn sie alles auffrisst was ihr in die Quere kommt?“, flüsterte jetzt auch Aruc. „Weil wir ihr noch nicht in die Quere gekommen sind“, zuckte Kaliman betont unbeteiligt mit den Schultern. „Das soll wohl ein Witz sein. Seit Stunden jagt ihr uns Angst ein wegen dieser verdammten Silkull...“ „Siiiikull“, verbesserte ihn Liesli. „Ja von mir aus, Siiiiiikull und ihr wisst nicht einmal ob sie wirklich existiert? Das soll wohl ein Witz sein!“, ereiferte sich Aruc. „Mein junger Herr, wir haben ein ausgesprochen umfangreiches Nachrichtennetz. Sonst hätten wir euch bestimmt nicht gefunden und aus den Klauen der Kormoraner gerettet“, bemühte sich Kaliman die Ruhe zu bewahren. Doch verriet sein hochroter Kopf wie empört er war. „Genau“, pflichtete Liesli ihm ausnahmsweise bei und verschränkte beleidigt die Hände vor der Brust. Eufe schaute nachdenklich von einem zum anderen. Sie alle waren nur ihretwegen hier. Warum sollten sie weiter ihr Leben unnötig riskieren? Sie konnten immer noch umdrehen. Egom war nur hinter ihr her. „Ich gehe alleine weiter“, bestimmte sie entschlossen, obwohl ihr nur der Gedanke daran den Magen umdrehte. „Wenn es Amos Wille ist, werde ich es schaffen.“ Plötzlich war jede Vorsicht vergessen. Aruc, Fallada, Kaliman und Liesli redeten aufgebracht durcheinander. Eufe verstand kein Wort. Es war egal, sie würde sich nicht von ihrem Entschluss abringen lassen. Auch wenn sie bebte vor Angst. Plötzlich riss sie ein lauter Schlag, der gespenstisch durch die Höhle hallte, aus ihren Gedanken. Aruc stand dicht vor ihr und hatte in die Hände geklatscht. Ausser seinen heftigen Atemzügen, war kein Laut zu hören. Er fuhr sich mit seinen lehmigen Fingern durch die wilden dreckstarrenden Locken und Eufe musste unwillkürlich denken, wie gereift er wirkte seit sie aus Inthorm geflohen waren. „Eufe, ich habe geschworen dich zu beschützen. Fallada und ich haben Mutter versprochen bei dir zu bleiben. Wir gehen gemeinsam, ganz egal was passiert. Wir bleiben zusammen.“ Mit einer Hand umfasste er Eufes klamme Finger, mit der anderen umgriff er Falladas Hals. Liesli und Kaliman hatten sich zu beiden Seiten auf Arucs Schultern niedergelassen und demonstrierten damit, dass sie ihm seinen Mangel an Respekt huldvoll vergeben hatten. Fallada senkte ihren Kopf und blies Eufe warme nach Gras und Stall duftende Luft ins Gesicht. Eufe konnte kein Wort über die Lippen bringen. Sie ließ ihren Blick von einem zum anderen wandern. Trotz der Dunkelheit, der Angst und Erschöpfung empfand sie das Gefühl inniger Zugehörigkeit. Sie sah Ullren im Geiste vor sich mit ihren schönen liebevollen Augen. Aruc schien Eufes Gedanken erraten zu haben: „Es gibt nichts zu fürchten. Wir sind stark und frei“, wiederholte er mit lauter und fester Stimme das Mantra seiner Mutter.
„Aruc“, flüsterte Eufe „bestimmt hat uns Ullren etwas mitgegeben, was uns gegen Sikull beschützen wird.“ „Du hast recht“, antwortete ihr Aruc und ließ im gleichen Moment seinen Rucksack von der rechten Schulter auf die Erde gleiten. Im hellen Schein einer Glühwürmchenschar, die Kali und Liesli stolz als ihre Cousins und Cousinnen vorstellten, begann er Stück für Stück auszupacken. Das Messer steckte bereits in seiner Gürteltasche, den Lederbeutel mit den getrockneten Kräutern legte er vor sich auf die Erde, die Adlerfeder drehte er mehrere Male dicht vor seinen Augen bis er sie vorsichtig zurück in den Rucksack gleiten ließ. Den kleinen Kieselstein beachtete er kaum, während das silbrige Band seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es sah aus wie ein Pflanzenstrang. „Warum bindest du es dir nicht um“, wollte Eufe wissen. „Aber warum, ich brauche keine Kette, sondern etwas, womit wir uns gegen Sikull verteidigen können.“ „Los Aruc, lass dich nicht lange bitten, wer weiß wofür es gut ist“, ließ sich Liesli ungefragt vernehmen und flatterte kokett auf Arucs Schulter. Woraufhin sich Kaliman eiligst in die Brust warf und eingeschnappt auf Eufes Kopf Platz nahm. „Also gut, wenn ihr meint. Von mir aus“. Umständlich nestelte er an dem Band. Plötzlich hörten sie ein pfeifendes Geräusch in unmittelbarer Nähe, gefolgt von einem lauten Knall. Der Ton erinnerte an eine dünne Lederpeitsche, die surrend durch die Luft schnitt. Liesli und Kaliman kreischten erschrocken auf und versteckten sich unter Falladas dichter Mähne. Eufe und Aruc fassten sich an den Händen. Fallada blähte ihre Nüstern und witterte. „Was war das? Woher kam dieses Knallen?“ Aruc hatte sich das Band in die Tasche gesteckt und schaute hilfesuchend zu Fallada. „Springt auf, sofort.“ Aruc half Eufe fieberhaft mit zitternden Händen beim Aufsteigen und sprang hinter ihr auf Falladas Rücken. Erneut krachte es hinter ihnen und Fallada galoppierte mit donnernden Hufen durch den, von den Glühwürmchen spärlich erleuchteten, Stollen. Peitschende Fangarme schlugen hinter und neben ihnen auf den Boden und ließ die trockene Erde aufplatzen. Fallada wieherte erschrocken als sich ein dünner Strang um eine ihrer Hufen wickelte. Sie stolperte und fast wäre Eufe dabei von ihrem Rücken gestürzt, hätte Aruc sie nicht festgehalten. Fallada hatte sich in Sekundenschnelle wieder unter Kontrolle und galoppierte verbissen weiter. Karli und Liesli waren immer noch unter ihrer Mähne in Sicherheit gegangen und wären für nichts in der Welt aus ihrem Versteck herausgekommen. Mit einem Mal machte der Erdgang eine scharfe Biegung und Fallada musste ihr Tempo verlangsamen, um nicht zu stürzen. Zu beiden Seiten tat sich ein schwindelerregender Abgrund vor ihnen auf. „Schaut nicht nach unten und bewegt euch nicht“, schnaubte die Stute und preschte weiter. „Schaut euch nicht um, egal was pa...“. Pfeifend surrte etwas durch die Luft. Eufe duckte sich instinktiv und sah wie vor ihr Funken sprühten, die kurz aufflammten, um gleich darauf zu verrauchen, so als wäre es nur ein Gespinst ihrer panischen Angst gewesen. Sie spürte Arucs festen Griff um ihren Bauch und seinen rasenden Herzschlag. Wenn Fallada auch nur einen Fehltritt machte, dann... „Amo hilf uns, hilf uns“. Ihr Hilferuf verklang lautlos in der Dunkelheit und Eufe war es als ob die Worte an ihrer statt in die Schlucht stürzten und an den zerklüfteten Felswänden zerschellten. Weiße Schaumflocken wehten aus Falladas Maul und blieben auf ihren schweißbedeckten Flanken kleben. Im nächsten Moment sah Eufe ein flammendes Blitzen, gefolgt von Falladas durchdringendem Schmerzensschrei. Die mächtige Stute sank mit beiden Vorderläufen auf die Knie und bemühte sich verzweifelt nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eufe krallte ihre Hände in ihre Mähne, Aruc hatte seinen Griff gelockert und versuchte sich mit einer Hand an Falladas Schwanz festzuhalten. Mit angehaltenem Atem erwarteten sie den nächsten Schlag. Fallada wieherte dumpf und kam mühsam auf die Beine. Wieder krachte es, diesmal jedoch war es das Splittern von zerberstendem Holz. Aruc musste wissen, wer oder was sie verfolgte und was hinter ihnen vor sich ging. Er konnte sich nicht mehr länger beherrschen und drehte sich um. Das Blut gefror ihm in den Adern. „Oh nein“, war alles was er herausbrachte. Eufe drehte sich um und folgte Arucs angstgeweiteten Augen. Was sich wie das Splittern von Holz angehört hatte, waren die aufbrechenden Panzer von zwei Ponygroßen Tausendfüßlern. Nie hatten sie etwas Grauenvolleres zu Gesicht bekommen. Die überdimensional langen Fühler der leblosen Insekten die sie als Peitschen benützen bei der Jagd ihrer Opfer, waren aus ihren augenlosen Köpfen gerissen worden und hingen quer über dem Abgrund. Sikull, so hoch wie eine ausgewachsene Buche, hatte mit ihren Hammerscheren ihre ellendicken Chitinpanzer zerschmettert. Gierig schlürfte der Monsterskorpion vor ihren schreckgeweiteten Augen die geleeartigen kürbisfarbigen Innereien, die aus den wurmartigen Rümpfen ihrer Beute quollen, in ihren Kopf. Sie war zu beschäftigt, um sich um die Freunde zu kümmern. „Los, dass ist unsere Chance. Solange sie frisst, wird sie uns nicht verfolgen“, trieb Aruc die Schimmelstute an, die am Ende ihrer Kräfte war. Mittlerweile war der Steinstieg so schmal geworden, dass Fallada nichts anderes übrig blieb als mit äußerster Vorsicht einen Huf vor den anderen zu setzen, um keinen Fehltritt zu machen und in den gähnenden Abgrund zu stürzen. Aruc und Eufe spürten wie die Stute bebte. Aruc hatte seinen Arm um Eufes Taille gelegt und klammerte sich krampfhaft an Falladas Mähne fest. Als er mit seinen Fingern Liesli versehentlich in den Arm zwickte ertönte ein mürrisches „AAAAuuuuuuaaaaa“ und ihr rampuniertes Kleeblatthütchen tauchte aus Falladas silberweißem Rosshaar auf. Von Kaliman fehlte weiterhin jede Spur. „Auuuuuaaaaa, du hast mich gezwickt,...auuuuaaaa...so eine Fre...“, als Liesli Sikull erblickte, blieben ihr die Worte im Halse stecken. Eilig wühlte sie sich wieder in Falladas Mähne und kurz darauf spitzte Kaliman daraus hervor. „ Sikull, Sikull, sie hat uns gefunden, Sikull...“ wiederholte er aufgeschreckt. „Wir sind verloren. Wir müssen fliehen, wir müssen uns retten...“. „Was meinst du was wir gerade machen?“, konnte es Aruc sich nicht verbeißen. Kaliman stutzte und klappte seinen Mund ohne weitere Erwiderungen zu. Fallada strömte der Schweiß aus allen Poren. Unaufhörlich balancierte sie weiter über den Steg, der jetzt steil bergab führte. Sikulls Schmatzen hinter ihnen war verstummt. Stattdessen hörten sie ein lautes Klatschen, gefolgt von einer Wasserfontäne, die aus dem Abgrund empor schoss und den schmalen Höhlenweg hinter ihnen überschwemmte. Wo noch vor kurzem Sikulls schwarzer Panzerlaib mit senkrecht nach oben gerecktem Klammerschwanz die gesamte Höhe des Erdschachts eingenommen hatte, waren lediglich Algen, Plankton und ein paar abgenagte Stücke der abgeschlachteten Tausendfüßler übrig geblieben, die nicht mit der Woge in die Tiefe gerissen worden waren. Der Weg führte weiter steil bergab. Fallada musste höllisch aufpassen, um nicht auszurutschen. Ein Schwarm von Fledermäusen rauschte dicht über ihren Köpfen hinweg. „Also so was, unverschämt, konnte es sich Liesli nicht verkneifen ihren Unwillen kund zu tun. „Pssst, so beherrsche dich doch...“, wies sie Kali prompt zurecht. „Du hast mir gar nichts zu verbieten, ich kann mich beschweren wann ich will und so lange ich will“, wollte Liesli diese Zurechtweisung nicht auf sich sitzen lassen. Ein platschendes Geräusch tief unter ihnen brachte die beiden Streithähne aprupt zum Schweigen. Fallada wieherte entschlossen. „Haltet euch fest. Wir müssen es bis zum Ende des Steinstiegs schaffen. Es kann nicht mehr weit sein.“ Die Höhle hallte wieder vom donnernden Galopp den Fallada vorlegte, obwohl sie kaum zwei Schritte vor Augen sehen konnte und noch immer die Schlucht zu beiden Seiten in die Tiefe stürzte. Glücklicherweise war der Weg inzwischen wieder eben geworden. Gurgelnde Geräusche drangen gespenstisch aus der finsteren Schlucht zu ihnen empor. Eufe schauerte es. Gänsehaut ließ die feinen goldblonden Härchen auf ihren Armen zu Berge stehen. Was sollen wir nur tun, wie kommen wir nur heil aus dieser Höhle? Vertraue und sei ruhig, hörte sie eine Stimme in ihrem Inneren. Eufe schloss die Augen und gab sich Falladas rythmischen Bewegungen hin. Sie spürte Arucs gepressten Atem in ihrem Nacken. Liesli und Kaliman gaben keinen Laut mehr von sich. Fallada gab ihr Letztes. Schaumfetzen wehten aus ihrem Maul und blieben auf Eufes Händen kleben, die sich an ihrer Mähne festklammerten. Eufe befürchtete das die Stute jeden Moment zusammenbrechen würde. Plötzlich rief Aruc hinter ihr: „Wir sind gerettet! Weiter Fallada, nur noch ein paar Meter. Dann haben wir es geschafft“. Eufe öffnete die Augen. Verblüfft bemerkte sie, dass sich der schmale Höhlengrat wie von Zauberhand verbreitert hatte. Der Abgrund lag hinter ihnen. Vor ihnen tat sich ein offenes Salzsteinportal auf, das in goldgelbes Licht getaucht war. Am Ende ihrer Kräfte preschte Fallada durch das Tor. Sie zitterte am ganzen Laib wie Espenlaub. Ihr Fell dampfte. Sie war durch und durch naßgeschwitzt. Aruc und Eufe sprangen von ihrem Rücken und umarmten die Schimmelstute stürmisch. „Danke Fallada, du hast uns gerettet. Du bist die Beste!“, riefen Eufe und Aruc im Chor. Lieslis Lockenköpfchen tauchte aus Falladas Mähne auf: „Sonst hätte uns Sikull jetzt in ihren Klauen“. „Oder einer der Riesentausendfüßler“, bekräftigte Kaliman seine Gattin und tauchte neben ihr aus dem Haarwust der erschöpften Stute auf. „Schon gut. Ich habe Ullren doch versprochen auf euch aufzupassen“, wehrte der mächtige Schimmel die Lobeshymnen bescheiden ab. „Außerdem hat der Spurt sich gelohnt. Seht nur“. Erst jetzt bemerkten die Freunde wohin sie geraten waren. Ihre unersättlichen Blicke verfingen sich in einem Dickicht aus wuchernden Fikusbüschen, Riesenfarnen, Elefantenstauden, Lianen und bizarren, wild rankenden Kletterpflanzen. Manche hatten spitz zu laufende hellgrüne Blätter mit roten Adern, oder waren von dunklem, fast schwarzem Grün und andere schimmerten bläulich und hatten schwarze Sprenkel. Sie sprießten bis weit über ihre Köpfe hinweg und formten ausladende Fächer, die sich zu einem wogenden Blätterdach verbanden. Würziger Duft von Rosmarin und Basilikum, vermischt mit dem schweren Aroma von Arrudakräutern betäubte ihnen die Sinne. Liesli und Kaliman kamen als erste zu sich: „Das muss Immergold sein, das Reich der hohen Faune“. Auch Aruc hatte sich inzwischen wieder gefasst und fragte neugierig: „Wer sind die hohen Faune?“ Eufe starrte noch immer andächtig in den Blätterhimmel über ihnen. Ihr Gesicht war in goldenes Licht getaucht, das ihr ein magisches Leuchten verlieh.“ Ihr habt noch nie etwas von den hohen Faunen gehört?“ Liesli war fassungslos. So sehr, dass sie freiwillig das Wort Kaliman überließ, der beflissen erklärte: „Die hohen Faune sind mächtige Magiere. Sie zeigen sich in mancherlei Formen. Als Geigenspieler, Sänger und Tänzer. Es heißt, wer ihnen nahe kommt, läßt sein altes Leben hinter sich und verwandelt sich.“ Fallada schnaubte und scharte mit den Hufen. Ein heftiger Schauer fuhr durch ihren großen stämmigen Laib, so erschöpft war sie noch immer von der anstrengenden Flucht und mehr noch von der Anspannung mit samt der Last ihrer Freunde in die Tiefe zu stürzen. Eufe streichelte ihr zärtlich über die Flanke. „Wie meinst du das verwandelt?“, wollte Aruc es genauer wissen.
„Es heißt, dass die Faune die Gabe haben jedes Lebewesen so zu sehen wie es wirklich ist. Durch ihre Berührung wird die Seele sichtbar.“ „Wie soll denn eine Seele aussehen?“, wollte Aruc wissen. „Ich weiß es auch nicht wie Luft irgendwie“, zuckte Kali seine dünnen Schultern. „Hihihihihihihihahahaha“, kicherte Liesli gönnerhaft. „Wie sieht Luft denn aus...hihihihihihihihhahahahahahah. Luft kann man doch gar nicht sehen Kali.“ Das Glühmännlein setzte sich beleidigt auf einen Rosmarinstrauch, der so groß war wie ein Baum. Er liebte den Duft von frischen Kräutern und drückte sein etwas breitgeratenes Stupsnäschen gierig in die satt grünen Nadeln. Ihr würziger Geruch nach Holz, Erde und Tannennadeln war so umwerfend, dass er rücklings abstürzte und Fallada mit einem Satz unter den Strauch sprang, um den schwindeligen Kaliman noch rechtzeitig auf ihrem breiten Rücken aufzufangen. „Uwwwwauuuu, dass zizieht sosooo richtiigg in deden Kokokopf“, stotterte Kali benommen und ließ sich genüßlich von der besorgten Liesli umschwirren, die sich aufgeschreckt um ihn kümmerte. Eufe hatte sich ein Stück weit von der kleinen Gruppe entfernt und strich geistesabwesend über die Blätter, die sich ihr aus allen Winkeln der Höhle entgegenstreckten und sich vor ihr zu verbeugen schienen. Wie sieht meine Seele aus?, ging es ihr durch den Kopf. Eufe war vollkommen erfüllt von diesem Gedanken. Unvermittelt begann sie Musik zu hören. Einzelne Töne verbanden sich zu einer betörenden Melodie, die eine schmerzende Sehnsucht in ihr erweckte. Vor ihren Augen flimmerten Farben, die nach und nach Bilder vor ihr auferstehen ließen. Sie sah weite Kornfelder, die in der roten Abenddämmerung im Wind wogten, verschneite, unberührte Wälder, sonnenüberflutete Wiesen voller Schlüsselblumen, das tiefe Blau eines Sommerhimmels, kristallklare Seen in denen sich Berge spiegelten und hohe Bäume, die ihre Blätter sacht im Wind wiegten. Lange stand sie unbeweglich da und schien ihre Freunde nicht zu hören, die nach ihr riefen. Als sie sich umdrehte, strahlte ihr Gesicht vor Glück. Lächelnd kam sie ihnen entgegen. „Ich weiß jetzt wie meine Seele aussieht.“ Fallada, Aruc, Liesli und Kaliman schauten sie verdutzt an. Eufes grüne Augen blitzten, ihre Haut hatte einen rosigen Schimmer angenommen. Ihr langes Haar umwallte ihr schönes Gesicht wie ein goldener Seidenschleier. „Eine Seele besteht aus Farben, Tönen und Bildern. Das ist es was die Faune sehen.“ „Ich verstehe es immer noch nicht. Wie soll eine Seele denn Farben, Bilder und Töne haben?, fragte Aruc sie ungläubig und legte ihr besorgt den Arm um die Schultern. „Kannst du denn auch sehen wie meine Seele aussieht? Eufe schaute ihn unverwandt an. Aruc war ihr forschender Blick unangenehm, so als ob sie in ihn hineinsehen könnte und dort alles wovor er selbst Scheu hatte es zu finden, vor ihr sichtbar werden würde. Eufe ergriff seine Hand: „Deine Seele ist blau, ein seltenes, tiefes Blau. Es ist genauso als würde ich auf den Grund eines Bergsees schauen, der über und über mit Gras und Schlingpflanzen bewachsen ist und vom Mondlicht glitzernd erhellt wird. Ich sehe weite Hügellandschaften voller wild wachsender Kornblumen. Von weit her höre ich Trommeln.“ Aruc stand fassungslos vor ihr. Wie konnte Eufe diese Bilder und Töne sehen? War sie doch als Gefangene im Turm groß geworden und hatte nicht viel mehr gesehen außer ihrer Kammer und Mutters Garten.
10. Die Festung Inthorm
Jalam saß vor Lovan auf Antars Rücken, seinem engsten Freund und König der Adler vom Kelter Felsen. Sie flogen über Walden den Bergen entgegen. Der Wind riss ihnen den Atem aus den halboffenen Lippen und zerrte an ihren Kaputzen. Jalam war es gewohnt mit Antar zu fliegen und amüsierte sich innerlich über Lovans kindliches Staunen. Obwohl sie anfangs nur zaghaft auf den Rücken des Adlers geklettert war, rief sie immer wieder wie ein kleines Mädchen: „Ich fliege, ich fliege...“ Obwohl Antar gleichgültig zu sein schien, kannte Jalam seinen Freund besser und wusste nur zu gut wie sehr ihn Lovans Begeisterung schmeichelte und zu neuen Höchstleistungen anspornte. Das war auch gut so, denn es würde nicht ganz einfach sein, die Jungfrau aus dem Turm zu befreien. Jalam ließ seine Blicke über die Landschaft unter ihnen schweifen. Walden hatten sie mittlerweile hinter sich gelassen. Vor ihnen breiteten sich weite Felder aus, auf denen Bauern arbeiteten und aus der Höhe aussahen wie eine Schar fleißiger Ameisen, die sich mühten das Heu rechtzeitig in die Scheunen einzubringen, um für den Winter vorzusorgen. Je näher sie Inhtorm kamen desto karger wurde die Landschaft. Kaum ein Baum hatte den radikalen Abholzungen Egoms standgehalten. Statt ihren breiten Stämmen und blattreichen Ästen, waren nur traurige Stümpfe übriggeblieben, die wie wulstige Narben aus dem Boden stakten. Lovan war still geworden. Jalam versuchte sie aus den Augenwinkeln zu beobachten. Ihre langen Haare hatte sie zu einem straffen Zopf an ihrem Hinterkopf geflochten. Über einer enganliegenden braunen Kautschukhose trug sie ein kurzes Überkleid aus brombeerroter Farnwolle. Ihr bodenlanger Umhang aus ungefärbter Kastanienseide wehte wie das gehisste Segel eines Flagschiffs hinter ihnen im Wind. Sie sieht aus wie eine stolze Kriegerin, stellte Jalam insgeheim bewundern fest. Er wusste was Ullren empfand. Die gefällten Bäume, die sich wie Mahnmale über ganz Steinern ausbreiteten, waren für einen Baumsänger wie der Anblick grausam enthaupteter Leichen ihrer eigenen Brüder und Schwestern. Er wollte ihre Hand ergreifen, ihr etwas Tröstendes sagen, ihr das Gefühl geben, dass er sie verstand, dass er bei ihr war. Doch er tat nichts von alledem. Statt dessen starrte er zwischen Antars ausgestrecktem Hals nur sturr geradeaus. Er wusste nicht was er Lovan sagen sollte. Wie konnte sie ihm je verzeihen. Er hatte sie verlassen, in ihrer tiefsten Stunde. Er war geflüchtet. Er hatte seinen eigenen Schmerz über ihr Leiden gestellt. Jahr für Jahr hatte er sich immer wieder vorgenommen sie zu besuchen, ihr zu erklären, dass er sich nach allem was passiert war nicht mehr gut genug fühlte ihr Mann zu sein, dass er sich die Schuld an dem Tod ihrer Tochter gab. Warum musste er an ihrer Krippe eingeschlafen sein? Warum hatte er den Aasgeier nicht bemerkt, bevor er ihnen die abgekauten Stücke ihrer drei Tage alten Tochter vor die Füße gespuckt hatte? Vergangene Wunden begannen aufzubrechen. Jalam wischte sich mit der Hand über die nassen Augen. Er war froh, dass er seine Tränen dem Fahrtwind zuschreiben konnte. Nach einer Weile stimmte Lovan ein Lied an. Es war eine Weise, die Jalam seit seiner Kindheit kannte und nicht mehr gehört hatte, seit er aus Walden weggegangen war.
Ich bin, ich war, ich werde sein immerdar. Ich kenne Dich, ich führe Dich, ich weiß um Deinen Weg. Wer könnte Dich beherrschen, wer könnte Dich verletzen. Ich bin bei Dir, Du bist Teil von mir. Ich bin, ich war, Ich werde sein immerdar.
Langsam ging die Sonne unter. Himmel und Erde verschmolzen am rotglühenden Horizont.
Inthorm ragte kerzengerade in den von dunklen Gewitterwolken verhangenen Sommerhimmel. Die groben Steinquader bildeten eine kantige, lückenlose Festung aus kalten, undurchdringlichen Granitwänden. „Jalam, wie kommen wir in die Burg? Egom hat sie hermetisch abriegeln lassen“. Lovan beugte sich vor und versuchte Jalams Gesichtsausdruck zu deuten. Mit starren Augen folgte er dem aufgeplusterten Adlerkopf, der nach einer Maueröffnung spähte. „Ich weiß es noch nicht, aber Antar wird einen Weg finden, verlass dich drauf“. Der Adler zog einen großen Kreis über den Turmzinnen und ließ sich aprupt senkrecht in die Tiefe fallen. Lovan krallte sich an Jalams Rücken. „Jalam, was ist... was macht Antar...“. Lovan erstarben die Worte auf den Lippen wie zappelnde Fische, die auf den Verkaufspritschen des Steinerner Marktes langsam verendeten. Auf den Zinnen von Inthorm zeichneten sich die Umrisse eines Vogels ab, der so groß war wie ein Drache. Seine messerscharfen Krallen waren wie spitze Fleischerhacken nach ihnen gekrümmt. Sein mörderisches Kreischen hallte in hundertfachem Echo von den Bergen wider. Noch bevor Jalam etwas erwidern konnte, streifte Antar im Sturzflug einen Mauervorsprung unterhalb der Zinnen, der im selben Augenblick rasselnd eine Öffnung freigab. Jalam brüllte: „Spring Lovan, jetzt, spring...“. Antar strauchelte und glitt knapp an den monumentalen Schwingen des Vogelgiganten vorbei. Lovan spürte Jalams kräftige Hände, die sich wie Eisengurte um ihre Taille legten. Er riss sie von Antars Rücken und hechtete mit ihr in die schmale Maueröffnung. Ohne sie los zu lassen, rollte er sich geschickt ab und verhinderte dabei, dass Lovan beim Aufprall mit dem Kopf gegen die Mauer schlug. Lovans Herz hämmerte bis in die Schläfen. Wie von weitem hörte sie Jalams Stimme, die ihr immer noch so vertraut war, als ob er sie nie verlassen hätte: „Alles gut, alles gut Lovan“. Gemeinsam kauerten sie sich in den schmalen Schacht, der Egom und seinen Wächtern zu Beobachtungszwecken im Fall einer Belagerung dienen sollte. „So Antar jetzt kannst du zeigen, wer der König vom Kelter Felsen ist“, murmelte Jalam zu sich selbst. An Lovan gerichtet, die ihn fragend anschaute: „Das ist ein Hansakan. Er ist Antars Todfeind. Sie kommen nicht nach Walden, weil sie Bäume verabscheuen“ Jalam hatte beide Hände zu Fäusten geballt und beobachtete angespannt den Kampf der beiden Vögel. Antar war dem ersten Angriffsmanöver von Hansakan souverän ausgewichen und beschrieb einen großen Kreis über Inthorm, um Zeit zu gewinnen. Sein Gegner, der den Adler um ein Vielfaches überragte, war mit drei Flügelschlägen in seiner Nähe und versuchte ihn mit seinen Krallen zu packen. Obwohl Antar blitzschnell abdrehte, hatte Hansakan ihn im Nacken erwischt. Ein Büschel Adlerfedern wirbelte durch die Luft und blieb vor Jalam und Lovan auf dem Turmvorsprung liegen. „Autsch“, grinste Jalam in Lovans Richtung und versuchte die Sorge um seinen Freund mit Galgenhumor zu überspielen. „Wir müssen Antar helfen Jalam. Wie können wir ihm nur helfen?“, Lovan war außer sich. „So wie ich Antar kenne, wäre es ihm äußerst unrecht, wenn ich ihm zu Hilfe eilen würde. Noch dazu in der Gegenwart der schönen Hathore von Walden“. Trotzdem tastete er fieberhaft nach lockeren Steinquadern, die er als Wurfgeschosse gegen Hansakan einsetzten konnte. Das laute Kreischen des Greifers hatte die Turmwächter alarmiert, die aufgeregt auf den Zinnen zusammenliefen und den Kampf verfolgten. Jalam zog Lovan tiefer in den Mauervorsprung, um nicht entdeckt zu werden. Nach mehreren gescheiterten Versuchen Antar zu packen, schrie das gefiederte Greifmonster so entsetzlich auf, dass ihnen der Atem stockte. Wutentbrannt voll blindem Hass stürtzte sich Hansakan erneut auf Antar, der dem Angriff wehrlos abzuwarten schien. Erst als Hansakan mit seinem spitzen Schnabel mit aller Wucht nach Antars Kopf hackte, um ihn zu spalten, drehte sich der Adler im letzten Moment auf die Seite und tauchte unter dem Greifvogel weg wie ein flinker Biber, der in einem seichten Bach schwimmend behende den Steinen auswich. Seiner Zielscheibe beraubt, rammte sich Hansakan den Hackenschnabel, so hart und schwer wie Blei, selbst in die Brust. Eine Blutfontäne sprudelte in den Himmel und der Greifer stürzte tot in die Tiefe. Antar schoss wie ein Pfeil hoch über die Zinnen von Inthorm hinaus und stieß einen siegreichen Schrei aus. „Na also Junge, ich hab mir schon Sorgen gemacht“, flüsterte Jalam erleichtert. Er formte mit beiden Händen eine Sprechmuschel und ahmte die guturalen Schreie der Adler nach. Kurz darauf entschwand Antar aus ihrem Gesichtkreis. „So jetzt ist es an uns zu zeigen was in uns steckt. Im Morgengrauen kommt Antar zurück, um uns zu holen. Wir haben eine Nacht im Turm, um die Jungfrau zu befreien. Egal was passiert Lovan, vertraue mir. Versprich mir das.“ Lovan blickte in Jalams entschlossene Augen und antwortete: „Ich vertraue dir Jalam“. Behende robbten sich die beiden Baumsänger durch den Aussichtsspalt. Als geübte Kletterer bereitete es ihnen keinerlei Schwierigkeiten sich lautlos an den Felsvorsprüngen der meterhohen Mauer herunterzuhangeln, die am Eingang des Wachturms mündete. Ein Soldat schritt mürrisch davor auf und ab, während die Zinnenwächter aufgeregt durcheinander schrien bis eine herrische Stimme dem Tumult ein Ende bereitete: „Wer ist dafür verantwortlich?“ Einer der Wachen antwortete: „Ein Adler war es“. „Wie konnte das passieren? Warum ist keiner von euch eingeschritten? Seit ihr noch bei Sinnen? Ihr wisst doch, dass Egom Hansakane fast genauso verehrt wie Drachen. Wenn Egom davon erfährt, läßt er den Verantwortlichen hinrichten. Los bergt gefälligst die Leiche ihr nichtsnutzigen Idioten“. Jalam drehte sich zu Lovan um und legte seinen Zeigefinger auf seinen Mund. Mittlerweile war es dunkel geworden und unzählige Sterne zeigten sich am Firmament. Im Innenhof von Inthorm lag der Kadaver des Hansakan. Aus dem aufgerissenen schwarzen Federleib des Raubvogels quollen Gedärme und halbverdaute Fleischreste von Ratten, Katzen, Hunden, sogar Kühen. Veltron starrte hasserfüllt aus seinen zusammengekniffenen Augen: „Ihr glaubt doch nicht, das ich wegen euch Nichtsnutzen meine Stellung bei Egom riskiere. Los bewegt euch. Los macht schon. Kein Adler würde unter normalen Umständen einen Hansakan besiegen. Jemand muss ihm geholfen haben. Findet den Schuldigen und bringt ihn zu mir. Es ist mir egal wie lange ihr sucht. Wenn ihr beim Morgengrauen immer noch nicht wisst wer es war, dann werfe ich das Los. Wehe dem Getroffenen. Ich werde ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen und mit Pech bestreichen, an denen ich Hansakans Federn befestige, um ihm Egom vorzuführen.“ Jalam gab Lovan ein Zeichen hinter ihm zurück zu bleiben. Geduckt pirschte er sich von hinten an den Wachsoldaten heran und drückte ihm beide Zeigefinger an die Schläfen bis er lautlos ohnmächtig zusammensackte. Lovan eilte an Jalams Seite. „Und wie finden wir heraus wo Egom die Jungfrau gefangen hält?“,schaute sie ihn besorgt von der Seite an. „Da verlasse ich mich ganz auf deinen weiblichen Instinkt“. Hinter dem Wachturm gelangten sie in einen Schacht der mehrere Biegungen machte und schließlich vor einer Falltür aus massivem Eichenholz mündete. Jalam stemmte sich mit aller Kraft gegen die Falltüre, die quietschend aufsprang. Lautlos betraten sie einen Saal, dessen Wände mit Wappenschildern und Waffen behangen waren auf denen Egoms Symbol des fliegenden Drachen eingraviert war. In der Mitte befand sich ein goldener Thron, dessen Rücken- und Armlehnen Edelsteine verzierten. „Das muss Egoms Empfangssaal sein“, flüsterte Lovan.
„Leise Lovan, ich höre Schritte. Schnell, bevor sie uns finden.“ Jalam zog Lovan mit sich in den Schatten neben dem offenen Kamin, hinter einen mannshohen Stapel aus aufgeschichteten Brennholzknüppeln. Zwei finster dreinblickende Wächter stürmten durch die Tür. „Ich hab die Schnauze voll von dieser Herumschikaniererei. Eigentlich war es Veltrons Wache und jetzt sollen wir für ihn büßen. Dieser Dreckskerl.“ Laut schimpfend näherten sich die Wachen dem Kamin. Jeden Moment mussten sie Lovan und Jalam hinter dem Holzstapel entdecken. Bevor Jalam sich aufrichten konnte, um zum Schlag auszuholen und ihnen zuvorzukommen blieb einer der beiden Wächter stehen und flüsterte seinem Kumpanen etwas ins Ohr. Lovan klopfte das Herz bis zum Hals. Sie spürte Jalams breite Brust in ihrem Rücken, die sich in gleichbleibendem Rythmus hob und senkte. Er war warm und stark. Unwillkürlich erinnerte sie sich an ihren ersten Kuss, als er sie im Mondlicht auf einen der höchsten Baumwipfel von Walden geführt hatte, sie von hinten umarmte und ihren Kopf langsam zu sich herumdrehte bis sich ihre Lippen berührten. Die heisere Stimme des zweiten Wächters riss sie aus ihren Gedanken: „Ja der Plan gefällt mir Jung, wir holen die Hexe aus dem Kerker, verstecken sie in der Burg und holen Verstärkung, die wir auf ihre Fährte ansetzen. Und dann brauchen wir sie nur noch gemeinsam mit den Anderen gefangen nehmen und ihr die Schuld an dem Tod des Hansakans geben. Egom wird sie sowieso töten, also kommt es nicht darauf an, ob es früher oder später passiert.“ Die beiden Wächter lachten hämisch und verließen das Turmgemach. Jalam und Lovan wechselten einen kurzen Blick und folgten den beiden Männern lautlos in sicherem Abstand. Sie hatten Glück, dass die Nacht bereits hereingebrochen war und die Gänge der Festung nur spärlich mit Pechfakeln beleuchtet waren. Lovan zog sich die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht. Jalam hatte sich Gesicht und Hände mit Ruß aus dem Kamin geschwärzt. Die Wächter eilten vor ihnen im Laufschritt durch die weiten Trakte der Burg. erschien es Lovan und Jalam hetzten hinter ihnen her durch die nicht enden wollenden Gänge der Festung. Endlich blieben die beiden Männer vor einer Eisentür stehen. Ein schwerbewaffneter Soldat schob davor Wache und ging auf und ab. Sie unterhielten sich kurz mit ihm und begannen aufgeregt zu gestikulieren. Plötzlich zog einer der Soldaten ein Messer und rammte es dem Kerkerwächter kaltblütig in den Bauch, der mit schmerzverzerrtem Gesicht vornüber fiel und tödlich getroffen liegen blieb. Hektisch rissen die Angreifer die schwere Schlüsselkette aus den leblosen Händen ihres Opfers. Unter wutenbrannten Fluchsalven suchten sie fieberhaft nach dem richtigen Schlüssel bis es ihnen schließlich gelang in das Verlies einzudringen. Blitzschnell setzte Jalam hinter ihnen her. Lovan blieb an der Tür stehen, um sicher zu gehen, dass ihnen niemand auflauerte. Während die beiden Wächter sich über die Gefangene beugten, hechtete Jalam in einer Flugrolle durch die Luft und kam hinter den überrumpelten Männern zum Stehen. Er nützte den Überraschungsmoment und drückte ihnen seine beiden Daumen wie Schraubstöcke in den Nacken. Damit legte er ihr zentrales Nervensysthem lahm, so dass sie sich weder bewegen noch sprechen konnten. Nachdem er die Soldaten aneinander gefesselt hatte, schloss er die Kette der Gefangenen auf, die schaudernd dem Vorgang zugeschaut hatte. „Keine Angst. Du bist gerettet. Wir sind gekommen, um dich zu befreien“, beschwichtigte Jalam sie. Behutsam hob er Ullren vom Boden auf und trug sie aus dem Verlies. Lovan verriegelte die Tür hinter ihnen. „Du hast nichts mehr zu befürchten“, versuchte Lovan der zitternden Ullren Vertrauen einzuflößen. „Wir lassen nicht zu, dass Egom dich der schwarzen Sonne opfert.“ Jetzt erst verstand Ullren, dass sie eigentlich Eufe suchten. „Ich bin nicht die Jungfrau. Ich bin Eufes Ziehmutter. Ich habe ihr mit zur Flucht verholfen. Ich habe sie gemeinsam mit meinem Sohn in die Höhlen geschickt, weil es der einzige Weg ist Egom zu entkommen. Bitte helft ihnen. Es darf ihnen nichts zustoßen.“ Jalam hatte Ullren auf dem Boden abgesetzt. Immer noch war sie so geschwächt von dem Gift, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Jalam hob sie erneut auf seine Arme: „Mach dir keine Sorgen, sobald wir dich in Sicherheit gebracht haben, suchen wir sie. Egom wird sie nicht bekommen“. Lovan nickte ihr aufmunternd zu. „Darf ich wissen, wen ich mit mir herumtrage?“ Jalam lächelte ihr verschmitzt zu. „Oh verzeiht Herr“. Ullren schoss die Schamesröte in die Wangen. „Mein Name ist Ullren.“ Jalam deutete eine Verbeugung mit seinem Kopf an und stellte sich galant vor: „Ich bitte euch mich nicht Herr, sondern Jalam zu rufen. Ich bin Jalam vom Kelter Felsen.“ Es versetzte Lovan einen Stich, dass Jalam seine Herkunft verleugnete. Er war Waldener und Baumsänger, genau wie sie und nichts würde das je ändern. „Und das ist Lovan, Hathore der Baumsänger aus Walden.“ Ullren schaute beide ehrfürchtig an. Endlich hatte sie den Beweis, den lebendigen Beweis, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als Unterbergen. Nur mit Mühe konnte sie ihre Tränen zurückhalten. Sie versuchte Worte zu finden, doch die Tränen rannen ihr unaufhaltsam über die Wangen. Sie brachte keinen Ton über die Lippen. „Schon gut Ullren. Alles gut. Komm wir müssen so schnell wie möglich auf die Zinnen gelangen, bevor uns Egoms Wachen finden. Kennst du den Weg aus der Burg?“ Lovan sah sie eindringlich an und für den Bruchteil einer Sekunde schien es beiden Frauen, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Ullren versuchte sich in der Dunkelheit zu orientieren. „Wir sind im Westteil der Festung. Nicht weit von hier befindet sich ein Geheimgang, der bis zu den Zinnen führt.“ „Sehr gut. Ich hoffe nur Egoms Männer sind noch dümmer als sie aussehen“, grinste Jalam und rannte, Ullren in seinen Armen, gefolgt von Lovan in die Richtung aus der sie gekommen waren. Ohne weitere Zwischenfälle gelangten sie zum Geheimgang und schafften es, dank der Schlüsselkette, die Jalam den betäubten Soldaten abgenommen hatte, mühelos den mit einem Wappenschild getarnten Zugang aufzusperren. Jalam kroch als erster in den schmalen Schacht, dicht hinter ihm gefolgt von Ullren und Lovan. Sie mussten sich bücken und ihren Weg in absoluter Dunkelheit ertasten. Keiner sagte ein Wort. Sie hofften inständig, so schnell wie möglich, an das Ende des Schachtes zu gelangen. Nach einer Weile verbreitete sich der Geheimgang und mündete vor einer Wendeltreppe, die sich steil nach oben schraubte. Ohne eine Pause zu machen stiegen sie Stufe für Stufe höher bis sie an eine Lucke gelangten. „Dieser Ausgang führt uns direkt zu den Zinnen, wo die Wachablösung der Soldaten stattfindet“, stieß Ullren atemlos hervor. Das Treppensteigen hatte sie all ihre Kraft gekostet. Jalam drehte sich zu den beiden Frauen um: „Antar erwartet uns erst im Morgengrauen. Ich werde vorgehen. Sobald die Luft rein ist, hole ich euch nach.“
Jalam stieß vorsichtig die Luke auf und fand sich unter den Burgzinnen wieder. Immer noch war es dunkel. Wind und Kälte schnitt ihm durch das feingewebte Leinenhemd, dass ihm Lovan als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Die gefallene Temperatur war ein sicheres Zeichen dafür, dass es nicht mehr lange dauern konnte bis der Morgen graute. Niemand schien das Verschwinden der drei Wächter bisher bemerkt zu haben. Trotzdem machte sich Jalam keine falschen Hoffnungen. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie sie finden würden und . Um keinen Preis durften Egoms Soldaten Lovan und Ullren in die Hände bekommen. Nur über seine Leiche. Etwa zehn Meter von ihm entfernt gingen zwei Soldaten mit langen Lanzen bewaffnet auf und ab. Außer den Sohlen ihrer Stiefel, die ein rythmisches „Ptaki Ptaka“ auf die Steinquader klopften, blieb es still. Die restlichen Soldaten suchten nach den Komplizen des Adlers, der Hansakan besiegt hatte. Jalam presste sich dicht an die Mauer und verschmolz mit ihr wie ein Feuersalamander, der, je nach Temperatur seiner Umgebung, die Farbe ändern konnte. Es gab nur einen Ausweg. Er musste die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich lenken und sie so lange auf Abstand halten bis Antar sie holen kam. Die Nacht war sternenklar. Ein dichtes Spalier aus Hecken zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er pirschte bis an die grüne Mauer heran, die, genau in der entgegengesetzten Richtung des Wachturms, unter den Zinnen stand. Ohne einen Laut von sich zu geben, schlüpfte er zwischen den Stauden hindurch und hätte fast ein lautes „Howoohoooow“ von sich gegeben, so beeindruckt war er von dem Anblick, der sich ihm bot. Ein geheimer Garten voller duftender Blumen, hohen Gräsern und blühender Büsche lag vor ihm im fahlen Sternenlicht. An allen Ecken glitzerten Glühwürmchen auf. Jalam fühlte sich fast an Walden erinnert. Eine ungewöhnlich hohe Eberesche ragte bis weit über die Zinnen hinaus. Das war die Rettung. Er würde Lovan und Ullren holen und mit ihnen auf den Wipfel klettern und dort Antars Rückkehr abwarten. Er konnte nicht länger das Risiko eingehen, dass die Wachen Lovan und Ullren entdecken würden. Ebenso lautlos wie er gekommen war, pirschte sich Jalam zurück zur Luke des Geheimgangs. Als er sie öffnete knarzte das morsche Holz in den schmiedeeisernen Verankerungen. Jalam schlug das Herz bis zum Hals. Er stand still wie eine Salzsäule und wartete. „Hey, wer da, wer ist da?“, hörte er einen der Soldaten rufen. „Zeige dich“, kam die Stimme langsam näher. Jalam musste handeln. Mit einem Ruck drehte er sich um, rannte auf den überraschten Wachposten zu und drückte ihm beide Daumen in die Schläfen. Bevor der Soldat wusste was ihm geschah lag sein Körper reglos zu Jalams Füßen. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. An die Mauer gedrückt rannte er zurück zum Geheimgang. Lovan hatte sich auf den Boden gesetzt und Ullrens Kopf in ihren Schoß gebetet. „Schnell wir müssen hier raus. Ich trage Ullren.“ „Ist Antar zurück?“. Lovan schaute ihn hoffnungsvoll an. „Nein noch nicht, aber hier ist es zu gefährlich für euch. Es gibt einen Turmgarten, wo wir uns verstecken können bis Antar zurück kommt.“ Kaum hatte er die Worte ausgesprochen als der Hall von harten, hastigen Schritten durch das Gewölbe donnerte. „Los, das sind die Wachen, wir müssen so schnell wie möglich raus hier.“ Ullren war aufgewacht und so benommen, dass sie kaum wahrnahm, was um sie herum geschah. „So meine Schöne. Ich trage dich jetzt in deinen Garten. Dort klettern wir auf die Eberesche.“ Lovan versetzten Jalams Worte einen Stich. Sie empfand das gleiche Unbehagen wie zuvor als er sich als Jalam vom Adlerfelsen von Kelt vorgestellt hatte. „Lovan, komm folge mir, es ist keine Zeit mehr.“ Mit der fast bewusstlosen Ullren im Arm rannte Jalam aus dem Geheimgang und wäre fast über einen Wachsoldat gestolpert, der sich über den leblosen Körper seines Kumpanen bückte. Die zu Tode erschrockene Ullren auf dem Arm, hatte Jalam keine andere Wahl als sich mit einem Tritt in den Hoden, seines Gegners zu entledigen, gefolgt von einem gezielten Schlag gegen seinen Hals in Höhe des Adamsapfels. Mit dem röhrenden Grunzen eines balzenden Frosches, sackte der Soldat in sich zusammen und begrub seinen Kumpanen unter seinem massigen Körper. Jalam lief weiter in Richtung Turmgarten. Lovan blieb ihm dicht auf den Fersen. „So hier gehts durch, hier durch die Hecken.“ Jalam zwängte sich mit Ullren durch einen schmalen Spalt zwischen den Büschen. Als Lovan hinter ihm den Turmgarten betrat, war sie ebenso beeindruckt wie Jalam von der verträumten Schönheit des Gartens, der in starkem Kontrast mit dem Rest der unwirtlichen Festung stand. „Das ist ja unglaublich Ullren. Was für ein wundervoller Garten.“ „Ich habe ihn ganz allein gepflanzt“ ,lächelte Ullren schwach. „Wir klettern auf die Eberesche und verstecken uns fürs erste in ihrem Wipfel, trieb Jalam sie zur Eile an. Lovan war als erste am Baum angelangt und kletterte mit geübten Bewegungen, so grazil und leichtfüßig wie ein Eichkätzchen auf die Zweige. Jalam setzte Ullren vor dem Stamm auf dem Boden ab und schwang sich auf einen der untersten Äste. Mit einer Hand am Stamm abgestützt, reichte er Ullren seine rechte Hand, Lovan streckte Ullren ihre linke Hand entgegen und gemeinsam zogen sie die geschwächte Ullren auf den Baum. Am Horizont zeichnete sich der erste Lichtstreifen ab. Antar konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Von der anderen Seite des Heckenspaliers brüllte eine herrische Stimme drohend: „Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Noch zwei von uns. Wir müssen es mit einer ganzen Horde zu tun haben. Los sucht in allen Ecken nach den Aufständlern, überall. Sie dürfen uns nicht entkommen.“ Lovan und Jalam, der Ullren auf seinem Rücken trug, kletterten so schnell sie konnten auf den höchsten Ast. Kaum hatten sie sich auf der Astgabel zusammen gekauert und so gut es ging unter dem dichten Blätterwerk versteckt als eine Gruppe von Egoms Soldaten in den Garten stürmte. Wütend und schreiend trampelten sie durch die Beete, verwüsteten das Gras und zerschlugen mutwillig mit ihren Lanzen und Schildern die Blumen und blühenden Büsche. Ullren presste sich die Hand vor den Mund um nicht laut aufzuschreien. Heiße Tränen rannen ihr über die eingefallenen Wangen. Lovan streichelte ihr wortlos über den bebenden Rücken, während Jalam versuchte die Umrisse Antars am Horizont auszumachen. Doch so sehr er sich bemühte den Adlerkönig zu entdecken, konnte er nichts erkennen, was auf Antar schliessen liess. Eine Gruppe von vier Soldaten war inzwischen unter der Eberesche stehen geblieben und bemühte sich in der Dämmerung zu erkennen, ob sich jemand in den Zweigen des Baumes versteckt hielt. Jalam, Lovan und Ullren hielten den Atem an. „Los du und du, ihr klettert auf den Baum, und seht nach“, befahl ihr Anführer, den Ullren sofort erkannte. Es war Veltron. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, was er mit ihr machen würde, wenn er sie in die Hände bekam. Von Minute zu Minute wurde es heller. Selbst das dichteste Blattwerk konnte sie bald nicht mehr vor den lauernden Augen der Soldaten verbergen. Schon war einer der Wachen unbeholfen und ächzend auf den Stamm geklettert als ein Vogelschrei über ihnen ertönte. „Antar, das ist Antar“, flüsterte Jalam erleichtert und entdeckte den Adler, der über ihnen kreiste und zur Landung ansetzte. Die Soldaten rannten aufgeregt durcheinander und versuchten ihn mit ihren Speeren zu treffen. Antar wich ihren Angriffen aus und ließ sich majestätisch auf den Zinnen nieder. Jalam ahmte einen guturalen Laut nach, den der Adler erwiderte. Weitere Soldaten waren zusammengelaufen und formierten sich unter Veltrons Kommando: „Eins, Zwei, Drei und Schuss“. Bevor ein Speerregen auf Antar niederging, hatte der Adler sich zum Baumwipfel aufgeschwungen und betont gelassen auf die Krone gesetzt. Jalam ging für einen Moment aus der Deckung und wäre fast von einer Lanze in den Arm getroffen worden. Lovan schrie entsetzt auf. „Lovan, Ullren hier zu mir, duckt euch und springt auf Antars Rücken, sobald ich das Zeichen dazu gebe.“ Die beiden Soldaten, die von Veltron auf den Baum gehetzt worden waren, versuchten mit ihren Lanzen nach ihnen zu stechen. Jalam kletterte auf einen niedrigeren Ast und gab Lovan und Ullren Deckung. „Springt“. Für einen kurzen Moment drehte er sich um und vergewisserte sich, dass Lovan und Ullren unverletzt auf Antars Rücken geklettert waren. Einer der Soldaten nützte Jalams Unaufmerksamkeit aus und hieb mit der Lanze nach ihm. Obwohl er Jalam um Haaresbreite verfehlte, entzweihte er mit dem Schlag den Ast auf dem Jalam stand. Der Baumsänger konnte sich im letzten Moment an einem Zweig über ihm festhalten. Dafür gelang es dem Soldaten ihn an einem Bein zu packen. Als Jalam sich mit einem Tritt aus dem Schraubstockgriff des Soldaten befreite, brach auch dieser Ast. Jalam stürzte ab und riss den Soldaten mit sich. Im letzten Moment blieb er an einer Astgabel hängen, auf der er bewusstlos liegen blieb. Jalam war mit dem Kopf gegen den Baumstamm geschlagen und hatte sich eine klaffende Platzwunde an der Schläfe und blutende Abschürfungen an beiden Armen zugezogen. Der Soldat hatte weniger Glück und blieb nach dem harten Aufprall leblos, mit merkwürdig verdrehten Beinen, vor dem Baum liegen. Lovan saß vor Ullren auf Antars Rücken und hatte die Szene entsetzt beobachtet. Als Jalam zum zweiten Mal abgestürzt war, hechtete sie ohne zu zögern von Antars Rücken, um Jalam zu Hilfe zu eilen. In der Zwischenzeit hatte Veltron den Befehl erteilt Jalam mit Gewalt vom Baum zu holen. Vier Soldaten erklommen nach einander den Stamm der Eberesche und versuchten sich in die Nähe des Baumsängers zu hangeln, der immer noch nicht zu sich gekommen war. Veltron hatte die Speersalven inzwischen eingestellt, um seine eigenen Soldaten nicht zu gefährden. Lovan nützte diesen Moment. Sie ließ sich mit einem riskanten Sprung mehrere Meter tief neben Jalam auf die Astgabel fallen und hoffte inständig, dass sie ihrer beiden Gewicht aushalten würde. Ohne auf die Soldaten zu achten, die mit ihren Lanzen und Speeren nach ihnen stachen, nahm Lovan Jalams blutenden Kopf behutsam in ihre Arme und wischte ihm das Blut von der Stirn. Er öffnete stöhnend die Augen und rieb sich seine linke Schulter. Lovan lächelte ihn erleichtert an. „Du bist abgestürzt und warst einen Moment lang ohnmächtig.“ Obwohl Lovan nach aussen hin ruhig wirkte, raste ihr Herz. Jalam richtete sich benommen auf. Beim Anblick der Soldaten, die versuchten in ihre Nähe zu gelangen, kam seine Erinnerung schlagartig zurück. Ohne sich um die Wunde auf seiner Stirn zu kümmern, nahm er Lovan bei der Hand und gemeinsam sprangen sie auf den nächst höher gelegenen Ast. Unter sich hörten sie die Soldaten fluchen. In zwei Sätzen gelangten sie auf den Baumwipfel, wo Antar und Ullren sie angespannt erwarteten. Kaum waren Jalam und Lovan auf Antars Rücken gesprungen als der Adlerkönig mit seinen mächtigen Schwingen ausholte und Inthorm hinter sich ließ. Als Abschiedsgruß schickte Veltron ihnen einen Pfeilhagel hinterher, der nur haarscharf an ihren Köpfen vorbei pfiff. Von starkem Rückenwind begünstigt, stieg Antar immer höher bis sie außer Reichweite der Pfeile und in Sicherheit waren.
11. Eufe and Arucs Bestimmung
Fallada trabte voraus mit gespitzten Ohren und geblähten Nüstern. Eufe hielt sich dicht hinter ihr, gefolgt von Aruc und den beiden Untersberger Glühmandln, die hinter ihnen her flogen.
Obwohl ihnen der Magen knurrte und sie sich kaum noch an ihre letzte Mahlzeit erinnern konnten, waren sie vollkommen im Bann des Faunenreichs Immergold. Nie hatten sie einen bezaubernderen Platz gesehen. Je tiefer sie in die Grotte eindrangen desto heller wurde sie. An den Kalksteinwänden blühten weiße Lilien und aus den Mauerritzen sprossen duftende zart violette Lavendelbüschel. Es war still und sie hörten nur das Echo ihrer eigenen Schritte. Nach einiger Zeit erklang von weither Gesang, der immer näher kam, je weiter sie voranschritten. Die Sängerin balancierte wie eine tanzende Ballarina von Ton zu Ton.
Eufe war stehen geblieben und lauschte.
Terum, terum, terum, digatupan digatusaluman, kaliragu, kaliragu, kaliragu, anumau, anumau, ipasu, elixadorilauah.
Ein Licht erstrahlte vor ihr.
Das Licht wurde heller und heller bis es in einer Fontäne aus flüssigem Silber kulminierte und die Gestalt einer biegsamen Feder annahm, die so groß war wie Fallada, wenn sie sich aufbäumte. Eufe wagte nicht sich zu rühren. Sie konnte nichts mehr außer dem Gleißen der Lichterscheinung um sich wahrnehmen, die immer weiter sang:
Katikatum iu, ia, isa, ele, katikatum api atima, sapau, aligu uuiuu ahhahhhhahhhhaaaahaaaaaa euuuuffffeeeeeeeeeeeeeeeeee euuuuuuufffffeeeeeeeeeeeeee
Ein Lufthauch fuhr über Eufes Stirn und Nase, über ihr Haar und ihre Augen, die sie geschlossen hatte. Es war ihr als ob sie sich in Licht aufgelöst hätte. Als sie die Augen öffnete, sah sie eine wunderschöne Frau vor sich, die einen geflochtenen Kranz aus weißen Seerosen auf ihrem Kopf trug. Ihr Haar fiel in weichen Wellen wie sämiger Honigwein über ihre Schultern. Ihr schlanker Körper war mit einem bodenlangen perlmuttschimmernden Kleid bedeckt. Sie verbeugte sich vor Eufe und sprach:
„Du bist gekommen, um zu verwandeln: Angst in Liebe, Gewalt in Güte, Widerwärtigkeit in Grazie, Hochmut in Einfachheit, Trostlosigkeit in Freude, Häßlichkeit in Schönheit, Trennung in Einheit.“
Langsam verblasste das Bild der Faunsängerin vor Eufes Augen: „Wo ist sie?“ Eufe dreht sich mehrmals um die eigene Achse. „Wo ist wer, von wem sprichst du?“, schüttelte Aruc den Kopf. „Also ehrlich, seit wir in diese Grotte geraten sind, bist du eigenartig. Dauernd tust du so, als wären wir überhaupt nicht hier. Du faselst von komischen Geschichten über Farben und Töne. Und jetzt suchst du auch noch jemanden, der gar nicht da war“. Eufe schaute verwirrt von einem zum anderen. Keiner ihrer Freunde schien die Faunsängerin weder gesehen noch gehört zu haben. „Aber habt ihr denn nicht die Faunsängerin bemerkt? Sie war hier vor mir, genau da wo jetzt Fallada steht. Sie hat gesungen und zu mir gesprochen...“
Aruc schaute sie noch immer verständnislos an. Liesli und Kaliman lächelten vielsagend. Fallada trat dicht vor sie und blies ihr ihren warmen Atem ins Gesicht, der nach Huflattich und Klee roch. „Blümchen nur dir ist die Faunsängerin erschienen, weil sie eine Botschaft für dich hatte. Verwahre die Nachricht gut in deinem Herzen. Irgendwann wirst du ihren Zusammenhang verstehen“. Fallada schnaubte: „So und jetzt gehen wir weiter bis wir etwas Essbares gefunden haben.“ „Die erste vernünftige Idee heute“, maulte Aruc und setzte sich an die Spitze der Truppe. Er wollte zu gerne wissen was genau Eufe in ihrer Vision erblickt hatte. Aber wenn sie sich ihm nicht von alleine anvertraute, dann würde er sie auf keinen Fall fragen. Aruc war so in seine Gedanken versunken, dass er um ein Haar gegen einen mannshohen Strauch gelaufen wäre, dessen Zweige sich fast bis zum Boden bogen, so schwer war er mit köstlich duftenden Brotfrüchten behangen. Liesli und Kali jubelten entzückt und ließen sich schnurstracks auf einem der Äste nieder, um mit ihren gierigen Mäulchen in das weiche Fruchtfleisch zu beißen, dass nicht nur aussah wie frisch gebackene Weizenfladen, sondern auch so schmeckte. „Mmmmmhh, köstlich, mmmmmmmmmhhhhhhhhhhh wuuuuunnnnnnndddddeeeeeerrrrrrbaaaaaaaaaarrrr“, Liesli und Kali konnten sich nicht genug über die Köstlichkeit der unerwarteten Speise auslassen. Aruc, Eufe und Fallada zögerten. Sie mussten unwillkürlich an ihre schlechte Erfahrung mit dem Höhlenrauschwasser denken. Währenddessen schmatzten die beiden Glühmandln fröhlich vor sich hin. „Also ich weiß nicht wie es euch geht, aber ich habe so grossen Hunger, dass ich das Risiko eingehe“, fasste Aruc sich ein Herz und biss in eine Brotfrucht. Von seinem zufriedenen Blick angespornt, folgten Eufe und Fallada seinem Beispiel. Bald kauten alle zufrieden an den Früchten, die so groß waren wie Blumenkohlköpfe. Sie waren so beschäftigt mit ihrem Mahl, dass sie nicht bemerkten, dass sie beobachtet wurden. Aus einiger Entfernung starrten ihnen aus der Dunkelheit des Blätterdickichts böse Augen entgegen. Nachdem sich die Freunde satt gegessen hatten und sich den süßen Nektar der Blätter in den Gaumen tropfen ließen, senkten sich ihre Lieder unter bleierner Müdigkeit. Fallada rollte sich unter den Brotfruchtstrauch. Aruc und Eufe betteten sich dicht an ihren warmen Bauch gepresst in das weiche Gras. Liesli und Kali zogen es vor auf Falladas Kopf Platz zu nehmen, um sich auszuruhen. Es dauerte nicht lange und alle fünf waren in einen tiefen und traumlosen Schlaf versunken.
Aruc erwachte als erster. Er blinzelte und rieb sich die Augen. Liesli und Kali hatten sich in Falladas Mähne gekuschelt, Eufe lehnte an ihrem auf und abwogenden Bauch. Ihr Gesicht war unter ihrem dichten welligem Haar verborgen und Aruc konnte nur erahnen, dass sie, ebenso wie die anderen, fest schlief. Es war still, unheimlich still. Aruc setzte sich auf und versuchte im Halbdunkel etwas zu erkennen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Um ihn herum konnte er nichts als Farne, Büsche und blühende Pflanzen ausmachen, die er nie zuvor gesehen hatte. Vielleicht bildete er es sich nur ein. Obwohl er es sich nicht zugeben wollte, fühlte er sich unbehaglich, als Einziger wach zu sein und Alle um ihn herum schlafend zu wissen. „Reiß dich zusammen und leg dich wieder hin“, versuchte er sich selbst gut zuzureden. Trotzdem konnte er keinen Schlaf mehr finden und wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Schließlich setzte er sich auf. Er spürte eine Beule in seiner rechten Hosentasche und brachte das Pflanzenband zu Tage. Er hatte es ganz vergessen im Eifer des Gefechts auf der Flucht vor Sil äh Sikull verbesserte er sich selbst im Stillen und musste unwillkürlich an Lieslis neunmalklugen Gesichtsausdruck denken, wenn sie ihn korrigierte. Das Band glitzterte silbrig im Dämmerlicht der Höhle. Aruc drehte es dicht vor seinen Augen, um etwas Ungewöhnliches daran zu entdecken, aber es schien keinerlei Besonderheiten aufzuweisen. Anstatt es in seiner Hosentasche herumzutragen, konnte er es sich ebenso gut umbinden. Kaum hatte er das Band um seinen Hals gelegt und im Nacken verschnürt, begann es auf seiner Haut zu vibrieren als ob kräftige Finger ihn massieren würden. Intuitiv drehte er sich um. Aus dem Zwielicht starrten ihn gelbe giftige Augen an. Ohne mit der Wimper zu zucken sprang Aruc mit einem Satz auf die Beine und stellte sich schützend vor seine Freunde. Er wusste genau was zu tun war. Seine unterschwelige Angst hatte einer fast unheimlichen Ruhe platz gemacht, die er bis dahin nicht an sich kannte. Er hatte gerade noch Zeit das Steinmesser aus seinem Gürtel zu reissen, bevor sich ein massiger Laib aus der Finsternis auf ihn stürzte. Aruc rollte sich geschickt unter dem schuppigen Bauch der Riesenechse auf die Seite. Der peitschende Schwanz der Echse schlug neben ihm auf den Boden und spritzte ihm Erde und Wurzeln ins Gesicht. Aruc strauchelte und fiel auf die Knie. Seine Augen brannten, dass er kaum etwas sehen konnte. Die Echse senkte ihren Kopf bis sie auf Augenhöhe mit Aruc war. Er hatte nur diese eine Chance. Ohne eine Sekunde zu zögern, bohrte er sein Messer tief in die Pupille der Riesenechse. Mit einem entsetzlichen Schrei sakte das Ungetüm in sich zusammen. Aruc stand unbewegt vor dem zuckenden Laib des tonnenschweren Tieres, dass sich vor ihm wälzte. Mit gebieterischer Stimme rief er: „Ich verschone dich, aber wage nie wieder in unsere Nähe zu kommen, sonst nehme ich dir auch das Licht deines zweiten Auges. Jetzt mach dich fort.“ Kaum hatte Aruc zu Ende gesprochen, wuchtete sich das Reptil mühsam auf seine faltigen Beine, die so dick wie Baumstämme waren, und kroch zurück in die Dunkelheit. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Aruc wahre Macht. Er wusste das nicht die Stichwunde seinen Gegner besiegt hatte, sondern die entschlossene Stärke mit der er sich der Echse gestellt hatte. Um seinen Hals spürte er das Silberband, das sich weich an seine Haut schmiegte. Regungslos starrte er in die Dunkelheit. „Aruc, Aruc“, hörte er Eufe atemlos hinter sich rufen. „Aruc“. Wie aus einem Traum erwachend, drehte er sich langsam um. Fallada, Eufe, Liesli und Kali standen mit offenen Mündern unter dem Brotbaum. Eufe hatte sich als erste gefasst. Sie rannte auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. „Du hast eine Riesenechse besiegt. Du warst ganz allein, nur mit deinem Messer und du hast sieg in die Flucht geschlagen. Du bist ein Held“, jubelte Eufe, dass sie kaum zu Atem kam. Fallada blieb vor Aruc stehen und verbeugte sich vor ihm. „Du gehörst zu den nobelsten und stärksten Kriegern. Zu denen, die sich selbst besiegen und deshalb keinen Feind mehr besitzen.“ Liesli schwirrte aufgeregt um Aruc herum und küßte ihn mit einem saftigen Schmatz auf die Wange. Selbst der sonst eifersüchtige Kaliman war so begeistert von seiner Tat, dass er sich mit keiner Silbe beschwerte, sondern nur immer wieder raunte wie ein indischer Brahmane seine Gebete: „Zackdipackzackdipackzackdipack...“.
Aruc kaute auf seiner Oberlippe und grinste verlegen als er die staunende Bewunderung in den Gesichtern seiner Freunde las. Was sein Vater wohl sagen würde, wenn er ihn sehen könnte? Ohne es sich eingestehen zu wollen, war es immer Arucs größter Wunsch gewesen mutig zu sein und große Taten zu vollbringen, um ihn stolz zu machen. Wie gerne würde er seiner Mutter über seine Abenteuer in den Höhlen erzählen und ihre zärtliche Hand auf seinem Kopf spüren, wenn sie ihm liebkosend übers Haar strich. Fallada scharte mit den Vorderhufen. „Lasst uns aufbrechen. Wir wissen nicht was sich sonst noch alles in diesem Höhlendschungel verbirgt“, mahnte sie ihre Freunde zum Aufbruch. Aruc schulterte seinen Rucksack als Erster. Zuvorkommend hob er Eufes Bündel vom Boden auf und setzte Liesli und Kali auf Falladas Rücken. Nichts an ihm erinnerte mehr an den unsicheren,zuweilen rechthaberischen Jungen aus Inthorm. Aus seinen Augen strahlte großzügige Gelassenheit. Eigenschaften, die nur denjenigen zu eigen sind, die sich ihres wahren Selbstwertes bewusst sind. Brüderlich fasste er Eufe an der Hand und die Freunde machten sich erneut auf den Weg. „So tief sind wir noch nie in die Höhlen eingedrungen“, flüsterte Liesli beklommen und schaute Kali besorgt an. „Stimmt meine Liebe“, gab er ihr außnahmsweise recht. „Ich hoffe unsere Freunde wissen was sie tun.“ „Nur gut, dass sie uns bei sich haben, um sie zu führen“, raunte Liesli zurück. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung mehr wo wir sind“, gestand Kali seiner Frau zögernd. „Aber Liebster, du hast doch gesagt, dass...“. Ja ich weiß, aber ich kann mich nicht mehr erinnern.“ „Wir müssen es ihnen sagen. Vielleicht ist es besser umzukehren?“ Liesli hatte in der Aufregung vergessen zu flüstern. Fallada spitzte ihre Ohren und fragte: „Umkehren, warum umkehren?“ Liesli hüstelte nervös und nickte Kali aufmunternd zu. “Wir, wir wiwissen dden Wweg niccht mehr“, brachte er schließlich mühsam heraus. „Wie meinst du das? Ihr habt doch gesagt wir sind auf dem kürzesten Weg durch die Höhlen. „Wir sind noch nie so tief in die Höhlen eingedrungen“ versuchte Liesli Kali in Schutz zu nehmen, der schuldbewusst eine graue Stelle auf Falladas weißem Fell fixierte. „Wie lange ist es her, dass ihr den Weg verloren habt?“, schnaubte Fallada empört .
„Fallada, wer sagt denn, dass wir den Weg verloren haben?“, versuchte Aruc zu vermitteln. „Vielleicht sind wir ja richtig?“ „Und wenn nicht, dann haben wir Pech?“ „Nein so mein ich es nicht“, blieb Aruc ruhig und schaute ernst von einem zum anderen. „Unser Weg ist nicht vom Zufall bestimmt. Wir sind geleitet. Amo ist bei uns.“ Eufe spürte den kräftigen Druck seiner warmen Hand. Sie spürte, dass er recht hatte. Wenn sie vertrauten, konnte ihnen nichts passieren. Fallada schnaubte und schüttelte ihr schmutzverkrustetes Fell so heftig, dass Erde, Staub und alles was sich auf der Wanderschaft in ihrer langen, dichten Mähne verfangen hatte durch die Luft wirbelte. Aruc streichelte bedächtig über Falladas Rückenfell, drückte aufmunternd Eufes Hand und grinste gutmütig als sich Liesli und Kali auf seine linke und rechte Schulter niederließen und ihn erwartungsvoll anblickten: „Wo sollen wir hingehen Aruc?“ Aruc schloss die Augen und stand eine Weile still vor ihnen. Keiner wagte seine Konzentration zu unterbrechen. Schließlich öffnete er die Augen und begann entschlossen in seinem Rucksack zu kramen. Er legte die Reste des Reiseproviants auf die Seite. Das Steinmesser hatte er sich nach dem Kampf mit der Riesenechse wieder in den Gürtel gesteckt. Das silberne Band schmückte seinen Hals. Vorsichtig legte er die Adlerfeder, den Lederbeutel mit den Kräutern und den grauen Kieselstein vor sich auf die Erde. Noch immer traute sich keiner von seinen Freunden mit ihm zu sprechen. Nicht einmal die vorlaute Liesli fand es angebracht sich einzumischen. Aruc wog die Adlerfeder in seiner linken Hand und drehte den Kieselstein zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Kurz darauf hüllte er beide Gaben seiner Mutter wieder in den dafür vorgesehenen Wildlederlappen und begann seine Aufmerksamkeit vollkommen dem ledernen Beutel mit den Kräutern zu widmen. Aruc schien es als stünde seine Mutter neben ihm, als er die einzelnen Kräuter in die Schale seiner bloßen Hand ergoss. Er spürte ein kribbelndes Gefühl, so als ob sich das Blut in seinen Venen gestaut hatte und wieder zu fließen begann. Er sah seine Finger in einem gleißenden Licht. Es war nicht mehr seine jugendliche Hand, sondern die faltige Hand eines Alten. Seit er denken konnte, hatte er seine Mutter beobachtet, wenn sie in ihrem Kräutergarten arbeitete und mit ihren Pflanzen sprach. Aruc sog die verschiedenen Düfte der einzelnen Kräuter in sich hinein: das herbe Aroma des Basilikums, die hölzerne Würze des Rosmarins, die würzige Frische des Pfefferminz, das betörende Parfüm des Lavendel, die zitronige Milde des Melissenkraut, die ethärische Stärke des Salbei, den erdigen Thymian, und den heuduftenden Oregano. Er atmete die reinigende Essenz des Weinkraut ein und streichelte über die getrockneten Ringelblumenblüten. Der Geschmack des Dillkrauts erinnerte ihn an gebratene Süßkartoffeln und die fast geruchlosen, aber umso deftiger schmeckenden Lorbeerblätter an den Linseneintopf seiner Mutter. Ullren hatte die Kräuter in ihrem Garten behandelt wie Lebewesen. Sie kannte ihre besonderen Eigenheiten, Vorlieben und Abneigungen. Aruc schüttete die Kräuter zurück in den Beutel und stellte im Geiste die Frage: „Wie kommen wir auf schnellstem Weg durch die Höhlen“? Er lies seine Hand in das weiche Leder gleiten und ergriff den ersten Zweig, der ihm zwischen die Finger geriet: Neugierig zog er seine Beute aus dem Beutel. Er hatte einen Basilikumzweig gewählt. Nachdenklich drehte er ihn hin und her. Wieso war es überhaupt möglich gewesen Basilikum zu trocknen? Normalerweise verdarben die Blätter kurz nachdem sie von ihrem Busch geschnitten wurden. Aruc dachte an den Turmgarten seiner Mutter und sah deutlich die blühenden buschigen Basilikumstauden vor sich, die Ullren im südwestlichen Teil des Gartens gepflanzt hatte. Irgendeine Eigenschaft des Basilikums muss uns einen Hinweis geben. Überlege Aruc, was hat dir Mutter über ihn erklärt? Aruc erinnerte sich, dass er seine Mutter oft im Garten angetroffen hatte, wenn sie einzelne Zweige ihrer Basilikumstauden vorsichtig abpflückte und in ihrem Tonkessel verbrannte. Der aromatische Rauch schwebte eine Zeit lang über ihnen bis er sich weit über den Zinnen im Nichts verflüchtigte. Es sei reinigend, Glück bringend und halte schlechte Energien fern hatte seine Mutter ihm erklärt. „Ich weiß was wir zu tun haben,“ wendete er sich an seine Freunde, die jede seiner Bewegungen gespannt beobachtet hatten. „Der Rauch des Basilikums wird uns den Weg weisen. Wir müssen ihn nur anzünden und um Führung bitten.“ Eufe schaute ihn mit großen Augen fragend an. „Glaubst du das funktioniert?“ Wir haben nichts zu verlieren, oder hast du eine bessere Idee?“ Eufe biss sich auf die Lippen und Aruc bereute seine harsche Bemerkung. „Entschuldige Eufe. Ich glaube es klappt. Ich habe Mutter oft beobachtet wie sie mit den Pflanzen im Turmgarten umgegangen ist und mit ihnen gesprochen hat. Jetzt müssen wir nur noch rausfinden, wie wir hier Feuer machen?“ Noch bevor Eufe auf Liesli zeigen konnte, flatterte Kalimann hektisch mit hochrotem Kopf vor Arucs Nase hin und her und eiferte: „Ich, ich kann das“. Liesli rümpfte säuerlich ihr kurzes Stupsnäschen und stemmte die kleinen Hände energisch in die runden Hüften: „Dann schwirr nicht so aufgeschreckt durch die Gegend und mach dich nützlich “, maulte sie ihren Gatten eingeschnappt an, weil er ihr zuvorgekommen war und diesmal nicht ihr, sondern ihm die Ehre gebührte Feuer zu machen. Ganz gegen seine Gewohnheit ließ Kali sich nicht zu einer patzigen Bemerkung hinreißen, sondern schnippte wortlos dreimal mit Daumen, Mittelfinger und Zeigefinger seiner rechten Hand. Im selben Moment ergoss sich ein sprühender Funkenregen über sie: „Das ist ja unglaublich Kali. Warum hast Du nicht eher gesagt, dass du Feuer machen kannst?“, strahlte ihn Aruc begeistert an. „Es hat ja niemand danach gefragt“, übernahm Liesli die Antwort für ihren Gatten, der bis über beide Ohren grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Und außerdem kann ich es auch, sonst wärt ihr schon längst von den Kormoranern aufgefressen worden, wenn ich nicht die schwarze Kerze angezündet hätte.“ „Das stimmt, Liesli hat die schwarze Kerze angezündet“, beeilte Eufe sich das kleine Glühweiblein zu loben und zwinkerte dabei Aruc verstohlen zu. Er verstand sofort. „Ich bin von euch beiden tief beeindruckt. Was würden wir nur ohne euch machen“. Er hauchte einen zarten Kuss auf Lieslis kleines Patschhändchen und verbeugte sich huldvoll vor Kaliman, der puterrot angelaufen war wie eine Tomate und seine kleine Liesli stolz umarmte. „Na dann wären wir ja mal wieder ein Herz und eine Seele“, konnte es sich Fallada nicht verkneifen und schnaubte ungeduldig. „Wir haben keine Zeit zu verlieren, lasst uns das Kräuterorakel befragen“. Aruc bückte sich unter die tiefhängenden Blätter des Brotbaumes und sammelte eine Handvoll Steine, die er kreisförmig vor ihnen aufschichtete. Behutsam legte er den Basilikumstengel in die Mitte und Kali schnippte dreimal mit den kurzen Fingern. Sprühende Funken rieselten auf die getrockneten Kräuter nieder, die sich sofort entzündeten. Aruc beeilte sich den Zweig auf den Steinen zu löschen. Eine feine violett schimmernde Rauchsäule stieg vor ihnen auf, die einen kurzen Moment in der Luft verweilte und schließlich in schlängelnden, kreisförmigen Schwaden, in der Richtung aus der sie gekommen waren, durch die Grotte tänzelte. Kurz vor dem Salzsteinportal verflüchtigte sich der Rauch. Selbst Aruc hatte es den Atem verschlagen, obwohl er fest damit gerechnet hatte, dass das Kräuterorakel funktionieren würde. Eufe streckte ihre Arme über dem Kopf in die Luft und winkte den letzten Rauchschwaden dankend zu. „Lebewohl Basilikumgeist“. Mit neuem Mut, gestärkt von den Brotbaumfrüchten und den Stunden in denen sie tief geschlafen hatten, machten sich Aruc, Eufe und Fallada im Gänsemarsch auf den Rückweg durch die Grotte, gefolgt von Kali und Liesli, die über ihren Köpfen flatterten. Obwohl sie auf dem gleichen Weg nach Immergold gekommen waren, schien ihnen jetzt alles fremd. Keinem waren vorher die verschlungenen Spiralen aufgefallen, die zu beiden Seiten an die Höhlenwände gemalt waren. Hatten sie sich geirrt und waren doch nicht auf dem gleichen Weg? Nachdem sie wortlos einige Zeit, jeder in seine Gedanken versunken, gewandert waren, sprach Aruc aus, was alle dachten: „Wir sind auf einem neuen Weg. Ich weiß nicht wie und warum, aber es ist nicht mehr der gleiche Weg auf dem wir gekommen sind.“ Eufe blieb vor einer der Höhlenzeichnungen stehen. Auf unheimliche Weise ähnelte eine der Wandzeichnungen den ineinander verschlungenen Spiralen, die auf die Innenseite des Blattanhängers ihrer Fußkette graviert waren. Aruc hatte Eufes Gedanken erraten. „Das hier sieht deinem Anhänger verdammt ähnlich.“ Kali und Liesli umschwirrten neugierig Eufes Fußgelenk, um ihre Kette genauer in Augenschein zu nehmen. „Potzdiwitziwum die Zeichnung ist genau wie auf deinem Anhänger. Zwei Spiralen, die ein Herz formen. Was hat das zu bedeuten?“, wunderte Kali sich. Eufe war in die Knie gegangen und spielte gedankenverloren mit ihrem Blattamulett, indem sie es von einem Finger zum anderen gleiten ließ. Es musste doch eine Erklärung geben, warum sie ausgerechnet dieses Symbol an einer Kette an ihrem Fuß trug. Liesli und Kali setzten sich auf ihre Schultern, als ob sie ihr damit beim Nachdenken behilflich sein wollten. Eufe konzentrierte sich auf den Mittelpunkt der stierblutroten Zeichnung an der Höhlenwand. Nichts geschah. Sie umfasste mit der rechten Hand das Amulett und bemühte sich weiter die Spirale zu fixieren, ohne zu blinzeln. Plötzlich begann sich die Spirale vor ihren Augen zu drehen. Schneller und schneller bis Eufe nur noch ein kreisförmiges rotes Flimmern wahrnahm und eine Stimme zu ihr sprach: „Die Antwort aller Fragen ist in dir. Du bist Teil des Mittelpunkts aller Dinge.“ Während Eufe versuchte den Inhalt der Botschaft zu deuten, hörte die Spirale auf sich zu drehen. Eufe rieb sich benommen die Augen. Hatte sich die Spirale wirklich bewegt? Fragend drehte sie sich zu ihren Freunden um: „Habt ihr das gesehen, die Spirale hat sich gedreht wie ein Lichtkreisel?“ „Wie meinst du das?“ Aruc schaute sie fragend an und Eufe erkannte, das wieder einmal außer ihr Niemand etwas Ungewöhnliches gesehen hatte. „Die Spirale hat sich vor meinen Augen gedreht und geleuchtet. Und eine Stimme hat zu mir gesprochen“. „Ja und? Was hat sie gesagt?“, Aruc schaute sie erwartungsvoll an. „Ich brauche etwas Zeit Aruc, ich muss nachdenken“. Ohne die ungeduldigen Mienen ihrer Weggefährten zu beachten, setzte sich Eufe auf den Boden unterhalb der Felsspirale und begann mit geschlossenen Augen die Worte im Geiste zu wiederholen: „Teil der Mitte“, wiederholte sie im Stillen. Von Ullren hatte sie gelernt, dass Amo die Mitte des Universums war. Wenn Amo die Mitte war, bedeutete das, dass sie selbst Teil Amos war. Und das bedeutete, dass sie Zugang zu Amos Weisheit hatte. Sie brauchte also nur in sich selbst hineinhorchen. Unwillkürlich faltete Eufe die Hände vor der Brust und begann aus tiefstem Herzen zu beten. „Zeig mir den Weg.“ Kaum hatte Eufe in ihrem Inneren die Worte ausgesprochen, hörte sie erneut die Stimme: „Der Weg in die Freiheit führt durch die Mitte der Spirale.“ Eufe blieb ruhig sitzen, ohne sich zu rühren. Nicht einmal ihre Lider zuckten. Langsam öffnete sie die Augen. Lächelnd schaute sie in die neugierigen Gesichter ihrer Freunde. „Wir müssen durch die Mitte der Spirale gehen“. „Wie meinst du das, durch die Mitte der Spirale? Wie sollen wir denn durch die Mitte der Spirale gehen?“, schüttelte Aruc ungläubig den Kopf. Liesli und Kali kicherten, wie immer, wenn sie von etwas hörten, dass sie nicht kannten. Fallada peitschte mit ihrem Schwanz, was für gewöhnlich ein Zeichen dafür war, dass sie ratlos oder ungeduldig war. Eufe gab keine Antwort. Sie stand nur auf und blieb vor der Spirale stehen. Mit allen Sinnen konzentrierte sie sich auf die Mitte der Spirale. Wieder begann sie sich vor ihren Augen zu drehen und zu flimmern. Schneller und schneller bis in ihrem Zentrum ein aquamarinblaues Licht zu blinken begann. Aruc pfiff leise durch die Zähne. Kali versuchte ihn nachzuahmen und spuckte dabei versehentlich auf Lieslis Wange. Hypnotisiert von dem Licht, nahm das Untersberger Glühweiblein auf wundersame Weise keine Notiz davon. Unverwandt starrte Liesli in den leuchtenden Mittelpunkt der Spirale. Plötzlich breitete sie ihre kleinen glitzernden Flügel aus und flatterte ohne Rücksicht auf die Mauer und die erschreckten Schreie Kalimans direkt in die Spirale. Mit einem donnernden Schlag, der durch den Höhlengang hallte, gab die Wand vor ihnen eine Öffnung frei.
12. Der Geächtete und der Schmetterling
Seit Tagen hatte Brac kaum etwas zu sich genommen. Seit er aus Inthorm verbannt worden war, hatte es keine warme Mahlzeit mehr für ihn gegeben. Er ernährte sich von Abfällen, die er in der Nähe der Höfe fand. Seine zerschlissenen Leinenhosen schlakerten ihm lose an den Oberschenkeln herunter. Statt seines Bauchansatzes wegen dessen ihn Ullren oft geneckt hatte, konnte er inzwischen die einzelnen Muskelstränge seines Abdomen spüren. Haare und Bart waren lang gewachsen und gaben ihm das Aussehen eines Waldläufers, wie die Einsiedler von Unterbergen genannt wurden. Obwohl er in einem erbärmlichen Zustand war, kümmerte er sich nicht darum. Sein ganzes Denken und Sinnen war auf Ullren und Aruc gerichtet, selbst Eufe geisterte in seinem Kopf. Tagsüber wanderte er im Schatten der Bäume bis er so müde war, dass ihm die Beine versagten. Er hatte kein Ziel, nur den Wunsch der Vergangenheit zu entfliehen und das Geschehene ungeschehen zu machen. In den kalten Nächten bereitete er sich ein Lager aus Reisig und Rinde und versuchte sich so gut es ging an einem Lagerfeuer zu wärmen. Viele Male war er verjagt worden von den Bauern, denen er früher die Abgaben für Egom unter gemeinsten Schmähungen abgenommen hatte. Auch heute war Brac an einem dieser Höfe vorbeigegangen. Eine Schar von Kindern war ihm nachgelaufen und hatten ihn mit Erde und Steinen beworfen. Er hatte nicht mit der Wimper gezuckt als ihn ihre Geschosse im Gesicht trafen. Früher hätten sie sich in seiner Nähe nicht einmal zu atmen getraut. Brac lachte bitter bei diesem Gedanken. „Ja, Ja, wer hätte das gedacht, was einst aus dem fürchterlichen Brac werden würde“. Ohne zu wissen, wohin er ging, setzte er einen Fuß vor den anderen. Es dämmerte bereits. Er hatte die letzten Weiler von Unterbergen hinter sich gelassen. Die Stille des Waldes tat ihm wohl. Solange er zwischen den Bäumen einen schmalen Pfad erkennen konnte, nahm er sich vor weiterzugehen. Er hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen und kaum etwas getrunken. Irgendwo musste es eine Quelle geben an der er sich erfrischen konnte. Der Durst trieb ihn weiter. Schon war die Nacht hereingebrochen. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten als er sich schließlich einem sprudelnden Bach gegenüber sah. Gierig trank er bäuchlings auf der Erde liegend in großen Schlücken. Für eine Weile setzte er sich auf die Steine am Bachufer und rastete sich aus. Auf der anderen Seite des Baches sah er eine Öffnung im Felsen, die seine Aufmerksamkeit erregte. Mühsam rappelte er sich hoch und watete durch das fließende Wasser. Die Öffnung im Felsen entpuppte sich als eine Höhle, die wahrscheinlich einem Bären als Behausung gedient haben musste. Brac schleppte sich in das Innere und legte sich auf den bloßen Stein. Obwohl er sterbensmüde war, wälzte er sich unruhig hin und her. Was war mit ihm geschehen seit er begonnen hatte für Egom zu arbeiten? Er hatte Ullren geschlagen und vielleicht hatte er sie sogar umgebracht. Er hatte seinen eigenen Sohn so schlecht behandelt, dass er es vorzog zu fliehen als länger in seiner Nähe sein zu müssen? Jahrelang hatte er ein unschuldiges Mädchen grausam gedemütigt und mit seiner Missgunst und zerstörerischen Eifersucht verfolgt. Zusammengekrümmt begann Brac zu schluchzen bis er wie ein wildes Tier seinen Kummer und Schmerz aus sich herausschrie. Sieben Tage und Nächte verbrachte er in diesem Zustand bis er vollkommen erschöpft die Besinnung verlor. Selbst als die Bärin, die die Höhle bewohnte, zurückkehrte, wachte Brac nicht auf. Er blieb zusammengekauert wie ein Fötus im Mutterbauch im Inneren der Höhle liegen. Die Bärin setzte sich neben ihn und leckte gutmütig seine blutverkrusteten Füße sauber, die von der Wanderschaft wund und aufgerissen waren. Sie sammelte Nüsse, Beeren und Honig und legte die Nahrung neben seinen Kopf. Mit der Zeit wurden seine Atemzüge gleichmäßiger und er begann unzusammenhängende Wortfetzen zu flüstern. Um ihn nicht zu erschrecken, verließ die Bärin ihre Höhle bevor Brac vollständig zu sich kam. Er rieb sich die Augen und richtete sich langsam auf. Wo war er? Wieso lag er in einer Höhle auf dem Boden? Was war geschehen? Er konnte sich an nichts erinnern. Weder an seinen Namen, noch an seine Herkunft, an nichts, absolut nichts. Gierig verschlang er die Haselnüsse, die süsslichen Mondblumenwurzeln und den Honig, ohne zu ahnen, dass sie eine Bärin für ihn gesammelt hatte. Er verspürte brennenden Durst und kroch auf allen Vieren dem Licht entgegen, dass durch die Höhlenöffnung herein fiel. Er musste sich die Hände vor die schmerzenden Augen legen, so sehr blendete ihn das Sonnenlicht. Es fühlte sich warm an auf seiner Haut. Sein Körper entspannte sich. Vor ihm plätscherte ein sprudelnder Bach und er ließ sich gierig immer noch auf allen Vieren das köstliche Nass durch die ausgetrocknete Kehle laufen. Erst als ihm der Bauch zu zerbersten schien, ließ er sich seitlings auf den Rücken fallen und beobachtete die wogenden Baumgipfel über ihm. Noch während er überlegte wohin er gehen sollte, landete ein gelber Schmetterling neben ihm im Gras. Er war fast handtellergroß und hatte die Farbe einer Sonnenblume. Interessiert schaute Brac sich das grazile Geschöpf näher an. Die leuchtenden, fast transparenten Flügel, die langen Fühler und feinen Beinchen. Unvermittelt vernahm Brac eine Stimme. „Wer bist du?“ Verdutzt stützte er sich auf beide Ellbogen und drehte den Kopf von Links nach Rechts und zurück und versuchte jemanden zu entdecken, der zu ihm gesprochen haben könnte. „Hallo ist da wer?“ Keine Antwort. „Hallo, wer hat zu mir gesprochen?“ „Ich natürlich, wer sonst. Ist doch außer uns niemand hier.“ Brac traute seinen Augen nicht. Was der Schmetterling? Verständnislos schüttelte er den Kopf und runzelte die Stirn. „Ja und, warum sollen Schmetterlinge denn nicht sprechen können? Wenn ich mich vorstellen darf, ich heiße Alda.“ Brac war vor Staunen der Mund offen stehen geblieben. „Na und hast du keinen Namen?“ Völlig aus der Fassung gebracht stotterte Brac: „Eh, nneineineinnn.“ „Jeder braucht einen Namen. Dann gebe ich dir einen. Weil ich dich vor der Höhle der Bärin gefunden habe, bist du Urs von Bärin. Na, gefällt dir der neue Name?“ „Ja, ja schon“, war das einzige was Brac herausbrachte. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er mit einem Schmetterling spach. „Gewöhn dich dran Urs“, schien Alda seine Gedanken erraten zu haben. „So und jetzt machen wir uns auf. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns.“ „Wieso denn, welcher Weg, wo gehen wir denn hin?“, fragte Urs überrumpelt. „Das wirst du noch früh genug erfahren mein Lieber. So und jetzt komm, sonst verspäten wir uns.“ Alda flog voraus und Urs folgte ihr widerspruchslos ohne eine weitere Frage zu stellen.
13. Der Zweikampf
Aus dem Nordflügel von Inthorm hallten heisere Schreie, die nichts menschliches an sich hatten. Egom tobte. „Wacheeeeeeeeee, Waaaaacccchhhheeeee“, kreischte er, während seine weiß behandschuhten Finger seine Maske straff nach unten zogen, was ihm den Ausdruck eines Gespenstes gab. „Holt Veltron auf der Stelle und auch den Trottel von seinem Sohn und bringt sie auf den Marktplatz von Steinern. Wir werden ein kleines Schauspiel mit ihnen veranstalten zum Amusement des Pöbels. Los worauf wartet ihr oder soll ich euch auspeitschen lassen bis ihr grunzt wie die Schweine auf der Schlachtbank?“ Kaum hatte Egom den Satz zu Ende gesprochen, stoben die Wachen davon, um seinen Befehl auszuführen. Trotz seines Ärgers konnte er sich ein bösartiges Grinsen nicht verbeißen. „Veltron wird mir bitter büßen, dass er mich so enttäuscht hat.“ Das zu erwartende Spektakel hatte seine Laune gehoben. Außerdem konnte es nicht mehr lange dauern bis die Zigeunerin ihm die Jungfrau zurückbrachte. Nur das zählte. Auf sie konnte er sich verlassen. Sie wusste was zu tun war. Als er den Festungsvorhof betrat, wartete seine Prachtkutsche bereits aufbruchbereit. In einem vergitterten Leiterwagen standen Veltron und Perchta gebückt wie Rinder, die auf die Schlachtbank geführt wurden. Beide waren nackt bis auf eine Windelhose, die kaum ihre Genitalien bedeckte. Sie sprachen kein Wort miteinander und hatten ihren Blick starr auf den strohbedeckten Boden des Leiterwagens gerichtet. Als Egom in den Burghof trat hob Veltron seinen Kopf und schaute ihn flehend an. Egom lächelte ihm süffisant zu und ließ sich von zwei Dienern in die Kutsche hieven. Er schnippte zweimal mit den Fingern, was für den Kutscher das Aufbruchzeichen bedeutete. Egom verließ selten Inhorm. Für gewöhnlich nur um die Bauern zusammenzutreiben, die bei den Hetzjagden herhalten musste. Als die Bauern die Kutsche von Weitem sahen, rannten sie aufgeschreckt ins Haus und hofften inständig, dass Egom sie in Ruhe lassen würde. Diejenigen, die nicht das Geld gehabt hatten, um den Lehn pünktlich zu zahlen, verkrochen sich so tief es ging unter die Heuberge im Stall. Doch ganz gegen Egoms Gewohnheit kümmerte er sich heute keinen Deut um sie. Er wollte nur so schnell wie möglich auf den Marktplatz kommen, um sich an Veltron und Perchta gütlich zu tun. Dort hatte sich bereits eine gröhlende blutlüsternde Menschenmenge versammelt, die sich duckmäuserisch verbeugte als Egom versuchte sich schnaufend aus der Kutsche zu zwängen. Keiner traute sich auch nur mit der Wimper zu zucken, geschweige denn zu lachen als der Tyrann aufgrund seiner Fettleibigkeit stecken blieb und ihn einer seiner Diener buchstäblich aus der Kutsche zerren musste. Der entwürdigende Vorfall schürte Egoms Rage nur noch mehr. Er klatschte herrisch in die Hände und ließ sich auf dem Rücken von einem Diener, der unter seiner Last fast zusammenbrach, in die Mitte des Marktplatzes auf eine eiligst zusammen gezimmerte Tribüne tragen. „Wir sind heute zusammen gekommen, um Zeuge der unterbergischen Rechtssprechung zu werden, die weder Untreue an seinem Herrscher noch Verrat an seinem Heimatland durchgehen läßt. Ich gebiete deshalb, dass Vater und Sohn auf Leben und Tod gegeneinander kämpfen“, bemühte Egom sich betont gewählt auszudrücken. Wie gewöhnlich schwang ein gefährlicher Unterton in seiner kieksenden Stimme. Veltron und Perchta wurden vor den Augen der kreischenden Menge aus dem Gitterwagen geladen und auf die Tribüne gestoßen. Beide hielten die Köpfe gesenkt. Egom klatschte erneut in die Hände, was das Zeichen war, dass der Kampf beginnen konnte. Schlagartig erwachte Veltron aus seiner Apathie, packte seinen Sohn und schleuderte ihn mit aller Wucht zu Boden. Bevor er ihm Zeit gab sich aufzurappeln, holte er zu einem Faustschlag gegen Perchtas Rückgrat aus. Der Junge, der gerade erst sechzehn Jahre alt geworden war, konnte sich gerade noch zur Seite rollen und Veltrons Faust rammte, an ihm vorbei, in den genagelten Holzlattenboden. Aufheulend hielt Veltron sich die blutende Hand, während Perchta seinen Vater von hinten ansprang und mit seinen scharfen Nägeln das Gesicht zerkratzte. Beide schienen vergessen zu haben, dass sie Vater und Sohn waren und kämpften blindwütig wie wilde Tiere. Egom genoss die prickelnde Spannung und den Geruch von stinkendem Angstschweiß, der in der Luft waberte. Veltron hatte es geschafft seinen Sohn abzuschütteln und stürzte sich schreiend auf ihn. Perchta wehrte sich mit Fußtritten in die Eingeweide seines Vaters. Minutenlang rollten sie schlagend und tretend über die Holzplanken. Beide blutenden aus mehreren Wunden, die sie sich gegenseitig zugefügt hatten. Perchtas linkes Auge war fast zugeschwollen von einem Fausthieb, den ihm sein Vater versetzt hatte. Veltron hatte eine klaffende Bisswunde am rechten Bein davon getragen. Die Menge hatte sich in zwei Gruppen aufgeteilt. Der eine Teil unterstütze Veltron und der andere Perchta. Wann immer die erbitterten Kämpfer einen Schlag oder Tritt plazieren konnte, begann die Menge zu johlen. Je länger der Kampf dauerte umso grausamer rangen Vater und Sohn miteinander. Als Veltron begann Perchtas Kopf auf den Boden zu schlagen, dass das Blut nur so spritzte, gebot Egom schließlich Einhalt, weil er befürchtete das Veltron als Sieger hervorgehen konnte. „Ich erkläre Perchta als den Gewinner“, verkündete er gönnerhaft und niemand der Umstehenden wagte es zu murren geschweige denn Einspruch zu halten. Sie wussten, dass das Anzeichen von geringster Unzufriedenheit ihr Todesurteil bedeuten konnte. Veltron wurde blutüberströmt mit dem Bauch nach oben auf eine Holzbritsche gebunden, die einer von Egoms Dienern herbeigeschafft hatte. Egom drückte Perchta, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, eine mit Metallkugeln gespickte Peitsche in die zerschundenen Hände. Das Gesicht des Sechzehnjährigen war fast bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen. Er zitterte am ganzen Leib als er mit der Peitsche ausholte und sie auf seinen Vater niedersausen ließ. Die Metallkugeln zerfetzten gierig Bauch und Gesicht ihres Opfers. Veltron schrie wie am Spieß. Ein Raunen ging durch den Pöbel. Immer wieder holte Perchta mit der Peitsche aus. Wie von Sinnen schlug er auf seinen Vater ein bis von Veltron nur noch eine aufgeplatzte Masse übrig war. Die Menge war still geworden. Die Schreie Veltrons waren verstummt. Nur noch Perchtas rasselnder Atem und die klatschenden Schläge der Peitsche, die sich in Veltrons breiiges Fleisch grub, waren zu hören. Als Perchta zusammenbrach und sich über der Leiche seines Vaters übergab, machte Egom dem Spektakel ein Ende, indem er dreimal mit den Fingern schnippte. Blutüberströmt, besudelt mit dem Blut seines Vaters und seinem eigenen Erbrochenen wurde Perchta wieder in den Leiterwagen gesperrt. Egom ließ sich zurück in seine Kutsche tragen. Ohne die geringste Gemütsbewegung zu zeigen, gab er das Aufbruchszeichen und die Pferde setzten sich in Bewegung. Nachdem nur noch Staubwolken am Horizont zu sehen waren, verlief sich die Menge und zurück blieb Veltrons unkenntlicher Leib im Dreck und Unrat des Marktplatzes von Steinern, wo sich räudige Strassenhunde um seine letzten Überreste balgten.
14. Grünglüh
Liesli war ohne sich noch einmal umzuschauen durch das Felsportal geflogen und Kali war ihr eilig hinter hergeflattert. Eufe, Aruc und Fallada standen ehrfürchtig vor der Höhlenwand, die noch vor wenigen Sekunden keinerlei Öffnung gezeigt hatte. Eufe rieb sich die Augen, um sicher zu gehen, dass sie nicht träumte. „Los lasst uns ihnen folgen“, konnte Aruc seine Ungeduld kaum im Zaum halten, weil er so schnell wie möglich herausfinden wollte, was sich hinter dem Eingang verbarg. Fallada setzte sich gehorsam in Bewegung: „Ich gehe voraus. Ich habe Ullren hoch und heilig versprechen müssen euch zu be...“. „Ja, Ja Fallada wir wissen es ja“, unterbrach Aruc die Schimmelstute und hängte sich grinsend an ihren Schweif. „Los Eufe.“ „Ja ich komme schon.“ Eufe drehte sich nocheinmal um und verabschiedete sich von Immergold und den Faunen. „Danke“, flüsterte sie ins Halbdunkel und verbeugte sich. Dann lief sie hinter den anderen her. Sie gelangten in einen Tunnel, der hoch genug war, dass auch Fallada aufrecht gehen konnte. Von Liesli und Kali fehlte jede Spur. So bewachsen und pflanzenreich die Grotte gewesen war aus der sie kamen, so karg und felsig wurden sie auf der anderen Seite der Höhlenwand empfangen. „Wohin führt uns dieser Stollen wohl?“, wunderte sich Aruc ohne wirklich eine Antwort von Eufe oder Fallada zu erwarten. Nach einer Weile ging der Weg steil bergauf. Fallada verlangsamte ihr Tempo und setzte mühsam einen Huf vor den anderen. Aruc hatte Eufe bei der Hand genommen, um ihr das Bergaufgehen zu erleichtern. Dankbar lächelte Eufe ihm zu und drückte seine Hand. Der Gang schien kein Ende zu nehmen. „Seht doch, ein Licht. Ich kann ein grünes Licht sehen“, rief Eufe plötzlich. Weit über ihnen erhellte ein schmaler Lichtkegel den Gang. „Wo sind nur Liesli und Kali abgeblieben?“ Kaum hatte Eufe die Frage ausgesprochen, surrte es über ihren Köpfen. „Wenn man von der Sonne spricht, dann scheint sie“, flötete Liesli und landete grazil auf Eufes linker Schulter. Kaliman nahm mit Arucs Kopf vorlieb und hüpfte auf und ab wie ein Springball. „Wieso bist du denn so aufgedreht Kali? Los hör auf auf mir herumzuhopsen wie ein aufgeschreckter Floh. Das macht mich ganz nervös.“ „Ach so, ja, verstehe, ich meine, eigentlich nicht, aber na ja.“ Augenblicklich hielt Kali inne. „Wo seit ihr denn gewesen?“, fragte Eufe neugierig und Aruc fügte hinzu: „Ja und was habt ihr gefunden?“ „Hihihi das glaubt ihr nicht, das glaubt ihr bestimmt nicht“, Kali begann wieder auf und ab zu springen. Diesmal ließ Aruc ihn gewähren, weil es ihm wichtiger war herauszufinden was am Ende des Tunnels auf sie wartete. „Ja was denn jetzt, spann uns nicht so auf die Folter“. Aruc wurde langsam ungeduldig. „Ach Lieber hör doch auf so zu hopsen. Wir sagen es ihnen doch gleich“, mischte sich Liesli ein. „Was sagt ihr uns gleich?“ Auch Fallada, war jetzt ungeduldig geworden. „Alsoooooo“, setzte Kali betont umständlich an und räusperte sich. „Also was? Jetzt mach schon“, drängte ihn Aruc. Allerdings hatte er nicht mit Kalis Sturheit gerechnet. „Ich hab es mir überlegt. Ich sag gar nichts mehr. So etwas Respektloses“, ärgerte sich das Glühmännlein. Liesli nickte zustimmend mit ihrem kleinen Lockenköpfchen, dass ihr rampuniertes Kleeblatthütchen über die Augen rutschte. Aruc hätte die Beiden am liebsten geschüttelt „Ach Kali, Liesli entschuldigt, aber ihr macht es auch wirklich zu spannend“, versuchte Eufe einzulenken. „Genau. Ich kann auch nichts dafür, wenn ihr mich so neugierig gemacht habt“, verteidigte sich Aruc. „Ich entschuldige mich hiermit offiziell für meine grobe Ungeduld.“ Verstohlen zwinkerte er Eufe zu, die an sich halten musste, um nicht laut heraus zu prusten. „Nun gut, ich will mal nicht so sein“. Mit hoch erhobenem Haupt verschrenkte Kali die Hände über der Brust. Daraufhin fuhr er förmlich fort: „Ich darf euch hiermit verkünden, dass wir uns auf Glühmandlgebiet befinden.“ „He????“, war alles was Aruc herausbrachte. „Wir sind was?“, hakte Fallada nach. „Wir haben unsere verschollenen Verwandten gefunden.“ Kali war neben Liesli auf Eufes Schulter geflogen und flüsterte dem Glühweiblein Etwas ins Ohr, worauf sie begann zu erzählen: „Vor vielen vielen Jahren hat eine Gruppe Glühmandln den Steiner Wald verlassen, weil sie sich in den Kopf gesetzt hatten, die Höhlen zu erkundschafften. Aber sie sind nie mehr zurückgekommen. Deshalb glaubten wir, sie seien umgekommen.“ „Genau“, pflichtete Kali bei. „Und deshalb sind Liesli und ich ausgezogen, um sie zu suchen. Wir sind aber nie weit gekommen, weil wir immer wieder umgekehrt sind, wenn es uns zu mulmig wurde“, gab Liesli zu. „Erst mit euch haben wir uns getraut tiefer in die Höhlen vorzudringen“, erklärte sie triumphierend mit ihrem strahlendsten Lächeln. „Und was ist da wo das grüne Licht herkommt?“ Eufe deutete mit dem Zeigefinger auf das Ende des Ganges. „Das ist Grünglüh. Dort haben sie sich niedergelassen.“, antwortete Kali. „Los kommt wir zeigen es euch.“
Kali und Liesli flogen aufgeregt voraus. Fallada, Eufe und Aruc setzten ihren Aufstieg zu Fuß fort. Die beiden Untersberger Glühmandln waren so aufgekratzt, dass ihre kleinen Mäulchen nicht für einen Moment still standen. „Das werden uns die anderen nicht glauben. Nach all den Jahren haben wir sie lebend gefunden. Stell dir nur vor was sie daheim sagen werden, wenn sie es erfahren Liesli.“ „Das wird ein Aufruhr. Ich kann es kaum erwarten.“ Liesli klatschte in die kleinen Patschhändchen.
Immer höher stiegen sie bis sie endlich am Ende des Tunnels angelangt waren. Liesli und Kaliman hatten sich an den Händen gefasst und riefen: „Dürfen wir vorstellen: Grünglüh.“ Mit surrenden Flügeln schwebten sie in den grünen Lichtkegel und waren verschwunden. „Wir bleiben zusammen, vesprochen?“ Fallada hatte sich vor Eufe und Aruc gestellt und schaute sie eindringlich an. „Versprochen Fallada“, beeilte sich Eufe zu versichern. Aruc wiederholte: „Klar doch, Versprochen“. Fallada bückte sich und Aruc und Eufe kletterten auf ihren Rücken. Vorsichtig trat die Schimmelstute in den Lichtkegel. Grelles Gleißen umfing die Drei und sie konnten außer grünen Strahlen nichts erkennen. Fallada setzte langsam ein Bein vor das andere. Immer noch war der Widerschein so stark, dass sie nicht einmal Umrisse erkennen konnten. Statt Erde und Stein spürte Fallada unter ihren Hufen nichts. Es war als ob sie auf Luft ginge. „Wo bleibt ihr denn?“ hörten sie Kali und Liesli nach ihnen rufen. Fallada schritt tapfer voran, obwohl ihre Hufen keinen Halt mehr fanden. Noch ein Schritt und sie waren aus dem Lichtkegel herausgetreten. Eine grüne Smaragdkuppel wölbte sich über ihren Köpfen. „Aha damit wäre das grüne Leuchten erklärt“, musterte Aruc interessiert den Kristall. „Und sonst fällt dir nichts auf?“, fragte ihn Fallada erstaunt. Bevor Aruc antworten konnte rief Eufe außer sich. „Fallada schwebt. Wir berühren den Boden nicht“. Vor lauter Aufregung war Eufe aufgesprungen. Bevor Aruc sie warnen konnte, kippte sie seitlings vom Pferd. „Ahhhhhh“ schrie sie erschrocken. Instinktiv rollte sie sich ein wie eine Katze und erwartete einen schmerzhaften Aufprall auf dem Boden. Stattdessen spürte sie wie sie von der Luft getragen wurde. Genau wie Fallada schwebte Eufe ein paar Handbreit über dem Boden. „Das will ich auch ausprobieren“. Aruc ließ sich von Falladas Rücken fallen und begann neben Eufe schwerelos durch die Luft zu gleiten. „Wauuuuuuuuuuu“. Aruc vollführte einen ausgelassenen Sprung. Immer wilder hopste er herum bis schließlich sogar mehrfache Saltos schlug. Fallada und Eufe schüttelten amüsiert den Kopf. Obwohl sie etwas zurückhaltender als Aruc waren, genossen sie die Schwerelosigkeit ebenso wie er. Nach einer Weile bemerkten sie, dass Kali und Liesli sie zufrieden beobachteten. Sie waren umgeben von einer Schar Glühmandln, die genau wie die Beiden Hütchen, Kappen und Kleider aus Blättern, Blumen und Nussschalen trugen. Ein pausbäckiges Glühweiblein, dass Liesli wie aus dem Gesicht geschnitten war, begrüßte sie. Ihre Augen hatten einen warmherzigen Glanz: „Herzlich willkommen bei uns in Grünglüh. Ich bin Lieslis Tante Miri“, stellte sie sich vor und machte einen Knicks, während sie ihre glitzernden Flügelchen keinen Moment still stehen ließ. „Wir danken euch, dass ihr Liesli und Kali geholfen habt uns zu finden.“ Bevor Eufe, Aruc und Fallada wussten wie ihnen geschah, verbeugte sich ein Glühmandl nach dem anderen vor ihnen. „Wir werden ein Fest zu euren Ehren geben. Für heute sollt ihr euch jedoch ausruhen. Ihr seit sicher müde von dem anstrengenden Weg.“ Miri flog ihnen voraus. Aruc, Eufe und Fallada segelten genüßlich hinter ihr her, gefolgt von Liesli, Kali und dem Rest der Glühmandlschar. Miri führte sie unter eine zweite Smaragdkuppel, die noch heller leuchtete als die Erste. Hier hatten die Glühmandln ihre Residenzen aufgeschlagen. Es waren grüne Häuschen, die ebenfalls aus funkelnden Smaragden gebaut waren. Sie reihten sich um eine sechseckige Smaragdpyramide, die in mehrere Räumlickeiten unterteilt war und um ein vielfaches größer war als die kleinen Häuschen der Glühmandln. Davor blieb Miri stehen und verkündete freudig: „So das hier ist die Unterkunft für unsere großen Gäste. Solange ihr bei uns bleibt dürft ihr hier wohnen. Jetzt ruht euch aus und wenn ihr aufwacht feiern wir ein rauschendes Fest.“
Miri holte ihre Besucher persönlich vor der Pyramide ab. „Habt ihr euch ausgeruht? So schnell kommt ihr nicht mehr zum Schlafen. Unsere Feste sind in den Steiner Höhlen berühmt und berüchtigt“. „Wieso, das hört sich ja so an, als ob ihr noch andere Gäste erwartet aus den Höhlen?“, erkundigte sich Aruc leicht beunruhigt. „Ja natürlich mein Jueng. Was glaubst du denn? Wir feiern unsere Feste, um Verbindung zu pflegen mit unseren Nachbarn.“ „Ja aber du wirst doch nicht die Kormoraner und Sikull eingeladen haben Tante Miri?“ Gutmütig täschelte das Glühweiblein ihrer Nichte die Wange: „Immer mit der Ruhe. Nach Grünglüh gelangen nur diejenigen die reiner Gesinnung sind. Alle anderen werden von den magnetischen Vibrationsfeldern abgestossen“, beruhigte sie Miri und schwirrte dicht vor Eufes Augen auf und ab. „Du bist sehr schön mein Kind. Ich wette Uba wird sich in dich verlieben.“ Eufe errötete und schlug die Augen nieder. „Wer ist denn Uba?“, fragten Aruc und Fallada gleichzeitig. Miri hatte den misstrauischen Unterton in ihrer Stimme gehört und erklärte schmunzelnd: „Keine Sorge. Uba ist ein Pfundskerl, der einen Faible hat für alles was schön ist. Er versäumt keines von unseren Festen.“ „Hmmm, na dann...“ Aruc war noch immer skeptisch was es mit diesem Uba auf sich hatte. Jedenfalls würde er Eufe keinen Moment aus den Augen lassen, soviel stand fest. Falls ihr dieser Pfundskerl zu nahe rückte, bekam er es mit ihm zu tun. „Und wo findet das Fest statt Miri?“, erkundigte sich Kali eifrig. Er war hungrig und erhoffte sich in erster Linie ein reichhaltiges Bankett mit Köstlichkeiten und Schleckereien, die er schmerzlich vermisste, seit er in den Höhlen unterwegs war. „Wir feiern in unserer Sternenkuppel. Dort können wir den Himmel sehen.“ „Was?“, „Wirklich?“, „Wir können den Himmel dort sehen?“, riefen Aruc, Eufe und Fallada durcheinander. Während die drei sich vorstellten wie es war endlich wieder den Himmel zu sehen, träumte Kali weiter vom Essen. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen als er Liesli vorschwärmte: „Vielleicht gibt es gebratene Pfifferlinge mit Sauerampferrahm, hhhhhmmmm oder sogar Himbeeren mit Honigglasur oder noch besser Gänseblümchensalat mit Haselnüssen.“ Kali leckte sich über die Lippen und verdrehte schwärmerisch die Augen. „Also wirklich Kali, Miri glaubt noch, dass wir nur wegen des Essens hier sind“, versuchte Liesli ihren gefräßigen Gatten zum Schweigen zu bringen. „Ach Nichtchen, lass den Guten. Ich freu mich doch, wenn es dem Kali schmeckt, täschelte Miri diesmal ihrem Neffen gutmütig die Pausbäkchen. „So und jetzt folgt mir meine Lieben. Es ist schon alles vorbereitet. Wir werden erwartet.“ Miri nahm Liesli bei der Hand und flog voraus, gefolgt von Kali, der bis über beide Ohren strahlte und es kaum erwarten konnte sich das Bäuchlein vollzuschlagen. Fallada, Aruc und Eufe beeilten sich ihnen hinterher zu kommen. Mittlerweile hatten sie sich an den Schwebezustand gewöhnt und glitten leichtfüßig durch die Luft. Miri führte sie zu einem weiteren Portal, das ebenso wie das Eingangsportal in ein gleißend grünes Licht getaucht war. Die drei Glühmandln verschwanden in den hellen Strahlen. Aruc nahm Eufe bei der Hand und legte seine freie Hand auf Falladas Mähne. Gemeinsam folgten sie ihnen. Zuerst konnten sie nichts sehen, weil sie von der Helligkeit geblendet waren. Als sich ihre Augen langsam an das grelle Licht gewöhnt hatten, blieb ihnen vor Staunen der Mund offen stehen. Nach einer Weile brachte Aruc ein langezogenes „Ohhhhhhhhhhh“ über die Lippen. Liesli und Kali kicherten, wie üblich wenn sie entzückt waren. Fallada wieherte kräftig, was so gut wie nie vorkam und höchstes Erstaunen der Stute kundtat. Eufe war so überwältigt, dass sie nichts sagen konnte. Vor ihnen lag eine märchenhafte Miniaturlandschaft mit Bergen, Wäldern und prächtigen Wiesen. In einem kristallklaren See gab es eine Insel auf der sich das Glühmandlorchester formiert hatte und flotte Tanzmelodien aufspielte. Ihre Instrumente bestanden aus Muschelschalen, Schneckenhäusern und Zapfen aus denen sie Trommeln, Geigen und sogar einen Kontrabass gemacht hatten. Scharen von tanzenden Glühweiblein und Glühmännlein in ihren schönsten Ausgehroben wirbelten durch die Luft. An einem riesigen Tisch, der von zwei Bergspitzen gestützt wurde, saßen ausgelassene Besucher auf schwebenden Stühlen und prosteten sich mit Blütenkelchen zu, in die sie sich immer wieder eine grüne Flüssigkeit aus ausgehöhlten Kürbisköpfen nachschenkten. Die Festgesellschaft hätte unterschiedlicher nicht sein können. Außer den Glühmandln waren Hunde, Katzen, Mäuse, Schwäne, Enten, Gänse, Rehe, Hirsche, Frösche, Wölfe, Bienen, Schmetterlinge ja sogar Spinnen, Schlangen und Küchenschaben unter den Anwesenden. Am Kopfende der Tafel thronte ein Jaguar, den Miri überschwenglich begrüßte. „Uba mein Bester, wie schön, dass du uns mit deiner Gesellschaft verwöhnst, wie schöööön.“ An die Freunde gewandt, fuhr sie fort, ohne eine Pause zu machen oder Uba zumindest Zeit zu geben, ihren Gruß zu erwidern: „Darf ich euch vorstellen, dass ist Uba, der galanteste, charmanteste, schönste, großzügigste... “ Miri hätte ihre Lobeshymne wer weiß wie lange fortgesetzt, wenn Uba ihr nicht einen galanten Handkuss gegeben hätte. Anstatt den Satz zu Ende zu bringen, drückte Miri ihm einen saftigen Schmatz auf seine breite Nase. Der Jaguar, der sich aus seinem Stuhl erhoben hatte, wackelte verlegen mit den Ohren und verneigte sich vor ihnen. „Es ist mir eine Ehre in Grünglüh zu sein und Miris neue Freunde kennenzulernen“. „Ganz unsererseits“, antworteten Liesli, Kali, Fallada, Aruc und Eufe artig. Gebannt musterten sie Uba. Sein Fell glänzte wie Seide und war mit braunen Ringen gezeichnet in deren Mitte schwarze Punkte prangten. Jede seiner Bewegungen waren langsam und von ausgesuchter Grazie. Er strotzte vor Kraft und Energie. „Na wenn das mal kein Pfundskerl ist, dann weiß ich nicht“, flüsterte Aruc grinsend in Eufes Ohr, die sich insgeheim darüber wunderte, warum gerade ein so schönes, edles und mächtiges Tier an ihr gefallen finden sollte. Während sie noch darüber nachsann, begann eine Gruppe Glühmandeln große Blätterfächer mit Essen auf dem Tisch zu verteilen. Kali war hell auf entzückt. Alle Speisen, die er sich erträumt hatte waren darunter, sogar sein Lieblingsgericht: Weinblätter gefüllt mit Karottenpüree und gerösteten Kürbiskernen. Miri klatschte in die Hände: „Das Bankett ist eröffnet. Wenn jeder sich einen freien Platz suchen möchte bitte, dann kann es losgehen. Unsere neuen Gäste darf ich bitten sich aufzuteilen, damit wir einander besser kennenlernen.“ Uba hielt Eufe seine Pfote hin und bot ihr zuvorkommend einen Stuhl neben sich am Kopfende der Tafel an. Eine Gruppe aus Hund, Katze und Maus riefen Aruc zu sich, Fallada fand ihren Platz neben einer Schlange und einem Wolf, Liesli wurde neben einen Schwan und ein Reh gesetzt und Kaliman zwischen eine Küchenschabe und eine Spinne. Keiner von ihnen wagte zu protestieren. Nach kürzester Zeit waren alle Anwesenden in angeregte Gespräche verwickelt und ließen sich die würzigen Speisen aus der Grünglühküche schmecken, die sich besonders durch ihre Fantasie auszeichnete und keine Art von Fleisch verwandte. Obwohl Eufe anfangs Angst vor Uba hatte, lachte sie bald ausgelassen über seine Scherze und genoß seine galanten Blicke, die wohlwollend auf ihr ruhten. Aruc ließ sich ausführlich erklären, wie und warum Hund, Katze und Maus friedlich zusammen leben konnten. Fallada war in eine philosophische Diskussion über Freundschaft mit der Schlange und dem Wolf verwickelt und Liesli hatte in Schwan und Reh dankbare Zuhörer für ihre romantischen Träume gefunden. Kaliman trank mit der Küchenschabe und der Spinne sogar Brüderschaft und war nicht zuletzt dank des reichhaltigen Mahls bester Stimmung. Zu seinem Leidwesen hatte er sich schon so viele Blattschalen aufgehäuft, dass er jetzt beim besten Willen nichts mehr essen konnte, ohne Gefahr zu laufen unter den Tisch zu sacken. Nach einiger Zeit erhob sich Miri. Alle Blicke richteten sich auf das strahlende Glühweiblein, das sich besonders fein in weißes Ballkleid aus Lilien herausgeputzt hatte. Die Blütenkelche bauschten sich ausladend und verdeckten ihre kurzen Beinchen bis zu den Fußspitzen, die in hohen Schneckenhaus-Pumps steckten. „Ich möchte euch meinen Dank aussprechen, ganz besonders unseren lieben Besuchern gegenüber, die das Schicksal zu uns geführt hat und die sich so bereitwillig unter uns eingereiht haben. Es gibt nicht viele ihren Schlages, die es zulassen neue Wege zu gehen und Erfahrungen zu machen, die ihre Überzeugungen buchstäblich auf den Kopf stellen.“ Miri machte eine rethorische Pause und gab den Umstizenden Zeit beifällig zu nicken. „Wir beweisen mit unseren bunt gemischten Zusammenkünften, dass es sich lohnt Barrieren und Vorurteile zu überwinden, um einander näher zu kommen und voneinander zu lernen. Nur wenn wir das Fremde, das Andere, das Ungewöhnliche, das Angsteinflößende annehmen, ohne zu urteilen, sind wir wahrhaft frei.“ Als Miri geendet hatte, war es für einen Moment mucksmäuschenstill bis tosender Applaus laut wurde. Das kleine Glühmandlweiblein setzte sich sichtlich glücklich an ihren Platz zurück, um gleich darauf von einem galanten Taubenfalter zum Tanz aufgefordert zu werden. Bald schlossen sich ihnen mehr und mehr Paare an. Die Dunkelheit war hereingebrochen und wie versprochen zeigte sich ein funkelnder Sternenhimmel über ihnen. Aruc, Fallada, Liesli, Kali und Eufe hatten vergessen warum sie in den Höhlen waren und überließen sich einfach dem Moment. Sie waren rundherum glücklich. Das Fest dauerte zwei Tage und drei Nächte. Im Morgengrauen des dritten Tages kamen die Freunde erschöpft und berauscht zurück in die Pyramide. Nicht nur ihre Körper schwebten, sondern auch ihr Geist war schwerelos geworden. Sie streckten sich auf den würzig duftenden Grasmatten aus und erinnerten sich an die schönsten Momente des Festes und die vielen neuen Freunde, die sie gewonnen hatten. Von Kali war kein Mucks zu hören, weil er einen neuen Essrekord aufgestellt hatte und sofort völlig geplättet eingeschlafen war. Bald folgten ihm auch Liesli, Fallada und Aruc ins Reich der Träume. Nur Eufe war immer noch so aufgedreht, dass sie keinen Schlaf finden konnte. Uba hatte ihr von seiner Heimat Ubalandia erzählt. Eufe hatte Uba immer wieder gefragt, wie sie dorthin gelangen konnten, aber Uba hatte nur geheimnisvoll gelächelt. Da sie nicht schlafen konnte, beschloss Eufe sich die Zeit damit zu vertreiben, in ihrem Rucksack zu kramen. Das irdene Töpfchen in dem Ullren ihr Proviant mitgegeben hatte war längst leer. Aber wer konnte nach so einem Fest auch ans Essen denken. Höchstens Kali ging es Eufe durch den Kopf und sie musste unwillkürlich lachen. Ihre Finger ertatesten etwas Rundes. Es war das Holzrohr, das Eufe aus den Tiefen des Rucksacks zutage brachte. Zum ersten Mal schaute sie es sich aus der Nähe an und bemerkte, dass rund um die Öffnung verschiedene Zeichen geschnitzt worden waren. Nachdem sie es ratlos mehrfach zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger wandern gelassen hatte, hielt sie es sich wie ein Fernrohr vor die Augen. Ihre langen Wimpern stießen an die abgerundeten Kanten und Eufe musste blinzeln. Gerade als sie es wieder absetzen wollte, sah sie die Spitze eines Turms vor sich auftauchen. Eufe ließ das Holzrohr verdutzt sinken und versuchte die Turmspitze in der Pyramide zu finden. Außer den Edelsteinwänden konnte sie jedoch nichts weiter erkennen. Wieder hielt sie sich das Holzrohr vor die Augen. Jetzt sah sie klar und deutlich den Turm vor sich, der sich als die Festung von Inthorm entpuppte. Erschrocken verkrampften sich Eufes Finger um das Holzrohr und berührten dabei einen geschnitzten Pfeil. Im nächsten Moment sah sie ein Gemach vor sich. Es war mit zahlreichen gestickten Wandteppichen geschmückt auf denen Jagdszenen dargestellt waren. Auf einem der Gemälde war ein weißer Drache abgebildet auf dem ein Krieger saß, der einen Sreithelm aufhatte, dessen Visier geschlossen war. Eine vornübergebeugte Gestalt saß auf einem goldenen Thron. Das Gesicht war mit einer weißen Kapuze verdeckt, die nur für Augen, Mund und Nase Schlitze hatte. Hände und Hals waren mit Handschuhen und Krause bedeckt. Eufes Atem ging schneller. Obwohl sie ihn nie zu Gesicht bekommen hatte, wusste sie, dass sie Egom vor sich hatte. Aber wie anders hatte sie ihn sich vorgestellt. Wie konnte diese eingefallene, traurige Gestalt soviel Angst und Schrecken verbreiten? Eufe tippte mit ihrem Zeigefinger auf die Schnitzerei eines vertikalen Strichs, von dem ein schrägstehender nach unten gerichteter Querstrich ausging. Jetzt konnte sie nur noch ein grünes Licht wahrnehmen. Obwohl sich die klare Sicht ihrer Augen verschleiert hatte, eröffnete sich ihr eine andere Art von Sehen. Eufe verstand tief in ihrem Herzen die Tragödie Egoms. Sie begann die Beweggründe für seine Grausamkeiten zu verstehen. Er verachtete sich selbst abgrundtief und ließ keine Gelegenheit aus, sich bei seinen Untertanen verhasst zu machen. Er glaubte, dass er sich nur durch Gewalt, Anerkennung und Respekt verschaffen konnte. Er fand sich abstoßend und häßlich und bekämpfte deshalb mit allen Mitteln das Schöne und Gute. Je grausamer er mit seinen Untertanen umging, desto schuldiger fühlte er sich und desto mehr hasste er sich und desto grausamer wurde er. Er war Gefangener seiner Selbst und des Teufelkreislaufs seiner Gedanken. Und sie, Eufe, sollte ihn mit ihrem Blut reinwaschen. Erschüttert ließ Eufe das Holzrohr in ihren Schoß sinken. Sie empfand weder Hass noch Wut, nur tiefes Mitleid für Egom. „Aruc schläfst du?“ Eufe hatte das dringende Bedürfnis Aruc einzuweihen. „Ja, das heißt jetzt nicht mehr. Was ist los?“ „Ich habe herausgefunden zu was das Holzrohr gut ist, das mir Ullren in den Rucksack gelegt hat.“ Sofort war Aruc hellwach und drehte sich auf seine Ellbogen gestützt zu ihr um. „Ja und zu was ist es gut?“ „Du wirst es nicht glauben, ich habe Egom damit gesehen. Und nicht nur das. Ich konnte mit dem Holzrohr sehen wer er wirklich ist.“ „Wie meinst du das? Du wirst doch nicht behaupten, dass du ihn ohne Kutte und Kapuze zu Gesicht bekommen hast?!“ „Nein nicht direkt, aber ich konnte verstehen warum er so grausam ist und warum er mich töten möchte.“ Aruc war baff. Seit sie in Grünglüh angelangt waren, hatte Aruc weder an Egom noch an Inthorm gedacht. Jetzt aber erinnerte er sich mit aller Macht an das triste und beklemmende Leben in Unterbergen für das einzig und allein Egom verantwortlich war. Er konnte nicht fassen, dass Eufe alle Qualen, die sie in Inthorm wegen Egom ausstehen musste, schon vergessen hatte. „Was, das kann doch nicht dein ernst sein?“, schrie Aruc aufgebracht und zerstörte damit die Traumidylle von Fallada, Liesli und Kali, die aufschreckten und sich mit verschlafenen Mienen zu ihnen umdrehten. „Was kann nicht ihr ernst sein?“, fragten sie im Chor. Aruc schüttelte heftig seinen wilden Lockenkopf. „Ich glaube diese Höhle tut uns nicht gut. Was machen wir überhaupt noch hier. Wir müssen weiter. Wir sind noch lange nicht vor Egom sicher.“ Eufe war inzwischen aufgestanden und stellte sich in die Mitte ihrer Freunde, die sie verständnislos anstarrten. „Könnt ihr uns bitte aufklären, was vor sich geht?“, meldete sich Fallada zu Wort. Liesli und Kali nickten zustimmend und ließen sich auf Falladas Rücken nieder, die nervös mit ihrem Schweif eingebildete Fliegen verjagte. „Ich habe Egom in Inthorm gesehen, durch das Holzrohr aus meinem Rucksack. Er war traurig und einsam und ich habe erkannt, dass alle Grausamkeiten, die er begeht, nur Hilfrerufe, nach Zuneigung und Anerkennung sind.“ Jetzt waren Fallada, Liesli und Kali an der Reihe an Eufes Verstand zu zweifeln. Wortlos starrten sie Eufe an, als ob sie sich in einen Frosch verwandelt hätte. „Hast du schon vergessen, dass er dich umbringen will, um dein Blut zu trinken?“ Aruc war dicht vor Eufe getreten und schaute ihr eindringlich in die Augen. „Er ist böse Eufe, durch und durch“. Wortlos hielt ihm Eufe das Holzrohr hin. Zögernd streckte Aruc seine Hand danach aus und hielt es sich in Augenhöhe, während ihn seine Freunde gespannt beobachteten. „Lege den Zeigefinger zuerst auf den Pfeil. Ja genau.“ Arucs Ausdruck änderte sich nach wenigen Sekunden und nach einer Weile begannen seine Mundwinkel zu beben. Eufe trat neben ihn und schob seinen Zeigefinger auf das zweite Symbol. Niemand sagte ein Wort bis Liesli sich nicht beherrschen konnte: „Ja was sieht er denn? Wieso sieht er plötzlich so traurig aus?“ Im letzten Moment konnte Kali sie davon abhalten auf Arucs Schulter zu flattern. „Psst Liesli. Lass ihn. Jetzt darf er nicht gestört werden.“ „Ich wollte mich ja nur vergewissern, dass es ihm gut geht“, rümpfte Liesli ihr Stupsnäschen, fügte sich aber gehorsam ihrem Gemahl. Es dauerte ziemlich lange bis Aruc das Holzrohr absetzte. Er entfernte sich ein paar Schritte und drehte ihnen den Rücken zu. Endlich wandte er sich um. „Ich habe nicht Egom gesehen, sondern meinen Vater. Er irrte durch die Wälder, wurde angespuckt und verjagt. Er sah so verloren und hilflos aus. Es ist genau wie Eufe es beschrieben hat. Ich konnte in ihn hineinsehen und verstehen warum er mich so lieblos und hart behandelt hat. Er begann für Egom zu arbeiten, um genügend Geld zu haben, um mich und meine Mutter ernähren zu können. Dabei hasste er seine Arbeit im Turm vom ersten Moment an. Doch als ich zur Welt kam und die Aufträge in der Schmiede immer weniger wurden, wurde seine Angst uns nicht durchzubringen so schlimm, dass er bereit war alles zu tun. Er vergewaltigte sich jeden Tag, den er im Turm verbrachte selbst und verrohte dabei. Deshalb war er so hart und lieblos zu mir. Er machte mich insgeheim verantwortlich, dass er seine Würde und Seele an Egom verkauft hat.“ Aruc schaute betreten auf seine Lederstiefel, während Eufe seine rechte Hand ergriff und innig drückte. Fallada tänzelte unruhig auf der Stelle: „Niemand ist für ds Unglück eines anderen verantwortlich. Jeder wählt für sich selbst. Auf was warten wir. Lasst uns aufbrechen!“
Eufe, Aruc, Fallada, Liesli und Kali schwebten in Begleitung von Miri zurück zum Lichtportal von Grünglüh. Bevor sie sich in den Strahlenkegel stellten, verabschiedeten sie sich von Miri, die sie von ganzem Herzen lieb gewonnen hatten. Liesli schniefte und schluchzte herzzerreißend und umarmte Miri so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. Kali klopfte ihr verschämt auf den Rücken und wischte sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augen. Freilich war nicht ganz klar, ob er trauriger über den Abschied von Miri oder den Köstlichkeiten der Grünglüher Küche war. „Wir kommen euch wieder besuchen Tantchen. Ganz bestimmt. Und wir erzählen allen wie gut es euch hier geht und wie wunderschön Grünglüh ist“, bemühte sich Liesli ihren Abschiedsschmerz durch ihre Beteuerungen zu lindern. Miri strich ihrer Nichte zärtlich über die geröteten Wangen. „Ihr seit uns immer herzlich willkommen Lieschen. Du weißt nicht was für eine Freude ihr mir gemacht habt mit eurem Besuch.“ „Pass mir gut auf mein Lieschen auf“, wandte sie sich resolut an Kali und tätschelte ihm dabei wohlwollend die Schulter. „Beim nächsten Mal koche ich für dich ein Schwammerlragout mit Heidelbeersauce, dass dir Augen und Ohren übergehen.“ Kali lief schon beim Gedanken daran das Wasser im Munde zusammen, obwohl er sich gerade eben erst an Miris Frühstückstisch reichlich das Bäuchlein vollgeschlagen hatte. Nur gut, dass sie ihnen einen großen Sack voller Reiseproviant mitgegeben hatte. Vielleicht sollte er Liesli aber doch davon überzeugen die anderen alleine weiter ziehen zu lassen, kämpfte er innerlich mit sich. Bevor er sich entscheiden konnte, ob er seine schniefende Gattin überreden sollte in Grünglüh zu bleiben, war Miri schon nacheinander auf Eufes und Arucs Schulter und auf Falladas linkes Ohr geflogen. Sie verabschiedete sich von jedem von ihnen mit einem schmatzenden feuchten Glühweiblein Kuss und hatte jetzt selbst Tränen in den Augen. Eufe, Aruc und Fallada schluckten ihren Kloß im Hals hinunter und stammelten einer nach dem anderen: „Danke, danke, danke für alles.“ Sie schauten Miri mit glasigen Augen an und hatten das Gefühl, dass ihnen noch nie ein größerer Mensch in ihrem Leben begegnet war, obwohl Miri nicht mehr maß als ein frisch geschlüpftes Kücken aus Ullrens Hühnergehege. Eufe und Aruc setzten sich auf Falladas Rücken, Liesli und Kali nahmen ihre Stammplätze auf ihren Ohren ein. Während Miri ihnen ein letztes Mal zuwinkte, war Fallada in die Mitte des Lichtkegels geschwebt. Die Stute begann einen Huf vor den anderen zu setzen bis sie wieder festen Boden spürte und Grünglüh hinter ihnen lag. Benommen schauten sie sich gegenseitig an, ohne etwas zu sagen. Aruc ergriff als erster das Wort: „Na und, was hat Miri zu euch gesagt? Wo geht´s jetzt weiter? Wie kommen wir aus den Höhlen?“, wandte er sich erwartungsvoll an Liesli und Kali. „Eh...mmmm...hmmmmm...mmmmmmm“, druckste Kali herum. Liesli klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Du kannst doch nichts dafür Liebster.“ Kali setzte erneut zu sprechen an: „Hmmmmm...ja..Miri meinte, dass jeder seinen eigenen Weg durch die Höhle finden muss.“ Vor ihnen lag der verschlungene Pfad, der sie nach stundenlangem Bergaufwandern nach Grünglüh gebracht hatte. „Das heißt also wir sind genauso schlau wie vor unserem Abstecher nach Grünglüh“, stellte Aruc resigniert fest. „Nein das sind wir nicht“, unterbrach ihn Eufe heftig. „Wie kannst du nur so etwas behaupten Aruc. Hast du schon vergessen wieviel wir von Miri und ihren Freunden gelernt haben?“ Eufe war entsetzt über Arucs Undankbarkeit. „Haben wir nicht gelernt, dass wir keine Angst zu haben brauchen vor nichts und niemandem, weil es reicht offen zu sein, um neue Freunde zu gewinnen und unsere Feinde im Grunde nur sich selbst verfolgen?“ Fallada schaute sie anerkennend an: „Das hast du schön gesagt Blümchen. Ullren wäre sehr stolz auf dich jetzt“. Liesli begann erneut zu schluchzen: „Wenn das Miri gehört hätte. Sie wäre...sosoooo glücklilichhhh“. Kali tupfte seiner schniefenden Gattin die Tränen fürsorglich von den Wangen. „Ist doch gut Lieslilein mein Engel. Sei nicht traurig. Wir besuchen sie doch wieder.“ Aruc rieb sich mit dem rechten Zeigefinger verschämt über die Nase und räusperte sich: „Hmmhmmmm, eh ich glaube ich war ganz schön blöd eben. Entschuldigt, ich habe mal wieder meinen Mund aufgerissen, ohne vorher darüber nachzudenken. Danke, dass du mich erinnert hast an alles, was wir aus Grünglüh mitgenommen haben und was uns niemand mehr wegnehmen kann.“ Eufe lachte ihn strahlend an. „Jetzt wäre Ullren sehr, sehr stolz auf dich Aruc.“ Im Stillen dachte sie, dass Ullren ihren Sohn kaum noch wiedererkennen würde. Er war gewachsen, Arme und Beine waren kräftiger geworden, sein Rücken breiter. Seine ganze Haltung war anders, irgendwie stolzer. Früher war ihr oft aufgefallen, dass Aruc etwas gebeugt ging. Jetzt war sein Gang aufrecht und sicher. Ob ihm an ihr wohl auch eine Veränderung auffiel? Es war ihr peinlich ihm diese Frage zu stellen, stattdessen erkundigte sie sich: „Was meint ihr? Sollen wir den Weg zurückgehen, auf dem wir hergekommen sind?“ „Dann kommen wir wieder nach Immergold“, stellte Fallada nüchtern fest. „Nein, es muss einen anderen Weg geben“, überlegte Aruc laut. „Ihr habt doch diese Dinger in euren Rucksäcken, diese Überraschungen. Vielleicht finden wir dort die Lösung.“ „Du hast recht Liesli. Bisher haben wir immer etwas in unseren Rucksäcken gefunden, dass uns weitergeholfen hat“. Eufe stellte ihren Rucksack auf dem Boden ab. Vorsichtig holte sie einen Gegenstand nach dem anderen aus der Innentasche. Die Kerze hatte die Kormoraner in die Flucht geschlagen, das Holzrohr hatte ihnen die Hintergründe ihrer Flucht gezeigt, die Kette mit dem Medallion trug sie an ihrer Fessel. Blieben also nur der weißgesprenkelte Rosenquarz und der schillernde Schmetterlingsflügel übrig. Aruc hatte die gleiche Inspektion in seinem Rucksack vorgenommen und starrte mit gerunzelter Stirn auf den Kieselstein und die Adlerfeder. „Und jetzt?“, wandte er sich ratlos an Eufe. Kaum hatte er seine Frage ausgesprochen spürten sie eine Windböe, die an ihren Kleidern zerrte und den Flügel und die Feder durch die Luft wirbelten, bis sie langsam vor ihren Füßen nieder segelten. Aruc schaffte es gerade noch sie aufzuheben und den Schmetterlingsflügel an Eufe zurückzugeben als eine zweite stärkere Windböe über sie hinwegfegte. Fast hätte es Kali und Liesli erwischt und gegen die Felswand geschleudert, wäre Fallada nicht dazwischen gesprungen und hätte sie aufgefangen. „Zackdipack. Das ist aber ein Sturm“, war alles was den Untersberger Glühmandln einfiel, so geplättet waren sie. Eufe und Aruc beeilten sich die Rucksäcke einzupacken, als sie die dritte Böe erreichte und auf den Boden warf. Fallada stemmte sich mit aller Kraft gegen den Wind und stellte sich schützend vor Eufe und Aruc. Mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen brach die vierte Windwoge über sie herein, diesmal mit der Stärke eines Orkans. Ohne zu wissen wie ihnen geschah, wurden sie in einen Luftstrudel hinein gesogen und so lange im Kreis herum gewirbelt bis sie die Besinnung verloren.
Das Leben in Walden
Ullren saß zwischen Jalam und Lovan auf Antars flaumigen Rücken. Wie ein Segelschiff, dass bei günstigem Wind neuen Ufern entgegensteuerte, pflügte der Adler mit seinen großen Flügeln in kräftigen Schlägen durch die Luft. Sie starrte gebannt auf die Landschaft unter ihnen. Aus der Höhe sahen die Bauernhäuser und Scheunen aus wie geschnitzes Kinderspielzeug. Je weiter sie sich von Steinern entfernten umso karger wurde die Umgebung. Erschüttert blickte Ullren auf nackte Flächen auf denen sich vor Egoms Herrschaft so weit das Auge reichte, Wälder ausgebreitet hatten. Jetzt war ein Großteil von Unterbergen verödet und kahl. Dafür klafften die Baugruben seiner Mineralbergwerke wie schwarze Löcher aus dem Boden, aus denen Sklaven herauskrochen. Wohin hatte sie ihre Kinder nur geschickt? Hatte sie sich geirrt? Gab es doch nichts außer der Trostlosigkeit von Unterbergen, die sie hinter den Höhlen erwartete? Lovan spürte Ullrens Traurigkeit und begann zu singen, während sie ihr sanft über den Rücken streichelte.
Kein schöner Land mit seinen Seen und Bäumen, mit seinen Blumen, Pflanzen, Tieren und Träumen.
Ullren schloss die Augen. Lovans Gesang berührte sie tief in ihrem Herzen, so wie heilender Balsam auf einer frischen Wunde.
Wir singen, um dich zu loben.
Wir tanzen, wir schöpfen und pflanzen.
Walden, Walden, Walden.
Als Lovan geendet hatte, öffnete Ullren die Augen und blinzelte gegen den Flugwind. Unter ihnen tat sich ein Meer aus wogenden Baumwipfeln auf, in denen eine tanzende Stadt schwebte.
„Das ist...wo sind... wie...“. Ullren brach ab. Abermals flossen heiße Tränen über ihre blassen Wangen. Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hatte sie sich solche Pracht und Schönheit ausgemalt. Andächtig faltete sie die Hände. Sie hatte sich also doch nicht geirrt. Ihre Kinder waren auf dem Weg in ein Paradies.
„Das ist Walden Ullren. Hier bist du in Sicherheit und kannst wieder zu Kräften kommen. Jalam und ich werden Eufe, Aruc und Fallada suchen und mit nach Walden bringen.“ Antar hatte inzwischen zur Landung im Astrum angesetzt. Eine Schar jubelnder Baumsänger, die sie schon von Weitem hatten kommen sehen, begrüßten sie überschwenglich. „Unsere Hathore ist zurück. Lovan ist wieder da. Sie hat Besuch mitgebracht.“ Lovan half der immer noch sehr geschwächten Ullren von Antars Rücken. Jalam rührte sich nicht von der Stelle. „Willst du nicht Ivy und Duir begrüßen? Ich werde Ullren bei ihnen unterbringen. Ihr Sohn Sun ist schon fast so groß und stark wie du. Erinnerst du dich an ihn? Er war damals noch ein Baby. Sun hat jetzt auch eine Schwester, Blumai. Sie ist die schönste Baumsängerinnenmaid aus ganz Walden.“ „Wenn sie so schön ist wie ihre Nichte, dann glaub ich es gerne“. Jalams Gesichtsausdruck, der sich verdüstert hatte, seit sie in die Nähe von Walden gelangt waren, entspannte sich zu einem Lächeln. „Sie würden sich bestimmt sehr freuen dich zu sehen Jalam.“ „Ein ander Mal Lovan. Bestelle ihnen meine besten Grüße. Ich werde mit Antar nach Kelt fliegen. Ich muss noch ein paar Sachen dort erledigen. Im Morgengrauen sind wir zurück und holen dich hier ab.“ Bevor Lovan noch etwas erwidern konnte, breitete Antar seine Flügel aus und flog mit Jalam davon. Sie zogen einen Kreis über dem Astrum, Jalam winkte ihnen noch einmal zu und binnen weniger Minuten waren sie aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Lovan bemühte sich ihre Enttäuschung zu verbergen und umfasste Ullren fürsorglich um die Taille, um sie zu stützen. Obwohl sie dabei lächelte hatte Ullren bemerkt mit welch traurigem Blick sie Jalam nachgeschaut hatte. „Er liebt dich sehr Lovan.“ Die Baumsängerin schaute erstaunt in Ullrens aufrichtige Augen und errötete bis in die Haarspitzen. „Jetzt bringe ich dich zu Ivy und Duir. Ivy ist meine Tante und Duir ihr Mann, mein Onkel. Beide sind fantastische Menschen. Du wirst dich wohl bei ihnen fühlen. Und wenn du erst Sun und Blumai kennengelernt hast, wirst du nie mehr hier fortwollen“, schwärmte sie Ullren vor und hoffte damit von ihrem wunden Punkt abzulenken, den ihre Begegnung mit Jalam bloß gelegt hatte. Jalam und sie waren kein Paar mehr, seit vierzehn Jahren und so sollte es auch bleiben. Zwar spürte sie, dass er noch starke Gefühle für sie hatte, ebenso wie sie selbst für ihn, doch war seine Angst und seine Schuldgefühle ihr gegenüber, größer als alles was sie verband. Und sie selbst konnte und wollte nicht noch ein zweites Mal um ihn leiden. Ihre Aufgabe war es jetzt den Waldenern eine gute Hathore zu sein, die Jungfrau zu finden und Egom aufzuhalten, bevor es zu spät war und er einen Pakt mit der schwarzen Sonne geschlossen hatte.
Obwohl Ullren nur schweren Herzens Lovan und Jalam ziehen ließ, war sie zu geschwächt, um mit ihnen nach Eufe, Aruc und Fallada in den Höhlen zu suchen. So sehr sie es danach verlangte, wusste Ullren, dass sie in ihrem Zustand eher eine Last, denn Hilfe gewesen wäre. Beim Abschied hatte Lovan sie umarmt und versichert: „Du kannst dich auf mich und Jalam verlassen. Wir bringen sie heil nach Walden.“ Wenige Tage waren seither vergangen und durch die liebevolle Pflege von Lovans Tante Ivy und ihrer Familie war Ullren fast vollständig genesen. Sie hätte sich keinen schöneren Platz auf Erden vorstellen können als Walden. Wäre nicht die Sorge um ihre Kinder und um Fallada gewesen, dann hätte sie glücklicher nicht sein können. Zu ihrem eigenen Erstaunen vermisste sie selbst Brac und fragte sich, wo er jetzt sein mochte. Obwohl es noch nicht hell geworden war, erhob sich Ullren von der Grasmatte, auf der sie in den vergangenen Tagen fast pausenlos geschlafen hatte. Ivy hatte ihr erklärt, dass Kräuter darin halfen das Gift in ihrem Körper zu neutralisieren. Auf einer viereckigen Veranda vor ihrem Zimmer war ein rundes Becken eingelassen, in dem Regen- und Tauwasser aufgefangen wurde. Ivy fügte dem Wasser täglich ein paar Tropfen ätherischer Öle hinzu und hatte Ullren empfohlen, sich jeden Morgen darin zu baden. Durch das dichte Blattgewölbe über ihr, konnte Ullren den langsam verblassenden Mond sehen als sie sich in das Becken gleiten ließ. Das Wasser war angewärmt durch einen Sonnenreflektor, der die Hitze des Tages gespeichert hatte und über Kupferplatten an den Boden des Beckens weitergab. Ullren atmete die Dämpfe der Öle tief ein. Langsam wurde es hell. Die Vögel begannen zu zwitschern und eine sanfte Brise bewegte die Blätter über ihr. Plötzlich vernahm sie Worte, die sich aus dem Rauschen formten: „Hab Vertrauen Schwester. Eufe, Aruc und Fallada sind in Sicherheit.“ Ullren hielt den Atem an. Es gab keinen Zweifel. Der Baum hatte mit ihr gesprochen. Das Privileg der Baumsänger war ihr zuteil geworden. Voll Dankbarkeit legte sie beide Handflächen vor ihrer Brust aufeinander und verneigte sich tief, bis sie mit der Stirn die Wasseroberbläche berührte. „Ich danke dir, danke.“ Augenblicklich fühlte Ullren sich erfrischt und zuversichtlich. Nach dem Bad trocknete sie sich mit einem weichen Tuch aus geklopftem Moosgarn ab. Danach schlüpfte sie in ein kurzes Wickelkleid aus sonnengelber Kastanienseide, dass ihre schlanke Figur und ihre, vom Reiten gestählten, Beine zur Geltung brachte. Ivy hatte es ihr geschenkt zusammen mit einem paar fein gearbeiteter Schnürsandalen aus Kautschukleder. Sie waren von einem hellen Braun und hatten bunte Bänder, die sie mehrfach um ihre Knöchel schlang. Kaum hatte sie sich fertig angekleidet als es an der Tür ihres Zimmers klopfte. „Ullren willst du mit uns zur Morgenstille kommen?“ erkundigte sich Ivy. Ullren öffnete die Tür: „Oh ja gerne Ivy. Ich bin euch so dankbar für alles. Das ich bei euch sein darf und ihr euch so herzlich um mich kümmert.“ „Wie schön, dich so strahlend und wohlauf zu sehen Ullren. Und wie gut dir das Kleid steht. Es ist uns allen eine Freude dich bei uns zu haben. Du wirst sehen wie gut dir die Morgenstille tun wird. Es ist Sitte bei uns bevor wir den Tag beginnen einen Besuch im Astrum zu machen und den Segen Ygdars zu erbitten.“ Ivy umarmte Ullren innig. Duir, Sun und Blumai warteten bereits auf sie. „Wie schön du bist Ullren“, entfuhr es Blumai, die sich vertraulich bei ihr einhängte. Duir und Sun grinsten anerkennend. Ivy trat zwischen ihren Mann und ihren Sohn und legte je einen Arm um ihre Schultern. Sie lachten sich gegenseitig an. Duir beugte sich über seine Frau und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Beide schienen die Gegenwart Ullrens und ihrer Kinder vergessen zu haben. Blumai, die mit ihren rotblonden Locken, auf denen sie einen weißen Kranz aus Gänseblümchen trug wie eine Waldfee aussah, zwinkerte ihrem Bruder zu. Zum ersten Mal erfuhr Ullren was es bedeutete eine Familie zu sein, die in Liebe, Dankbarkeit und gegenseitigem Vertrauen miteinander verbunden war. Trotz der frühen Morgenstunde begegneten ihnen Scharen von Baumsängern, die ebenso wie sie auf dem Weg ins Astrum waren, um dort den neuen Tag zu begrüßen. Die Waldener brauchten nicht viel Schlaf und hatten es sich angewöhnt im Morgengrauen aufzustehen, ein Bad in ihren Freiluftwannen zu nehmen und sich anschließend zu einer gemeinsamen Meditation zu versammeln. Was auch immer sie bewegte oder besorgte, brachten sie in diesen Momenten im Stillen der Weisheit ihres göttlichen Vaters und ihrer Mutter dar. Bevor sie auseinander gingen sangen sie gemeinsam das Lied der Bäume:
Ihr seit unsere Säulen, die uns tragen. Ihr seit unsere Lehrer, die uns weisen. Ihr seit unsere Dächer, die uns schützen. Ihr seit unsere Brüder und Schwestern. Ihr seit Teil von uns. Wir sind Teil von Euch. Gott ist in dir und mir. Gott ist die Natur.
Ullren war von der Zeremonie tief ergriffen. Sie war vor Ygdars mächtigen Wurzeln niedergekniet und hatte die Augen geschlossen. Sie hatte nicht bemerkt, dass alle anderen Baumsänger bereits gegangen waren. Auch Duir und Ivy hatten sich flüsternd von Sun und Blumai verabschiedet und sie gebeten auf Ullren zu warten und sie durch Walden zu führen. Ullren hörte die Stimme Ygdars, die zu ihr sprach: „Dein Platz ist hier bei uns Ullren“, hörte sie seine Blätter raunen. „Wir haben seit langem auf dich gewartet. Du bist nach Hause gekommen.“ Ullren merkte erst das sie weinte, als ihr die Tränen auf die Hände tropften, die sie in ihrem Schoß gefaltet hatte. Sun und Blumai waren neben ihr niedergekniet und warteten still bis Ullren ihre Augen öffnete. Ohne ihr Fragen zu stellen, richtete sich Sun auf und reichte ihr die Hand: „Komm wir bringen dich ins Canticum. Dort wird es dir gefallen.“ Auch Blumai war aufgestanden und ergriff ihre freie Hand. Obwohl Ullren glaubte, dass es keine Steigerung geben konnte für die Schönheit, die sie in Walden bereits erfahren hatte, war sie nicht vorbereitet gewesen auf den Anblick, der sich ihr bot. Das Canticum war ein Tempel dessen Wände aus blühenden Büschen und Sträuchern bestand, die sich etwa 20 Meter hoch über ihnen in den Himmel wölbten. Statt Bänken gab es samtige Grasterrassen, die durch das einfallende Sonnenlicht gewärmt waren. Für die Besucher lagen breite Tücher bereit, die mit fein gewebten Mustern verziert waren. Es war jedem freigestellt, ob er sich setzen oder hinlegen wollte, um in die ausladenden Baumkronen zu blicken in denen die Sonnenstrahlen Mosaike zeichneten, um der Musik zu lauschen. Schillernde Paradiesvögel saßen in den Ästen und tirilierten. Eine dreifache Fontäne sprudelte ihre Wasserperlen in die Luft, die plätschernd in einem aus Harz und Leim gebrannten Zierbrunnen aufgefangen wurden. An seinen Rändern standen drei Frauen in fließenden Tunikas aus Lichtnelken violett gefärbtem Seidenhalm. Sie hatten rote Blumenkränze auf dem Kopf und um die Taille Gürtel aus Eufeblättern. „Das sind unsere Canticas“, erklärte Sun ihr flüsternd. Die Baumsängerinnen entlockten ihren Kehlen Töne, die Ullren das Gefühl gaben, das Portal der Himmelspforte durchschritten zu haben. In Worten war diese Musik nicht zu beschreiben. „Sie haben die Gabe durch ihren Gesang dich Gott in deinem Inneren erkennen zu lassen“. Sun und Blumai ließen sich zu ihrer Rechten und Linken auf einem roten Tuch im Gras nieder und schlossen die Augen. Ullren tat es ihnen gleich. Sie fühlte die Musik in ihrem Körper, in ihrem Geist, in ihre Seele dringen. Sie konnte an nichts denken nur die Vibration der Töne in sich spüren. Jeglichem Zeitgefühl beraubt, wusste sie nicht wie lange sie in diesem Zustand zugebracht hatte, als Blumai sie von der Seite anstupste und flüsterte: „Ullren, lass uns gehen. Es gibt noch so viel zu sehen.“ Sun grinste verschmitzt als er Ullrens verdutzte Miene bemerkte, die aussah, als ob sie ihren eigenen Namen nicht mehr wusste. „Beim ersten Mal geht es jedem so. Blumai hat recht wir sollten weiter und dir den Rest zeigen. Wenn wir uns beeilen, können wir noch die Vorlesung meines Vaters im Werden mitbekommen. Er hat mehrere Bücher über die Philosophie der Simplicität verfasst, die heute Grundlage der Lebensweise in Walden ist.“ Obwohl Sun flüsterte, konnte Ullren den Stolz in seiner Stimme hören mit dem er über seinen Vater sprach. Ullren setzte sich benommen auf und lächelte die beiden wie in Trance an: „Ja, ja natürlich...“, stotternd kam sie auf die Beine und wäre fast wieder umgefallen, hätte Sun sie nicht aufgefangen. „Wo soll es denn hingehen so schnell. Er stützte sie, bis sie wieder Herrschaft über ihren Körper gewonnen hatte und zeigte seine makellosen, weissen Zähne als er Ullren strahlend anlachte. Sun war ein schöner Jüngling. Groß, stark und von eleganter Proportion. Seine Augen glitzerten wie aquamaringrüne Teiche im warmen Sonnenlicht. Blumai sprang ihnen munter voraus. Sie war überglücklich, dass ihre Eltern sie mit der Aufgabe betraut hatten Ullren gemeinsam mit Sun in Walden herum zu führen. Vor lauter Begeisterung rannte sie fast eine Baumsängerin um, die sich anschickte ins Gras zu legen. Das Mädchen entschuldigte sich mit einem fröhlichen Lachen und einem grazilen Knicks und die Waldenerin streichelte ihr freundlich über den Kopf. Unbewusst verglich Ullren die feinen Umgangsformen in Walden mit den rauhen Sitten in Steinern. Die beiden Städte waren das exakte Gegenteil voneinander. Wo in Walden Freiheit und Freude herrschte, regierte in Steinern Angst und Unterdrückung.
Das Seminarium Werden war, neben dem Canticum und dem Astrum, der meist besuchte Platz in Walden. Hierher strömten die Baumsänger aller Altersgruppen während 24 Stunden zu Vorlesungen und praktischem Unterricht. Nachts war es mit großen Strahlern beleuchtet, die tagsüber mit Sonnenenergie gespeist wurden und durch Magnetreflektoren Tageslicht erzeugten. Werden nahm die gesamte Fläche einer gigantischen Mammutbaumkrone einnahm. Außer den zahlreichen Unterrichtslauben, die von blühenden Sträuchern überdacht waren, gab es eine große Bibliothek und Studierhalle. Dort konnten die Waldener sich aus tausenden von Büchern und Manuskripten über jedes beliebige Thema ihres Interesses informieren. An dem Baumstamm, der die Bibliothek wie eine Marmorsäule stützte, war ein Aushang mit dem aktuellen Lehrplan angebracht. Ullren begann überwältigt zu lesen: Telepathie, Philosophie, Wunscherfüllung, Astrologie,Formplasmierung, Pflanzenkunde, Alchemie, Metaphysik, Bauwesen, .... Die Liste schien kein Ende zu nehmen. „Im Seminarium werden nur die allgemeinen Fächer gelehrt, der gesamte Musik, Tanz, Mal-, Näh- und Akrobatikunterricht sowie die Anfertigung von Instrumenten und Möbeln konzentriert sich in den Werkstätten des Canticum“ , erklärte Blumai ihr beflissen, so als ob es das selbstverständlichste der Welt wäre. „In Werden sammeln wir seit Jahrtausenden unser Wissen“, fügte Sun hinzu und amüsierte sich arglos über die staunende Ullren. „Jede dieser Schriften haben sich von selbst materialisiert, ohne unser Zutun.“ Ullren hatte noch nie in ihrem Leben so viele Bücher auf einmal gesehen. Das ganze Seminarium, der Lehrplan, ganz Walden war mehr als Ullren mit ihrem Verstand fassen konnte. Schließlich hatte sie bisher nichts weiter kennengelernt als den tristen Hof ihres Vaters, den sie später mit den bedrückenden Mauern von Inthorm eingetauscht hatte. Ullren war überfordert von all den neuen Eindrücken. Obwohl es ihr schon im gleichen Moment leid tat, antwortete sie gereizt: „Das ist doch Humbug. Wie sollen sich denn Bücher von selbst materialisieren?“ „Nein das ist ganz einfach Ullren“, mischte sich Blumai ein. „Wir denken uns alles was wir uns wünschen in die materielle Form. Dadurch verdichten sich die Gedanken zu Materie, die du sehen und angreifen kannst.“ „Ullren war noch verwirrter als zuvor. „Heißt das, eure Häuser, das Canticum, das Astrum, ganz Walden ist so entstanden?“ Sun und Blaumai nickten. „Aber warum lernt ihr dann Häuser und Brücken zu bauen, wenn der Gedanke daran schon ausreicht, um sie entstehen zu lassen?“ „Weil es uns Freude bereitet mit den Händen zu arbeiten“, erklärte Sun ihr und lächelte. Dabei zeigten sich zwei charmante Grübchen an seinem Kinn. „Wir haben herausgefunden, dass es Spaß macht sich für etwas einzusetzen, es zu planen und dann Schritt für Schritt auszuführen.“ „Es ist doch langweilig, wenn man den Entstehungsprozeß überspringt“, unterstützte Blumai ihren Bruder eifrig. Ullren war schwindelig. Sie hatte das Gefühl zu träumen. Wahrscheinlich würde sie jeden Moment im Kerker von Inthorm aufwachen. „Komm wir setzen uns in die Vorlesung von Vater“. Blumai ergriff vertraulich ihre Hand. Sun hängte sich bei ihr ein und bevor Ullren etwas erwidern konnte hatten sie sie bereits in eine der Studierlauben gezogen. Die Vorlesung war gepackt voll mit Baumsängern, die gebannt an Duirs Lippen hingen. Als er sie eintreten sah, zwinkerte er ihnen vertraulich zu, ohne seine Vorlesung zu unterbrechen. „Wie definiere ich Simplicität oder Einfachheit? Es ist ein Synonym für natürlich, leicht, selbstverständlich, pur. Einfach bedarf keiner Anstrengung, keiner Verstellung oder Maske. Einfach beschreibt die Essenz des Seins, die weder etwas zu gewinnen, noch zu verlieren hat. Einfach sein gehört zu unseren größten Herausforderungen. Es fällt uns oft so viel leichter Dinge zu verkomplizieren. Die wahre Kunst ist es einfach zu sein. Ein-fach, bedeutet Trennung zu überwinden. Aus verschiedenem ein Ganzes zu machen. Alles ist verbunden miteinander, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Einfach sein bedeutet uns dieser Verbindung bewusst zu werden und die Lebensenergie ohne Blockaden fließen zu lassen.“ Duir hielt im Reden inne und richtete sich direkt an Ullren. „Wir haben einen lieben Gast unter uns, der noch nicht vertraut ist mit einigen unserer Wortbezeichnungen. Erlaubt mir Ullren kurz zu erklären, was wir unter Lebensenergie verstehen.“ Ullren spürte wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Es war ihr peinlich, dass Duir ihretwegen die Unterrichsstunde unterbrach, nur um ihr ein Wort zu erklären, dass für den Rest der Zuhörer geläufig schien. Duir lächelte sie freundlich an und fuhr fort: „Mit Lebensenergie bezeichnen wir Lichtschwingungen. Sie senden Botschaften an unser Gehirn, die sich in Form von Impulsen aussdrücken und uns veranlassen bestimmte Handlungen zu unternehmen.“ Wieder an alle gewandt: „Einfach leben, heißt schlicht offen sein für die Lebensenergie, die uns ununterbrochen in Übermaß geschenkt wird und ihrem Rythmus zu folgen.“ Ullren hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet. Sie wiederholte im Stillen: „Einfach leben, heißt offen sein für die Lebensenergie, die uns ununterbrochen in Übermaß geschenkt wird und ihrem Rythmus zu folgen.“ Was sie selbst immer instinktiv gespürt hatte, war von Duir in Worte gefasst worden. Ullren begriff mit ihrem Verstand plötzlich was ihr Herz immer wusste. Sie verstand wie und warum sie die Kraft finden konnte ihre Kinder aus dem Turm zu befreien. Duir war in der Studierlaube auf und ab gewandert und blieb vor ihr stehen: „So stellt sich die Frage: Wie werden wir einfach?“
Spontan antwortete Ullren laut: „Indem wir uns selbst vertrauen.“ Die restlichen Zuhörer klatschten begeistert Beifall, während Duir sich anerkennend vor Ullren verbeugte. „Ich hätte es nicht besser auf den Punkt bringen können.“
Der Weg
Genau zurselben Zeit wanderte Urs auf einem freien Feldweg unter Aldas Führung. Er hatte den dunklen Wald hinter sich gelassen und schritt kräftig aus. Von Zeit zu Zeit setzte sich Alda auf seinen Kopf und ließ sich auf seinen dichten kastanienbraunen Locken wiegen. „Wohin führst du mich Alda?“ „Es ist noch zu früh, es dir zu sagen Urs.“ „Ist es noch weit?“ Urs hatte sich dem Schmetterling anvertraut wie ein kleiner neugieriger Junge, dem das Gehen lang wurde. „Ja und nein“. „Wie meinst du das ja und nein? Ist es nun weit oder nicht?“ „Das kommt ganz darauf an, was du unter weit verstehst.“ Urs war verdutzt und antwortete: „Weit ist für mich eine Wanderschaft, die mindestens ein paar Tage dauert.“ „Dann ist es gut möglich, dass es noch weit ist.“ Alda breitete ihre leuchtenden goldgelben Flügel aus und flog in hohem Bogen mitten ins Gras. Grazil schwebte sie von einer Blüte zur nächsten bis sie zu Urs zurückkehrte und vor seinem Gesicht auf und ab tänzelte. „Wir könnten aber auch heute schon ankommen?“ Urs Stirn legte sich in Falten. „Wie jetzt das? Du hast doch eben gesagt, dass es wahrscheinlich noch mehrere Tage dauert “ „Nein, das hast du gesagt.“ „Ich habe zwar die Erinnerung verloren wer ich bin, aber ich weiß doch, was ich gesagt habe.“ Urs biss sich ärgerlich auf die Oberlippe. Alda tänzelte noch immer um ihn herum. „Wenn du die Antwort auf dieses Rätsel herausfindest, dann sind wir da.“ Urs fühlte sich hintergangen und zog es vor nicht mehr mit Alda zu sprechen. Verstockt ging er weiter und kümmerte sich nicht mehr um den Schmetterling. Nach einiger Zeit begann der Weg eine scharfe Biegung zu machen. Dahinter ging es steil bergauf. Verbissen und schwitzend wanderte Urs schwerfällig weiter. Er sah weder die blühenden Holunderbüsche um ihn herum, noch die Kastanienalleen, die sich zu seiner rechten und linken idyllisch erhoben. Er wollte einfach nur so schnell wie möglich irgendwo ankommen, selbst wenn er nicht wusste wo. Nachdem er sich zwei Stunden wortlos Schritt für Schritt die Ansteigung hinaufgekämpft hatte, konnte er es sich doch nicht verbeißen Alda mürrisch zu fragen: „Wieso musstest du ausgerechnet diesen Weg aussuchen?“. „Weil es der Schnellste ist. Du willst doch so schnell wie möglich ankommen oder?“ „Du sagst mir ja nicht einmal wo wir hingehen“. Urs war atemlos stehen geblieben und versuchte herauszufinden, wo sie der Weg hinführte. So weit sein Auge reichte, schlängelte sich der Pfad zügig die Anhöhe hinhauf. „Wo wir ankommen hängt von dir ab“. Alda hatte sich auf seine linke Schulter gesetzt und strich ihm mit ihren Flügeln sanft über die verschwitzten Wangen. Urs atmete noch immer schwer und versuchte sich den Schweiß abzuwischen, der ihm in den Augen brannte. „Es hängt von mir ab wann und wo wir ankommen, obwohl du den Weg ausgesucht hast?“ Seine Stimme verriet tiefste Empörung. „Genauso ist es Urs“. “Und wenn ich lieber einen anderen Weg gehen möchte, der nicht so steil ist?“ Alda saß jetzt ganz still auf Urs Schulter. „Das ist deine Entscheidung, aber ich kann deine Gefährtin nur auf diesem Weg sein.“ Eingeschnappt ging Urs weiter und ließ Alda links liegen. Sollte sie sich doch einen anderen Hanswurst suchen. Obwohl er gute Lust hatte diesem Schmetterling zu beweisen, dass er ihn keineswegs brauchte und bestens alleine zurecht kam, konnte er sich trotzdem nicht dazu überwinden umzukehren. Irgendetwas hielt ihn auf. Es schien so als ob ihn unsichtbare Fäden den Berg hinaufzogen. Alda flog in einigem Abstand voraus und richtete kein weiteres Wort mehr an ihn. Die Stunden vergingen und nichts veränderte sich. Der Feldweg stieg weiter an. Einige Male blieb Urs stehen, um zu verschnaufen. Erst jetzt bemerkte er die Einzigartigkeit der Umgebung. Immer noch säumten beide Seiten des Pfades ein Kastanienspalier, die ihre dreigezackten Blätter wie Fächer im Wind wehen ließen und, der sie mitten durch eine prachtvolle Blumenwiese führte. Urs schaute zu den rauschenden Baumkronen empor. Obwohl er nicht wusste woher er kam und wohin er ging, hatte er mit einem Mal das Gefühl, dass er noch nie so richtig am Platz war wie hier. Die Blätter im Wind schienen ihm zuzuraunen: „Humhuhum,huhuhumhumhum...geh einfach weiter und du wirst sehen, alles hat seinen Sinn.“ Noch vor Kurzem hatte er kaum auftreten können, gepeinigt von seinen wunden Füßen, missmutig und gereizt durch Hunger und Durst. Mit einem Mal fühlte er sich leicht. Die Abenddämmerung war fast hereingebrochen und die Schwüle des heißen Juninachmittags hatte einer frischen Brise Platz gemacht. Die Grillen begannen mit ihrem Abendkonzert. Urs setzte sich still unter einen Kastanienbaum, lehnte sich an den noch sonnengewärmten Stamm. Er sog den süßen Duft von Harz und Kleeblumensirup in sich hinein und schloss die Augen. Binnen Sekunden versank er in einen tiefen Schlaf. Er träumte, dass er die Spitze eines Berges erklimmen wollte. Kurz bevor er oben anlangte, stellte er sich vor, wie er über das weite Tal schauen würde. Voller Erwartung rannte er die letzten Meter. Außer Atem, das Herz gegen seine Rippen hämmernd, dass es schmerzte, tat sich unter ihm ein endloses, blaues, in der Sonne gleißendes Meer auf. Fast wäre Urs hingefallen, so sehr übermannte ihn der Anblick des Wassers. Die Oberfläche war ruhig und ein wolkenloser Himmel spiegelte sich darin. Er stand einfach nur da und konnte nicht genug davon bekommen auf die blaue glatte Fläche zu schauen. Am Horizont machte er zwei Punkte aus, die sich bewegten und auf ihn zu kamen. Es mussten zwei Schwimmer sein. Eine unbändige Lust überkam ihn zu diesem Ozean zu gelangen. So sehr er sich jedoch bemühte, konnte er nicht den geringsten Pfad entdecken, der zum Wasser führte. Ihm wurde schwindelig und er sank langsam in die Knie bis sein Kopf auf die Erde fiel und ihm schwarz vor Augen wurde.
„Urs, Urs wach auf...“. Alda saß auf seiner rechten Schulter und streichelte seine Wangen mit ihren Flügeln. „Wo, wo bin ich? Wo ist das Meer? Ich muss doch zum Meer hinunter?“ „Du bist eingeschlafen Urs. Du hast die ganze Nacht an den Baum gelehnt geschlafen. Sieh nur die Sonne geht bereits auf.“
Urs richtete sich halb auf. Seine Wirbelsäule schmerzte so sehr, dass er das Gefühl hatte, sie würde jeden Moment in der Mitte auseinanderbrechen. Er rieb sich die Augen. In Bruchstücken kam seine Erinnerung langsam zurück. Zumindest sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte noch. Es lag noch ein gehöriges Stück Weg vor ihm. „Lass uns aufbrechen Alda.“
Alda war vorausgeflogen und Urs folgte ihr. Egal wie lange er noch bergauf gehen musste, er vertraute seinem Traum. Er hatte das Gefühl, dass etwas Wichtiges ihn auf der Spitze des Berges erwartete. Alda tänzelte vor ihm in den Strahlen der Mittagssonne, die ihren höchsten Stand im Zenit erreicht hatte. Schweißperlen tropften Urs von der Stirn und rannen ihm an Schläfen und Hals hinunter. Sein Mund war trocken und verklebt. Sein Durst war mörderisch. Er hatte zum letzten Mal aus dem Bach vor der Höhle getrunken. Das war bereits zwei Tage her, doch weit und breit gab es keine Quelle zu sehen. Nicht das geringste Anzeichen von Wasser. Sein Durst wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Er hätte einen ganzen See austrinken können. Als er es nicht mehr aushielt blieb er schwankend stehen und rief: „Alda warte auf mich. Ich brauche Wasser. Ich halte diesen Durst nicht mehr aus.“ Alda war sofort an seiner Seite. „Warum hast du das nicht gleich gesagt. Hier gibt es kein Wasser. Wir werden einen Umweg machen müssen, um zum nächsten Bach zu gelangen.“ „Umweg? Wieso Umweg? Ich will keinen Umweg machen. Ich möchte so schnell wie möglich auf die Bergspitze kommen“, antwortete ihr Urs aufgebracht. „Es tut mir leid Urs, aber wir werden diesen Umweg machen müssen. Es ist der einzige Bach weit und breit.“ Die Sonne brannte auf Urs Kopf. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und nickte resigniert: „Gut, dann machen wir eben den Umweg.“ Alda setzte sich auf seine Schulter und dirigierte ihn: „Geh querfeldein über die Wiese.“ Urs schleppte sich weiter. Wenigstens machte der Weg keine Steigung mehr, sondern ging sogar etwas bergab. Trotzdem kam er nur langsam voran, weil das Gras auf dem Feld hoch stand. Urs watete mehr als er ging. Alda war ihm wieder vorausgeflogen und tänzelte zwischen den gelben Butterblumen, die überall auf der Wiese wuchsen. Ab und zu flog sie zu Urs zurück und vergewisserte sich, dass er noch weitergehen konnte. Obwohl Urs strauchelte und jämmerlich schnaufte, setzte er automatisch einen Fuß vor den anderen. „Es dauert nicht mehr lange Urs, wir sind schon ganz nah“, versuchte Alda ihm Mut zu zusprechen. Es dämmerte bereits und ein kühler Wind brachte Milderung nach der Hitze des Tages. Als sich eine schmale Mondsichel auf dem Firmament blicken ließ, sah Urs einen Wald vor sich. Es war ein Birkenwald. Die weißen Stämme der schlanken Bäume zeichneten sich leuchtend vom Dunkel des indigoblauen Abendhimmels ab. „Nur noch ein kleines Stück“, ermunterte Alda ihn. Sie hatte sich auf seinem Kopf niedergelassen. Während Urs mit zusammengebissenen Zähnen weiter wanderte, wippte Alda auf seinem Haarschopf auf und ab. Nachdem Urs den Wald erreicht hatte, stützte er sich vornübergebeugt an einem der Baumstämme ab. „Ist es noch weit Alda? Ich kann wirklich nicht mehr?“ „Nein Urs, du hast es fast geschafft. Nur noch bis zur nächsten Lichtung.“ Die Aussicht ganz nahe an der frischen Waldquelle zu sein, gab Urs neue Kraft und er setzte sich wie ein Pferd in Bewegung, dass je näher es zu seinem Stall kam umso kräftiger ausschritt. Das fahle Mondlicht ließ den Wald silbrig glitzern. Wenn Urs nicht so durstig und müde gewesen wäre, dann hätte er sich wie in einer Märchenlandschaft gefühlt. „Hörst du das Plätschern Urs?“ „Wo, ich höre kein Plä...doch jetzt höre ich es. Es muss hinter dem Felsen dort herkommen.“ Urs hatte seine Erschöpfung vergessen und rannte, gefolgt von Alda, die letzten Meter bis zur Lichtung. Er ließ sich vor dem rauschenden Bach bäuchlings auf den Boden fallen und begann gierig zu trinken. Dabei verschluckte er sich und bekam einen so starken Hustanfall, dass Alda sich berechtigte Sorgen machte, dass er erstickte. Sie setzte sich auf seinen bebenden Rücken und begann ihn mit ihren filigranen Fühlern zu betasten, so als ob sie ihm einen lösenden Schlag zwischen die Schulterblätter versetzen wollte. Nach einer Weile hörte Urs auf zu husten und ließ sich erschöpft auf die Seite rollen. Über ihm leuchteten Tausende von Sterne. „Glaubst du das die Sterne Botschafter sind, die uns Nachrichten überbringen Alda?“ „Oh ja ganz bestimmt. Wir müssen sie nur lange genug beobachten, um sie deuten zu lernen.“ Eine Sternschnuppe ging vor ihnen nieder. „Hast du das gesehen?“. Urs hatte sich aufgerichtet. Sein Blick haftete unverwandt auf dem Sternenhimmel über ihm. Bevor er Aldas Antwort abwartete rief er aufgeregt: „Hier schon wieder eine. Zwei Sternschuppen, die genau an der gleichen Stelle vom Himmel gefallen sind.“ „Sterne fallen nicht vom Himmel, Sterne erlöschen Urs“, wies ihn Alda zurecht. „Also gut, dann sind sie eben erlöscht. Es war aber genau an der gleichen Stelle.“ Ohne etwas zu erwidern flog Alda in den Wald. „Wo willst du hin Alda?“, rief Urs ihr überrascht nach. „Nachsehen wo die Sterne hingefallen sind natürlich.“
Die Macht der Angst
Die Zigeunerin kniete auf einem Schemel vor einer Strohmatte, auf der ihre Mutter für gewöhnlich ihre Rituale abgehalten hatte. Der Kristall lag kühl in ihrem Schoß. Sie hatte ihn mit Essigwasser gewaschen und mit Salz bestäubt, um ihn von der Energie des Grabes zu reinigen und seine Kräfte zu erneuern. Es war vier Uhr morgends und totenstill. Neumond. Kein Lichtstrahl erhellte die Fenster des reichsten Hauses der Zigeunersiedlung, für das sie viele beneideten in kargen Zeiten wie diesen. Egom hatte sich nicht lumpen lassen, nachdem sie ihm die Prophezeiung überbracht hatte. Sie musste die Jungfrau finden und zu ihm zurückbringen sonst verlor sie alles was sie besaß. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Kristallkugel, die ihr als Fenster diente, durch das ihr nichts verborgen blieb, zumindest was in der Gegenwart geschah. Die Vergangenheit und Zukunft jedoch waren ein striktes Tabu. Jeder der dieses Gebot übertrat und die Kugel danach befragte, musste mit seinem Leben dafür bezahlen, hatte ihr ihre Mutter eingetrichtert als sie die Edelsteinkugel als kleines Mädchen in ihrem Versteck aufgestöbert hatte und damit spielen wollte. Obwohl sie es sich nicht eingestandt, hatte sie seit damals Angst vor der Kristallkugel und war deshalb eigentlich froh gewesen, als sie sie mit ihrer Mutter begraben konnte. Die Zigeunerin öffnete die Augen und nahm den Kristall vorsichtig in ihre rechte Hand. Augenblicklich begann seine Oberfläche zu leuchten und zwischen ihren Fingern zu vibrieren. Halblaut stellte sie ihre Frage: „Wo befindet sich die Jungfrau jetzt?“ Sie achtete darauf das Wort jetzt zu betonen. Das Leuchten des Steins wurde stärker, so sehr, dass sie die Augen abwenden musste. Nachdem das grelle Licht etwas nachgelassen hatte, richtete die Zigeunerin ihren Blick angestrengt auf den Kristall. Zuerst konnte sie nichts erkennen außer Nebelschwaden im Inneren der Kugel. Plötzlich konnte sie einzelne Linien und schließlich Formen ausmachen, die sich zu einem Bild verbanden. Es war die Jungfrau, die vor einem Jüngling auf einem weissen Pferd ritt, auf dessen Kopf zwei kleine eigenartige Geschöpfe saßen. Sie waren in einem Höhlenschacht unterwegs. Natürlich, dass hätte sie sich gleich denken können. Sie waren in die Steiner Höhlen geflüchtet. Es war der einzige Ort an dem Egom keine Macht besaß. Der Zigeunerin graute es vor den Höhlen. Jeder wusste, dass es dort Monster und Geister gab. Kein Unterberger würde freiweillig je einen Fuß dort hineinsetzen. „Freiwillig vielleicht nicht“, murmelte die Zigeunerin in sich hinein. Sie hatte die Wahl entweder qualvoll zu sterben, oder von Egom zu seiner Mitregentin gemacht zu werden. Ganz gleich wie sehr sie sich vor den Höhlen fürchtete, es gab keinen anderen Ausweg. Behutsam legte die Zigeunerin den Kristall, dessen Bilder verschwunden waren, in einen schwarzen Lederbeutel. „Jetzt weiß ich wenigstens wo ich zu suchen habe.“
Egom glaubte nicht richtig gehört zu haben. „Wo sind sie? Wo?“ Die Zigeunerin stand aufrecht vor ihm und wiederholte betont gelassen: „Sie sind in den Steiner Höhlen.“ „Das ist unmöglich. Niemand wagt es in die Höhlen zu gehen. Niemaaaaaand“, schrie er in einem Tobsuchtsanfall und malträtierte wie gewöhnlich seinen Thron mit Stockschlägen. Die Zigeunerin hielt seinem flakernden Blick stand, der nicht nur Zorn preisgab, sondern auch Angst wie sie befriedigt feststellte. Egom war in den Grundfesten erschüttert. Seine Macht über Unterbergen begründete sich einzig auf die Panik, die er in der Bevölkerung vor den Höhlen ausgelöst hatte. Obwohl Egom noch nie auch nur einen Fuß in die Steiner Höhlen gesetzt hatte, glaubte er mittlerweile selbst an die Schauergeschichten, die er erfunden hatte, um seine Untertanen zu versklaven und zu verhindern, dass sie aus Unterbergen fort gingen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, noch dazu halbe Kinder, es wagen konnte, die Angst zu ignorieren, die er den Unterbergern eingetrichtert hatte. Das würden sie ihm büßen. Diese rotzigen Ratten, die keinen Respekt mehr vor Erwachsenen hatten. Er würde sich rächen und der erste der daran glauben musste, war dieses kaputtgeschlagene Ekel Perchta, dass seinen eigenen Vater auf dem Gewissen hatte. Egom hatte vergessen, dass er selbst es gewesen war, der Vater und Sohn aufeinander gehetzt hatte und den Kampf für den Jungen entschied. Mit abwesendem Blick überlegte er sich, wie er seine Wut an diesem Vaterschänder abreagieren konnte. „Wir werden sie finden, verlasst euch auf mich Herr“. Die Zigeunerin hatte sich betont knapp vor Egom verneigt, um ihn weiterhin spüren zu lassen, dass sie wusste, wie sehr er in ihrer Hand war. „Wir brechen im Morgengrauen auf“. Sie drehte sich auf dem Absatz um und schickte sich an zu gehen, als Egom sie zurückrief: „Halt Zigeunerin, ich möchte dir noch etwas zeigen“. Egoms Stimme klang noch schriller als üblich. Was konnte Egom ihr zeigen wollen, ging es der Zigeunerin beunruhigt durch den Kopf. Sie wandte sich um und ergriff zögernd die behandschuhte Hand, die Egom ihr entgegenstreckte. „Komm meine Schöne. Wir gehen ein bisschen in den Kerker, dort habe ich etwas für dich aufbewahrt, was dich interessieren dürfte.“ Ihr Herz pochte bis in die Schläfen, als sie ihm die ausgetretenen Stufen in die verschimmelten Eingeweiden der Festung folgte. „Hier sind wir“. Egom war vor einer eisenbeschlagenen Holztür stehen geblieben. Die Zigeunerin würgte es durch den Gestank, der hier herrschte und der ihr auf eigentümliche Weise bekannt vorkam. Egom klatschte zweimal in die Hände und der Kerkermeister näherte sich mit einem großen Zinnring an dem unzählige Schlüssel rasselten. Mit geübtem Griff nestelte er nach dem Richtigen und sperrte das Vorhängeschloß der Kerkertür auf. Als er sie aufstieß bot sich der Zigeunerin ein so grausiger Anblick, dass es ihr den Hals zuschnürte, als ob jemand ein Drahtseil darum gelegt hätte, um sie zu erdrosseln. Ein gellender Schrei hallte durch den unterirdischen Festungsgang. Es dauerte ein paar Sekunden bis sie verstand, dass sie selbst es gewesen war, die geschrien hatte. Vor ihr lag der halbverweste Leichnam ihre Mutter, der mittlerweile in einzelne Stücke zerfallen war. Egom beobachtete sie gespannt. Sie durfte jetzt nicht in Panik geraten. Jemand von seinen Leuten musste ihr bis zur Totensiedlung der Zigeuner gefolgt sein. Aber was bezweckte er mit der verwesten Leiche ihre Mutter? „Ich habe meinem Diener befohlen ihre Taschen etwas genauer zu untersuchen“, schien er ihre Gedanken erraten zu haben. „Wer ein so wertvolles Geheimnis birgt, dass er sogar nach seinem Tod ausgegraben wird, hat meistens noch mehr zu bieten, als sich mit einem Blick feststellen läßt.“ Egom spielte damit ironisch auf ihre Eile an, mit der sie die Leiche ihrer Mutter zurückgelassen hatte. „Ich sehe schon du weißt nicht wovon ich spreche. Nun gut, ich will dich nicht mehr länger auf die Folter spannen, schließlich hast du noch einen anstrengenden Weg vor dir.“ Egom schnippste mit dem Finger und der Kerkerwächter zog ohne eine Miene zu verziehen, aus der rechten Jackentasche der Toten einen Brief. „Gib ihn ihr, sie soll ihn lesen“, befahl Egom harsch. Mit bebenden Händen faltete die Zigeunerin das verknitterte Blatt Papier auf. Es war die Handschrift ihrer Mutter, daran bestand kein Zweifel, obwohl die Buchstaben fast unleserlich waren. Sie musste ihn kurz vor ihrem Tod geschrieben haben und ihn sich mit letzter Kraft in die Tasche gesteckt haben. Er endete mitten im Satz. „Lies ihn vor meine Schöne, lies ihn vor. Wir wollen alle mithören“. Egom lächelte hämisch und ergötzte sich sichtlich an ihrer Ahnungslosigkeit. Die Zigeunerin begann mit brüchiger Stimme zu lesen: „Im Angesichts des Todes bekenne ich hiermit eine Schuld, die mich seit vielen Jahren begleitet. Seit dem Tag, an dem ich ein Windelkind aus dem Wald geraubt habe, obwohl ich wusste, dass ihre Mutter noch am Leben war, die es mit dem Namen Malva rief. Ich habe es als meine leibliche Tochter aufgezogen. Sie weiß bis heute nicht, dass sie nicht mein eigenes Kind ist.“ Der Zigeunerin versagte die Stimme. Sie atmete heftig und bekam trotzdem keine Luft. „Weiter meine Liebe, lies weiter...Malva, das ist also dein richtiger Name Zigeunerin“. Egom weidete sich an ihrer Erschütterung. Mit heiserer Stimme fuhr sie fort zu lesen: „Ich habe in die Vergangenheit und Zukunft gesehen. Die Jungfrau aus dem Turm...“. Der Brief brach ab. Die Zigeunerin konnte sich kaum auf den Beinen halten. Angeekelt von den stinkenden Überresten der Frau, die sie belogen und um ihre Herkunft betrogen hatte, loderte eine Wut in ihrem Innersten empor, die so stark war, dass sie jedes andere Gefühl auslöschte. Sie begann die Jungfrau aus dem Turm abgrundtief zu hassen. Sie hatte irgendetwas mit ihrer Geschichte zu tun, deren sie beraubt worden war. Nie hatte sie sich unter den Zigeunern wohlgefühlt. Jetzt verstand sie, warum sie ihnen immer eine Fremde geblieben war. Und nicht einmal der Kristall konnte ihr helfen, weil der Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft ihren Tod bedeuten würde. So wie es mit dem Weib geschehen war, dass sich jahrzehntelang als ihre Mutter ausgegeben hatte. Sie würde die Jungfrau finden und opfern, genauso wie sie selbst geopfert worden war.
„Ich danke euch für euer großzügiges Interesse an meinen Belangen Herr“, antwortete sie mit versteinerter Miene. „Es ist besser die Wahrheit spät zu erfahren als nie.“ Egom war das süffisante Grinsen hinter seiner Maske erstorben. Er hatte nicht mit ihrer Kaltblütigkeit gerechnet. Statt ein weiteres Wort abzuwarten, drehte Malva sich auf dem Absatz um und verlies den Kerker.
Perchta rannte keuchend durch den Wald. Hinter ihm hörte er die kreischende Meute der Soldaten aus dem Turm und das Kläffen ihrer blutrünstigen Jagdhunde. Egom hatte ihm ein Stück Fleisch aus seinem Oberarm herausgeschnitten und es vor seinen Augen den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Sie hatten aufeinander eingebissen und gekämpft, um es sich gegenseitig streitig zu machen. Der Geruch seines Blutes war unauslöschlich in ihren Nasen imprägniert und sie würden nicht eher Halt machen, bevor sie ihn gefunden und zerfetzt hatten. Perchta biberte vor Schmerz und Angst. Sein Gesicht war noch immer blau und grün unterlaufen von den brutalen Faustschlägen seines Vaters. Unter beiden Augen hatte er schwarze Blutergüße, drei seiner Vorderzähne fehlten in seinem Mund. Sein ganzer Körper war von Hematomen und Quetschungen zerschunden. Egom hatte ihm einen Vorsprung gewährt, damit sich die Hetzjagd auch lohnte. Während der Flucht hatte Perchta sich selbst die klaffende Armwunde mit einem Verband aus Holunderblättern abgebunden. Das hatte er der Frau des ehemaligen Festungsmeiers abgeschaut. Wenigstens war sie zu etwas gut. Bei dem Gedanken an Ullren wurde Perchta übel vor Wut. Diese Hexe war an allem Schuld. Hätte sie ihn damals nicht vor allen anderen als Feigling beschimpft, der sich nur in der Gruppe stark fühlte, dann wäre nichts von all dem passiert. Sein Vater hätte sich geweigert mit ihm zu kämpfen. Er wäre weiterhin stolz auf ihn gewesen. Sie hatte nicht das Recht ihn vor aller Augen bloß zu stellen. Er hätte sie schlagen sollen als sie ihn vor allen anderen dazu aufgefordert hatte. Wie er sie hasste, abgrundtief. Anstatt ihr nur den Eimer voller Scheiße, Blut und Urin in die Zelle zu schütten, hätte er sie umbringen sollen. Dann wäre sein Leben wenigstens für etwas gut gewesen. Der Schmerz pochte rythmisch durch seine Adern. Er schwitzte, obwohl die Sonne bereits untergegangen und die Abenddämmerung hereingebrochen war. Seine groben Hanfstiefel scheuerten an Fersen und Knöchel, wo sich dicke Wasserblasen gebildet hatten. Mehrfach war er ausgerutscht und hatte sich die Knie an den Wurzeln und Steinen aufgeschlagen, die aus dem Morast ragten. Von Weitem konnte er bereits die kläffende Hundemeute hinter sich hören. Die Schreie der Soldaten kamen näher. Ein stechender Schmerz in seiner Seite drückte ihm die Luft ab. Er konnte nicht anders, er musste stehen bleiben. Fiebernd überlegte er wie er seinen Verfolgern entkommen konnte. Er hatte nur eine Chance. Er musste es bis zu den Sümpfen schaffen. Keiner der Soldaten würde sich dort hineinwagen. Jeder Fehltritt bedeutete den unvermeidlichen Tod im Schlamm, der alles was sich auf ihm bewegte gierig in die Tiefe zog. Er musste das Risiko auf sich nehmen. Tränen der Verzweiflung und der Wut vermischten sich mit seinem Blut, Schweiß und dickflüssigem Schleim seiner triefenden Nase. Er kannte die Sümpfe seit seiner Kindheit, besser als jeder andere. Einmal hatte er einem seiner Spielkameraden Panik eingeflößt, als er ihn vor sich herjagte und erst im letzten Moment aus dem tückischen Treibsand befreite hatte. Doch war er noch nie in der Dunkelheit in den Sümpfen unterwegs gewesen. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen. Er konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen. In der Nacht war es schier unmöglich zu erkennen, wo er hintreten durfte, um nicht vom Sumpf verschlungen zu werden. Seine Jäger kamen erbarmungslos näher. Perchta hörte die Schreie der Soldaten, die die Hunde aufhetzten. Er musste weiter. Mühsam rappelte er sich auf und begann weiter um sein Leben zu rennen. Er schrie vor Schmerz, als die groben Kanten der Hanfstiefel seine blutigen Blasen aufrissen und auf dem rohen Fleisch scheuerten. Es war alles egal. Er musste es bis zu den Sümpfen schaffen. Lieber starb er dort als Egom, diesem Schwein, den Gefallen zu tun von seinen Hunden getötet zu werden. Gerade als ein Hoffnungsschimmer in ihm aufflackerte, weil er die Sümpfe aus der Ferne bereits sehen konnte, erreichte ihn der Leithund der Meute. Perchta rannte verbissen weiter. Das ausgehungerte Tier witterte seine Angst. Perchta fiel hin, konnte sich jedoch mit den Händen abstützen. Er spürte den heißen Atem des Hundes in seinem Nacken. Speichelfäden tropften aus den gefletschten Lefzen des Jagdhundes auf Perchtas Hinterkopf. Im letzten Moment ertastete Perchta einen Stein und hob ihn auf. Er drehte sich blitzschnell um und schleuderte seine Waffe mit aller Kraft gegen den Kopf des aufheulenden Tieres. Schädelknochen splitterten, aus einer klaffenden Wunde am Kopf des Hundes sprudelte das Blut. Perchta grinste befriedigt. Bevor er seinen Sieg jedoch auskosten konnte, hatte ihn die Hundemeute und die Soldaten erreicht. Zwei scharfe Pfiffe brachten die Hunde zum Stehen. „Halt, wir warten hier.“ Perchta traute seinen Augen nicht. Die Soldaten versammelten sich in einem Halbkreis und umringten ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, oder nur die geringste Geste zu machen, ihre Hände gegen ihn erheben zu wollen. Was hatte das zu bedeuten? Hatten sie sich gegen Egom verschworen und würden ihn gehen lassen? Perchta begann Hoffnung zu schöpfen. Warum nicht? Alle hassten Egom, rasten ihm die Gedanken durch den schmerzenden Kopf. „Wir haben uns überlegt, dass du vielleicht ein kleines Spiel mit uns machen möchtest“, wandte der Anführer der Soldaten das Wort an ihn. Obwohl es Dunkel war, kam Perchta die Stimme bekannt vor. „Du kennst dich doch hervorragend in den Sümpfen aus und wenn mich nicht alles täuscht, dann warst du auch auf dem Weg dorthin“. Wie Schuppen fiel es Perchta plötzlich von den Augen. Es war der Vater seines ehemaligen Freundes, der fast durch seine Schuld in den Sümpfen umgekommen war. Sie wollten ihn in die Sümpfe schicken. Obwohl genau diese Idee noch vor wenigen Minuten seine Rettung zu sein schien, streubte sich plötzlich alles in ihm dagegen. „Du bist es nicht wert unseren Hunden zum Fraß vorgeworfen zu werden. Wir werden hier auf dich warten, falls du zurück kommen solltest“, war alles was der Soldat sagte, bevor er verächtlich vor ihm ausspukte. Perchta kroch auf allen Vieren weiter. Hinter ihm grölten und lachten die Soldaten. Die Hunde bellten wutentbrannt, weil sie ihrer Beute beraubt worden waren. Aus dem Dickicht beobachteten ihn ein paar funkelnde Augen. Zitternd setzte er sich auf einen vom Blitz gefällten Baumstamm. Die Angst nahm ihm die Luft. Die funkelnden Augen bewegten sich. Perchta schrie auf. Er wollte nichts mehr sehen, er wollte die Sümpfe hinter sich lassen, er wollte nicht mehr da sein, er wollte keine Angst mehr empfinden. Die funkelnden Augen bohrten sich hinter die Schwärze seiner Lider. Er konnte ihnen nicht entfliehen. Perchta musste die Augen öffnen. Erleichtert erkannte er statt des rasenden Ungetüms, das er erwartet hatte, die Augen einer Eule. Erschöpft legte er sich auf den Baumstamm. Er wollte nur einen Moment ausruhen. Sofort verfiel er in einen unruhigen Schlaf. Er träumte, dass das Katzenjunge, dass er ertränkt hatte, obwohl Aruc ihn daran hindern wollte, ihm in die Nase und an der Lippe biss. Er spukte grünes Blut. Er hielt es so lange unter Wasser bis es zu zucken und zappeln aufhörte. Als er spürte, dass alle Lebenskraft aus seinem Körper gewichen war, verwandelte sich der struppige Katzenkörper in seinen Vater, der ihn angrinste und versuchte ihn zu erwürgen. Obwohl es mittlerweile bitterkalt war, erwachte Perchta schweißgebadet aus seinem Alptraum. Mühsam richtete er sich auf. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Um ihn herum gab es nichts als undurchdringliche Schwärze, die ihn aufzusaugen drohte. Er konnte nicht lange geschlafen haben, weil die Eule noch immer, von einer Astgabel über ihm, mit ihren funkelnden Augen auf ihn hinab starrte. Hastig ließ er sich vom Baumstamm auf den morastigen Boden gleiten. Vielleicht hatte er Glück. Vielleicht schaffte er es den Soldaten zu entrinnen. Dornensträucher rissen sich gierig in seine Kleider, die ihm bereits in Fetzen am Leib hingen. Seine Beine und Arme waren mit rotgeränderten Striemen zerschunden. Ein Dorn hatte sich in seine Wange gebohrt und eine tiefe Wunde hinterlassen, aus der das Blut in einem dünnen Rinnsaal tropfte und sich in seinem linken Mundwinkel sammelte. Der Gedanke an die Soldaten, die mit ihren Hunden auf ihn warteten, jagte ihn wie ein Rudel hungriger Wölfe durch den Sumpf. Plötzlich glaubte er das entfernte Licht einer Hütte zu sehen. Neue Lebenskraft beschleunigte seine Schritte und machte ihn unvorsichtig. Als er bereits innerlich jubilierte, weil er glaubte den Sümpfen und seinen Verfolgern entkommen zu sein, spürte Perchta wie sein rechter Fuß keinen Halt mehr auf dem schlammigen Boden fand und bis zum Knie im Morast versank. Als er hektisch versuchte sein linkes Bein nachzuziehen, um sich aus dem Schlamm zu befreien, konnte er trotz aller Kraftanstrengung keinen Zentimeter mehr vorankommen. Stattdessen sakte er immer weiter in den gurgelnden Sand. Schon spürte er wie ihm die zähe Erdmasse bis zur Taille reichte und wie ein Schraubstock umschloß. Er geriet in Panik und ruderte fuchtelnd mit den Armen, um sich zu befreien. In wenigen Sekunden waren auch seine Arme und Schultern bis zum Hals im Schlamm versunken und außer seinem Kopf nichts mehr von seinem Körper zu sehen. Seine wilden Hilfeschreie trieben einen Moment auf der breiigen Oberfläche, bevor sie zu den Soldaten drangen, die befriedigt ihren Heimweg antraten. Kurz bevor Perchta der Sumpf vollkommen in seinen unersättlichen Schlund gezogen hatte, erkannte er in dem vermeintlichen Licht der Hütte die Augen der Eule, die ihn aus der Dunkelheit weiterhin anstarrten bis es vollkommen schwarz um ihn wurde und der Schlamm ihm durch Mund, Nase und Ohren floss und er jämmerlich erstickte.
Die Suche in den Höhlen
Jalam pfiff durch die Zähne: „Ein sauberer Schnitt, alle Achtung.“ Gemeinsam mit Antar und Lovan stand er vor dem zweigeteilten Stein, der den Eingang zu den Steiner Höhlen verbarg. „Ich dachte, dass es Vulkansteinmesser nur in Walden gibt, die so etwas fertigbringen.“ Lovan schaute ihn ratlos an. „Irgendjemand muss ihnen geholfen haben. Aber wer und wie sind sie an dieses Messer gekommen?“ „Das werden wir über kurz oder lang herausfinden“, antwortete ihr Jalam trocken und wandte sich Antar zu: „Mein Freund ich bitte dich in der Nähe zu bleiben und zu beobachten, ob jemand die Höhle betritt oder verläßt. Sobald wir sie gefunden haben, kommen wir hierher zurück.“ Jalam verneigte sich vor Antar, der ihm mit dem Flügel über den Kopf strich. Seit Jalam unter den Adlern lebte, war Antar sein Vertrauter und engster Freund. Es gab nichts was Antar nicht für den Baumsänger aus Walden getan hätte. Nachdem Antar sich von Jalam verabschiedet hatte, nickte er Lovan zu und flog davon. Der Adlerkönig begann über ihnen große Kreise zu ziehen. Jalam entfernte die beiden Steinhälften, die von innen wieder vor den Eingang geschoben worden waren und betrat als erster das Dunkel der Höhle. Lovan blieb dicht hinter ihm. Es war fast stockdunkel. Sobald sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte sie Jalams Umrisse vor sich ausmachen. Seine Bewegungen waren sicher und überlegt. Alles an ihm strahlte Kraft und Männlichkeit aus. Lovan überlegte sich insgeheim warum Jalam, seit er vom Kelter Felsen zurück gekommen war, um sie abzuholen, plötzlich ihr gegenüber so neutral, ja fast abweisend war. Unvermittelt dachte Lovan an ihre letzte Nacht, die sie gemeinsam in ihrem Kosi in Walden verbrachten. Jalam saß regungslos auf ihrem Ehebett, dass einen Baldachin aus Blättern hatte und an Lianen befestigt unter dem Dach hing. Er hatte die Bettschaukel selbst erfunden und sie in ihrer Hochzeitsnacht voller Stolz damit überrascht. Bis zu jenem Tag, hatte er sie umhegt und gepflegt und mit allen Sinnen von ganzem Herzen geliebt, daran zweifelte Lovan nicht einen Moment. In jener Nacht jedoch, hatte er kein Wort gesprochen. Immer wieder hatte sie verzweifelt seinen Namen gerufen und ihn gebeten mit ihr zu sprechen, ohne Antwort zu erhalten. Jalam hatte einfach nur apathisch durch sie hindurch gestarrt. Als sie es nicht mehr länger ertragen konnte, war sie aufgestanden und hatte die ganze Nacht im Canticum verbracht. Sie hatte sich dort im Mondschein ins Gras gelegt und ihre Tränen fließen lassen, bis sie die Gesänge der canticas in eine andere Welt, wo es weder Schmerz noch Verlust gab, getragen hatten. Als sie zurück in ihr Haus gekehrt war, hatte sie einen Brief von Jalam vorgefunden, indem er sie um Verzeihung bat und erklärte, dass ihn Walden, sie selbst, einfach alles um ihn herum immer daran erinnern würde, dass er Schuld am Tod ihrer Tochter war. Er musste gehen. Vierzehn Jahre war es her, seit Jalam sie verlassen hatte. Wäre nicht ihr Vater Gort gewesen, ihre Tante Ivy und ihr Onkel Duir, hätte sie nicht die Kraft gefunden weiter zu leben. Sie hatte ihre Tochter und ihren Mann verloren. Lange Zeit hoffte Lovan, dass Jalam zu ihr zurück kommen würde bis sie irgendwann aufhörte täglich an ihn zu denken und sich schließlich sogar wünschte ihn zu vergessen. Der Höhlengang wurde enger und niedriger und überall stakten scharfe Steine aus dem Erdreich. Ihre einzige Lichtquelle war eine Pechfakel die Jalam vor sich in die Finsternis hielt. Lovan musste sich alle Mühe geben, um nicht mit ihrem langen türkisblauen Reisekleid hängen zu bleiben. Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass sie es ausgewählt hatte, um Jalam zu gefallen und ihre Kautschukhose weitaus besser für die Höhlen geeignet gewesen wäre. Mit Genugtun stellte sie jedoch fest, dass Jalam sich mehrfach nach ihr umdrehte, um sicher zu gehen, dass sie wohl behalten hinter ihm war. Nach einer Weile gerieten sie in eine Grotte, die in rotes Licht getaucht war. In der Mitte lag ein See, der von einem Wasserfall gespeist wurde, der der zerklüfteten Felswand entsprang. Jalam blieb am Ufer des Sees stehen und begann den aufgewühlten Lehmboden zu untersuchen. „Ich glaube sie haben hier die Bekanntschaft von einer Horde wilder Krieger gemacht. Sieh nur die vielen, tiefen Spuren. Sie scheinen Nagelstiefel getragen zu haben.“ „Glaubst du es waren Egoms Soldaten?“ „Schwer zu sagen“, Jalam ging in die Hocke und versuchte die Spuren in der nassen aufgwühlten Erde näher zu deuten. „Falls es Egoms Soldaten waren, haben sie es nicht geschafft sie gefangen zu nehmen. Sieh nur, die Pferdespuren. führen tiefer in die Höhle, wobei sich die Fußabdrücke der Stachelstiefel in der anderen Richtung entfernen.“ Jalam richtete sich auf und ergriff Lovans Hand. „Es ist besser du bleibst dicht hinter mir. Wer weiß, wo sich die Stachelstiefel herumtreiben.“ Zum ersten Mal seit er vom Kelter Felsen zurückgekehrt war, lächelte Jalam ihr zu und Lovan fühlte ihr Herz in ihrer Brust vor Freude hüpfen. Genauso wie als Sechzehnjährige als Jalam sie in der Werdener Bibliothek zum ersten Mal einlud mit ihm Baden zu gehen. „Ja, ja... du hast recht“, stotterte sie verlegen und hoffte inbrünstig, dass er ihr Zittern in der Stimme der Angst vor den Stachelstiefeln zuschrieb. Die Grotte endete in einem Tunnel, der weiter in die Tiefe führte. Jalam sprach kein Wort mehr und auch Lovan blieb stumm. Es gab so vieles was sie einander verschwiegen hatten, so viel Unausgeprochenes stand zwischen ihnen, dass es vernünftiger zu schein schien, Stille zu bewahren. Von Zeit zu Zeit reichte ihr Jalam einen Kautschukbeutel mit frischem Wasser, dass sie sich dankbar in die ausgetrocknete Kehle rinnen ließ. Als sie stolperte, war er sofort an ihrer Seite. „Hast du dir weh getan?“ „Nein, nein ich bin nur umgeknickst, es geht schon wieder.“ Besorgt befühlte er ihren rechten Knöchel und Lovan hielt den Atem an bei seiner Berührung. Sie wehrte sich gegen ihre Gefühle, ihre Sehnsucht in seinen Armen zu liegen, seinen Atem auf ihrer Haut zu spüren, sein Gewicht auf ihrem Körper zu fühlen. Behutsam setze er ihren Fuß auf die Erde. Dabei streifte er mit der linken Schulter ihre Brüste. Jalam zuckte zurück als ob er versucht hatte mit der bloßen Hand einen heißen Kupferkessel vom Feuer zu nehmen. „Oh das tut mir leid. Das wollte ich nicht“, entschuldigte er sich hastig. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander haften. Obwohl es heiß und stickig war schlotterten ihre Körper als ständen sie in nasser Kleidung in der klirrenden Kälte eines Wintertages. Eine Strähne hatte sich aus Lovans geflochtener Haarkrone gelöst. Der Träger ihres Kleides war über ihre Schulter gerutscht. Ohne einen weiteren Moment zu zögern, riss Jalam sie in seine Arme und küsste sie heftig bis ihnen der Atem ausging. Sie vergaßen alles um sich herum und liebten sich innig und leidenschaftlich auf der bloßen Erde im fahlen Licht der roten Höhle.
„Wieso dauert das so lange?“, herrschte Malva den Späher an. „Wir müssen den Höhleneingang finden und zwar sofort. Ich brauche dir nicht erst zu erklären was Egom mit dir macht, wenn wir unverrichteter Dinge zurückkommen.“ Malva saß hochaufgerichtet auf ihrem schwarzen Hengst und schaute voller Ablehnung auf den Spähersoldaten nieder, dem es immer noch nicht gelungen war den Höhleneingang ausfinding zu machen,obwohl sie ihm eine genaue Beschreibung davon gegeben hatte, nachdem sie erneut die Kristallkugel konsultiert hatte. Seit drei Tagen irrte Malva mit knapp hundert Soldaten durch den Wald und wurde von Minute zu Minute mürrischer. Sie konnte den entsetzlichen Gestank der Männer fünf Meilen gegen den Wind riechen. Es waren unzivilierste Rohlinge in ihren Augen. Sie hasste es sich mit ihnen abgeben zu müssen und versuchte so wenig Kontakt wie möglich aufkommen zu lassen. Während der wenigen Pausen, die sie ihnen gönnte, setzte sie sich alleine unter einen Baum, um eine Handvoll Beeren und Nüsse zu essen. Sie verachtete die groben Gepflogenheiten der Soldaten, die Berge von Fleisch in sich hineinstopften, das oft noch so roh war, dass ihnen das Blut an den Mundwinkeln heruntertropfte. Nachts ließ sie sich ein eigenes Zelt so weit entfernt wie möglich vom Lagerfeuer der Soldaten aufbauen. Sie wusste nur zu gut, dass es nur ihre Angst vor Egom war, die die Soldaten davon abhielt, sie auf bestialische Weise zu vergewaltigen. Vielleicht hatten sie auch Angst vor den Zauberkräften, die sie ihr zuschrieben. Und das sollte auch so bleiben. Sie durfte sich keinerlei Schwäche anmerken lassen. Die Soldaten würden ihr nur gehorchen, wenn sie merkten, dass sie es nicht mit einer schwachen, rechtlosen Frau zu tun hatten, sondern mit ihrer zukünftigen Königin. „Ich gebe dir noch bis zum Morgengrauen. Wenn du uns dann immer noch im Kreis herumführst, liefere ich dich Egom aus und werde dafür sorgen, dass er dich vierteilen lässt. Verlass dich drauf.“ Malva versetzte ihm einen harten Schlag mit der Reitgerte und galoppierte an die Spitze des Zuges. Je härter sie mit ihnen umging, desto weniger würden sie bemerken, wie sehr sie in ihren Grundfesten erschüttert war, seit Egom ihr den Brief gezeigt hatte..., von der Frau, die ihr ihre Geschichte gestohlen hatte. Flammender Zorn trieb ihr das Blut in Wogen durch die Adern, dass sich ihre Wangen röteten. Sie ballte die Hände zu Fäusten und konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, um nicht laut zu schreien. Sie hasste ihre Ziehmutter ebenso sehr, wie ihre richtige Mutter, die es nicht der Rede wert gefunden hatte, sie zu suchen. Nachdem Malva aus dem Kerker in ihr Haus zurückgekommen war, um sich reisefertig zu machen, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und hatte den Kristall nach dem Aufenthaltsort ihrer richtigen Mutter und ihres Vaters befragt. Der Kristall blieb schwarz, was nur bedeuten konnte, dass sie bereits gestorben sein mussten. Aus Enttäuschung und Wut hatte Malva sich geschworen keinen Deut mehr um ihre biologische Familie zu scheren. Sie würde keinen Finger rühren, um sie zu suchen. Sie hatten ja ebensowenig unternommen um sie zu finden, warum sollte sie sich jetzt für sie interessieren. Es gab nur eins was wichtig war. Sie musste die Jungfrau finden, sie an Egom ausliefern und dafür sorgen, dass das Opferritual gelänge. Danach müsste sie sich nie wieder Sorgen machen, weil sie dann Königin war und tun und lassen konnte, was sie wollte. „Herrin, ich glaube ich habe den Eingang gefunden“, hörte sie den Späher hinter sich rufen. Was eine Vierteilungsdrohung nicht alles bewirkt, lächelte Malva zufrieden in sich hinein, um gleich darauf wieder einen strengen Gesichtsausdruck anzunehmen und sich im Sattel zu dem Späher herum zu drehen, der atemlos auf sie zu galoppierte. „Es ist nicht weit von hier. Die Öffnung ist hinter einem Stein verborgen, der entzwei geschnitten worden sein muss“. „Na also, es geht doch. Bring uns an den Ort auf der Stelle. Ich hoffe für dein eigenes Wohl, dass du recht hast.“
Malva brachte ihren Hengst je zum Umkehren und folgte dem Späher. Der Rest der Soldaten heftete sich an ihre Fersen. Nach einem scharfen Ritt, blieben sie vor einem moosbeschichteten Stein stehen, der in zwei Hälften geteilt worden war. Malva erkannte sofort den Höhleneingang wieder, den ihr der Kristall gezeigt hatte. Einerseits empfand sie Erleichterung, andererseits fröstelte sie es bei dem Gedanken in die Höhlen hinabsteigen zu müssen. Wer weiß was sie dort erwartete. Doch es gab Zurück. Entweder sie brachte Egom die Jungfrau und würde reich und mächtig oder sie war zum Sterben verurteilt. „Wir müssen mit allem rechnen“, richtete sie sich an die Soldaten, die sie entsetzt anstarrten. „Wer sich im Kampf bewährt wird es nicht bereuen, sobald ich Königin bin.“ In den Gesichtern der Soldaten war deutlich zu lesen, dass sie keinesfalls die Gelegenheit verpassen wollten in ihrer Gunst aufzusteigen. Eine Frau, die Egom dazu brachte ihr hundert seiner besten Männer anzuvertrauen musste sehr, sehr mächtig sein. Daran gab es keinen Zweifel. Zwei von den Soldaten rollten beherzt die beiden Steinhälften bei Seite. „Entzündet die Fakeln“, grölte der Hauptmann in die Menge. In einem langen Gänsemarsch trieben die Soldaten ihre Pferde in die Höhlen.
Jalam und Lovan gingen wortlos nebeneinander her. Sie hielten sich an den Händen und genossen ihre Nähe, die sie so viele Jahre entbehrt hatten. Weder die Dunkelheit, noch die abgestandene Luft konnte die Magie dieses Augenblicks zerstören. Sie hatten sich endlich wieder gefunden. Der Höhlengang wurde enger bis sich nur noch ein schmaler Steg vor ihnen auftat. Zu beiden Seiten klaffte ein schwindelerregender Abgrund. Aus der Tiefe vernahmen sie das gurgelnde Geräusch von Wasser, dass gegen Stein schlug. Beide spürten, dass Gefahr in der Luft lag. Unvermittelt blieb Jalam vor Lovan stehen und schaute ihr tief in die Augen. „Egal was passiert Lovan. Du sollst wissen, dass ich dich liebe, immer geliebt habe und nie aufhören werde dich zu lieben.“ Lovan erwiderte Jalams eindringlichen Blick und verschloss seine Lippen mit einem zärtlichen Kuss. Als sie sich voneinander gelöst hatten, hörten sie das Rauschen von aufgewühltem Wasser, dass aus der Tiefe zu ihnen drang. Jalam signalisierte Lovan hinter ihm in Deckung zu gehen. Er hatte gerade noch die Zeit aus seinem Gürtel ein Messer zu reißen, dass identisch war, mit dem Messer, dass Ullren für ihn in den Rucksack gelegt hatte, bevor der Giftstachel von Sikull hoch über ihren Köpfen auftauchte. „Lauf Lovan, lauf, so schnell du kannst. Ich halte die Bestie auf.“ „Nein Jalam ich lasse dich nicht allein, niemals.“ „Lovan tu was ich dir sage, lauf, ich hole dich ein. Ich finde dich. Du musst Eufe finden und verhindern, dass Egom sie in die Hände bekommt.“ Lovan wusste das Jalam recht hatte. Sie durfte nicht nur an sich denken. Als Hathore von Walden musste sie an ihr Volk denken, an die Verantwortung, die sie übernommen hatte. Jalam drückte ihre Hand so fest, dass es weh tat und schrie aus Leibeskräften: „Lauf Lovan, Lauf!!!!!“ Verstört rannte sie los, in panischer Sorge um Jalam. Hinter sich hörte sie Jalams Kampfschreie. Sie lief so schnell sie konnte, ohne auf den schmalen Steg zu achten. Es fehlten nur noch wenige Meter und sie hatte den Abgrund hinter sich gelassen. Sie fühlte stechende Schmerzen in ihrer Seite. Es gelang ihr kaum noch zu Atmen. Ein grauenhaftes Krachen von splitterndem Chitin fuhr ihr durch Mark und Bein. Bevor sie die Zeit hatte sich umzudrehen, hörte Lovan ein aufklatschendes Geräusch. Im selben Moment peitschte eine Welle über Lovan hinweg und riss sie mit sich in die Tiefe. Der Fall schien kein Ende zu nehmen. Ihr einziger Gedanke galt Jalam. Plötzlich wurde es schwarz um Lovan und sie begann zu schweben.
„Neeeeiiiiinnnn, Neeeeiiiiiiin, Looooooovan“, Jalam war auf die Knie gesunken. Aus einer Wunde an seinem Bein, die ihm eine der Fangscheren Sikulls beigebracht hatte, tropfte Blut. Tränen strömten ihm über die Wangen. Sikull wartete mit ihrem in die Höhe gereckten Giftstachel, auf den geeigneten Moment, um ihn zu paralisieren. Aus ihrem gepanzerten Kopf starrten acht Augen gierig auf ihn. Immer wieder versuchte sie mit ihren Fangscheren nach ihm zu greifen, was sie mit dem Verlust von zwei Beinen bezahlt hatte, die Jalam ihr abgehackt hatte. Jalam richtete sich mühsam auf. Er hatte keine Angst zu sterben, aber vorher würde er dieses Monster erledigen, koste es was es wolle. Mit einem johlenden Schrei sprang er auf ihren Rücken und rammte sein Messer zwischen Sikulls Augen in ihren Kopf. Sie bäumte sich auf, schlug wild mit ihrem Schwanz um sich und stürzte gemeinsam mit Jalam in die Tiefe. Als sie im Wasser aufkamen lebte Silkull noch und versuchte ihn mit ihrem Giftstachel zu treffen. Geschickt tauchte Jalam unter ihr hinweg und rammte ihr sein Vulkansteinmesser so oft in den ungepanzerten Bauch bis er am Ende seiner Kräfte war. Jalam nahm kaum noch wahr, dass Sikulls Leiche auf den Grund sackte. Er bekam keine Luft mehr und begann die Besinnung zu verlieren. Es war ihm egal. Er hatte Lovan ein für alle mal verloren. Er hatte es nicht geschafft sie zu beschützen, ebenso wenig wie damals Laka. Er wollte sterben. Sein Dasein hatte so oder so keinen Sinn mehr. Die Tiefe rauschte in seinen Ohren, als ob er in eine Meeresmuschel hineinhörte. Er überließ sich dem Wasser ohne Widerstand zu leisten. Sterben war friedlich, dachte Jalam. Jetzt konnte er wieder atmen. Mechanisch sog er gierig Luft in seine Lungen. Hatte er die Passage zur Anderswelt schon hinter sich? Würde er Lovan und Laka dort treffen und mit ihnen vereint sein? Unwillkürlich biss er die Zähne zusammen, weil er einen brennenden Schmerz in seinem verletzten Bein spürte. Etwas stimmte nicht. Wieso spürte er Schmerzen in der Anderswelt? Jalam öffnete vorsichtig die Augen. Aus der Schwärze strahlte ihm rotes Licht entgegen. Er befand sich in einer Zwischenhöhle. Die unterirdische Strömung des Wassers musste ihn hierher gespült haben. Jalam konnte es nicht fassen. „Warum Warum muss ich weiterleben? Ich will nicht mehr ohne Lovan und Laka sein. Ich kann nicht mehr ohne sie leben.“ Er hatte die Worte geflüstert. Da hörte er das Echo von Stimmen. Ohne zu überlegen tauchte Jalam erneut unter Wasser und schwamm lautlos bis zum Eingang der angrenzenden Höhle. Langsam ließ er sich an die Oberfläche steigen. Als sich seine Augen an das von rotem Licht geflutete Halbdunkel gewöhnt hatten, begann sein Herz wild zu hämmern. Er musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht laut zu schreien.
Lovan blinzelte. Ihre Lungen brannten wie Feuer. Sie spürte Brechreiz, der sie so stark würgte, dass sie sich keuchend auf die Seite rollte und übergeben musste. Jemand schlug ihr kräftig auf den Rücken. Immer wieder spuckte sie Wasser bis sie so erschöpft war, dass sie halb bewusstlos liegen blieb. Von Weitem hörte sie eine weibliche Stimme, die sie anherrschte: „Was hast du hier zu suchen? Niemand wagt es einen Fuß in die Steiner Höhlen zu setzen. Es sei denn er hat einen trifftigen Grund dafür. Wie heißt du?“ Lovan spürte stechende Schmerzen in ihrer Brust und einen abgestandenen Geschmack im Mund. Langsam öffnete sie die Augen und sah sich dem forschenden Blick einer Frau gegenüber, die sich dicht über sie gebeugt hatte. Ihre großen blauen Augen waren kalt und starrten sie ablehnend an. Trotzdem war ihr Gesicht von auserlesener Schönheit und obwohl sie laut und grob mit ihr gesprochen hatte, war der Klang ihrer Stimme melodisch. Hinter ihr stand eine Legion von Soldaten. Es gab keinen Zweifel. Sie mussten im Auftrag Egoms in der Höhle sein und nach Eufe und Aruc suchen. „Ich heiße Magdalena“, schwindelte Lovan und war froh, dass die Höhle in rotes Licht getaucht war und es deshalb niemand auffiel, dass ihr das Blut in die Wangen schoss „ Ich wurde beim Pilzesuchen von Dieben im Wald aufgelauert. Weil ich nichts Wertvolles bei mir trug, wollten sie sich anderwertig mit mir vergnügen. Im letzten Moment konnte ich mich losreißen. Ich bin davon gelaufen und habe mich hier in den Höhlen vor ihnen versteckt.“ Malva schaute sie misstrauisch an, schien ihre Geschichte jedoch zu glauben. Hinter ihnen tuschelte es. Malva richtete sich auf und drehte sich aprupt um. Die Soldaten raunten sich grinsend zu. In ihren gierigen Blicken stand zu lesen, dass sie sich vorstellten wie sie selbst mit den beiden Frauen ein ungestörtes Schäferstündchen verbrachten. Sie musste diese Tölpel in Schach halten und durfte keinesfalls ihren Respekt einbüßen. Sie mussten zittern vor ihr. Hochaufgerichtet trat sie vor die Männer und wartete ohne ein Wort zu sagen. Fast alle Stimmen waren verstummt bis auf zwei der Soldaten in den hinteren Reihen, die so in ihre schlüpfrigen Späße vertieft waren, dass es ihnen nicht auffiel, dass Malva sie unverwandt beobachtete. Lovan lag immer noch auf dem Boden und hielt den Atem an. Nachdem sich der Hauptmann nervös geräuspert hatte, klappten die beiden Soldaten ihre schuldbewusst ihre Münder zu. Immer noch schwieg Malva und begnügte sich damit ihre kalten Blicke auf die beiden Störenfriede zu feuern. Schließlich befahl sie: „Ihr da, kommt näher und lasst uns alle an eurem Vergnügen teilhaben.“ Zögernd lösten sie sich aus der Menge und blieben vor Malva stehen. Obwohl sie nur eine Frau war, hatten sie Angst vor ihr. Sie genoss nicht nur das Vertrauen Egoms. In Inthorm wurde noch dazu gemunkelt, dass sie eine Hexe war. „Nun ich warte, lasst uns hören was es so Erheiterndes gibt.“ Beide Männer hatten ihren Blick auf den Boden gerichtet. „Aha dachte ich es mir. Scherze auf Kosten anderer. Das gefällt mir aber ganz und gar nicht. Ein bisschen solltet ihr euch doch um die Erheiterung aller bemühen.“ Süffisant lächelnd zog Malva betont langsam ein Stilettomesser aus ihrem linken Stiefel. Noch während die Soldaten sie überrascht anschauten, holte sie damit aus und zerfetzte die Gesichter der beiden Soldaten mit zwei raschen Schnitten. Ohne sich über ihre erschrockenen Schmerzensschreie zu kümmern, gab Malva das Zeichen zum Aufbruch. An Lovan gewandt: „Du kommst mit.“
Jalam hatte die ganze Szene von seinem Versteck im Wasser aus beobachtet. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Grenzenlose Erleichterung, dass Lovan noch am Leben war, mischte sich mit Ungeduld und Wut. Er wollte nichts sehnlicher als Lovan in seine Arme schließen und in Sicherheit bringen weit weg von den gaffenden, grobschlächtigen Soldaten und dieser grausamen Furie, die verdammt gut mit dem Messer umgehen konnte. Etwas zu gut für seinen Geschmack. Es kostete ihn ungeheuere Überwindung nicht einzuschreiten und abzuwarten. Doch musste er strategisch vorgehen, sonst hatte er keine Chance gegen Hundert Mann kampferfahrener Soldaten. Jalam holte tief Luft und tauchte in einem Zug quer durch den Höhlensee bis zum anderen Ufer, wo eben noch Lovan auf dem Boden gelegen war. Er wartete so lange bis er sicher sein konnte, dass er ihnen genug Vorsprung gegeben hatte und begann ihnen zu folgen. Er war nass bis auf die Knochen und blutete aus der Beinwunde, die ihm Sikull zugefügt hatte. Für einen Moment blieb er stehen und saugte sich die Wunde aus, er konnte es sich nicht erlauben eine Blutvergiftung zu bekommen. Er musste Lovan befreien. Als er an dem Platz angekommen war an dem Lovan und er sich noch vor wenigen Stunden geliebt hatten, hörte er wilde Schreie, die nichts menschliches an sich hatten. Lautes Wiehern, gefolgt von dem Klang aufeinandertreffender Eisenklingen. Jalam ließ jede Vorsicht fallen und rannte humpelnd als ob er von einer Herde Stiere gejagt werden würde in die Richtung aus der der Tumult kam. Entsetzt sah er sich einem wildem Gemetzel gegenüber. Egoms Soldaten waren auf eine Gruppe von grausamen Höhlenmännern getroffen, die sie mit ihren eisernen Hakenhänden abschlachteten wie Hühner. Pferde bäumten sich auf und fielen tötlich verwundet zu Boden. Verzweifelt suchte Jalam nach Lovan, ohne sich um die Kämpfenden zu kümmern. Er stürzte über den leblosen Körper eines Soldaten dessen Kopf, abgetrennt neben seinem aufgerissenen Rumpf lag, aus dem die Eingeweide quollen. Als er sich aufrichten wollte, spürte er einen harten Schlag auf den Hinterkopf und sank ohnmächtig zu Boden. Er sah nicht mehr, dass Lovan sich nur wenige Meter von ihm entfernt in einer Felsspalte versteckt hielt. Sie hatte ihren rechten Arm um die Schulter von Malva gelegt, die sich nicht selbst auf den Beinen halten konnte, weil einer der Kormoraner sie mit seiner Hakenhand am Oberschenkel erwischt hatte, während er ihrem Pferd den Bauch aufgeschlitzt hatte.
„Schaffst du es zu gehen? Wir müssen fliehen, sonst finden sie uns. Ich helfe dir.“ Malva nickte. Sie war weiß wie die Wand und fast ohnmächtig vor Schmerzen. Lovan stützte sie. Gemeinam schleppten sich die beiden Frauen aus ihrem Versteck und drückten sich gegen die Felswand in der Hoffnung nicht entdeckt zu werden. Der Kampf hatte inzwischen seinen Höhepunkt erreicht. Über die Hälfte von Egoms Soldaten waren gefallen. Auch einige der Kormoraner lagen zerstückelt auf der Erde. Abgetrennte Gliedmaßen und die Innereien aufgerissener Bäuche waren auf der Erde verstreut. Lovan hatte noch nie etwas Schrecklicheres gesehen. Sie war dankbar, dass Jalam nicht bei ihr war. Sie wusste, dass er sein Leben geben würde, um sie zu retten. Inständig betete sie, dass er es geschafft hatte, den Skorpion zu besiegen und in Sicherheit war. „Wir müssen auf die andere Seite gelangen. Jetzt oder nie“, Lovan schleifte Malva mit sich. Wie durch ein Wunder gelangten sie unversehrt zu einem Seitenstollen, der so schmal war, dass sie nur hintereinander weitergehen konnten. Lovan schob Malva vor sich in den Höhlengang und stützte sie mit ihrem Oberkörper, um ihr Halt zu geben. „Schaffst du es?“ Malva biss die Zähne zusammen. „Ja es geht.“ Schweißperlen tropften ihr an den Schläfen herunter und verfärbten den beigen Leinenstoff ihrer Bluse am Hals und unter den Armen mit großen Flecken. Ihre weite Reiterhose war blutgetränkt und hing ihr in Fetzen vom Leib. Lovans Reisekleid aus gesponnener Kastanienwolle war dagegen makellos. Die Waldener Naturstoffe waren so widerstandsfähig, dass selbst extremste Bedingungen ihnen nichts anhaben konnten. Schritt für Schritt entfernten sie sich von dem wilden Gemetzel. Nach einer Weile wurde der Schacht etwas breiter und Lovan begann erneut Malva um die Schultern zu fassen und ihr gesamtes Körpergewicht auf sich zu nehmen. Malvas Kopf war vornüber auf ihre Brust gesakt. Nachdem sie weit genug entfernt waren und sie die grausamen Kampfschreie nicht mehr erreichten, blieb Lovan stehen und legte Malva auf die Erde, um ihr verwundetes Bein zu untersuchen. Mit geschickten Fingern rollte sie das zerfetzte Hosenbein nach oben. Die Wunde war tiefer als sie geglaubt hatte. Mit einem Taschenmesser, dass ihr Jalam zugesteckt hatte, bevor sie die Höhlen betraten, schnitt sie einen sauberen Stoffetzen aus ihrem Kleid und begann die Wunde damit abzubinden. Malva hatte viel Blut verloren. Obwohl Malva sie nicht hören konnte, erklärte Lovan laut: „Wir müssen frisches Wasser finden und die Wunde damit auswaschen und richtig versorgen, damit sie sich nicht infisziert.“ Lovan kniete sich neben die bewusstlose Malva und schloss die Augen. Sie legte beide Handflächen aufeinander und hielt sie aneinandergepresst in der Form eines Dreiecks vor ihre Stirn. Leise sang sie:
„Vom Licht komme ich, zum Licht gehe ich. Im Licht gebe ich meinen Gedanken Form. Sadarum Kalum Tikopatutatum Kometum.“
Als Lovan die Augen öffnete lag Malva auf einem Leiterwagen, der hinter ein wunderschönes fuchsrotes Pferd mit pechschwarzer Mähne und Schweif gespannt war. Zärtlich streichelte Lovan über seinen Hals und flüsterte: „Bayard mein Guter, wie schön dich zu sehen.“
Die Rätsel der Vergangenheit
Ullren und Ivy schwammen Seite an Seite. Sonnenstrahlen glitzerten auf den Schaumkronen des Ametysthsees und erwärmten die frische Morgenluft.Es war nicht leicht gewesen Ullren zu überzeugen mitzukommen. Jeder Tag der ohne Nachricht von Lovan und Jalam verging, wurde sie angespannter und zog es meistens vor in einem Schaukelstuhl auf der Terrasse vor ihrem Zimmer zu kauern. Mit Genugtun stellte Ivy fest das Ullren entspannt lächelte und das Bad sichtlich zu genießen schien. „In einer Woche feiern wir unseren traditionellen Sonnwendball Ullren. Es ist uns allen ein großes Anliegen, dass du mit dabei bist.“ Zu Ivys freudigem Erstaunen nickte Ullren zustimmend. „Blumai redet über nichts anderes. Natürlich werde ich euch begleiten. Verzeih, dass ich so zurückgezogen war in letzter Zeit. Du hattest recht, daß Seebad hat mich auf andere Gedanken gebracht.“ Die beiden Frauen schwammen gemächlich ans Ufer und setzten sich auf einen Stein, um sich von den Sonnenstrahlen trocknen zu lassen. Nachdem sie eine Zeit lang jeder für sich im Gedanken versunken in den azurblauen Sommerhimmel gestarrt hatten, tastete sich Ivy behutsam voran: „Ich weiß sehr wohl wie dir zumute sein muss Ullren. Als ich meinen Bruder Gort, Lovans Vater, verloren habe, wusste ich nicht mehr ein noch aus. Gort war nicht nur mein älterer Bruder, sondern wie ein Vater für mich. Nach seinem Tod haben Duir und ich Lovan zu uns genommen. Damals war sie noch ein Baby. Wir haben sie als unsere Tochter aufgezogen. „Und Lovans Mutter, warum ist Lovan nicht bei ihrer Mutter geblieben?“, fragte Ullren überrascht. „Gort hat sich das Leben genommen nachdem Lovans Mutter ihn verlassen und Lovans Zwillingsschwester mitgenommen hatte.“ „Lovan hat eine Zwillingsschwester? Aber warum ist Lovans Mutter denn weggegangen? Hat sie Gort und Lovan nicht geliebt?“ Ullren war entsetzt und konnte ihre Entrüstung nicht verbergen. „Oh doch, ich weiß das meine Schwägerin ihre Familie mehr geliebt hat als ihr eigenes Leben. Wir haben nie erfahren warum sie es getan hat.“ Ivy hatte Tränen in den Augen. Ullren ergriff ihre Hand und streichelte sie sanft. „Ich danke dir Ivy, dass du mir davon erzählt hast. Ich dachte bisher, dass in Walden niemand auch nur den Schatten von Schmerz und Traurigkeit kennt und nur deshalb so viel Freude und Güte überall zu empfinden ist. Wie entsetzlich muss es für Lovan gewesen sein ihre Eltern und ihre Zwillingsschwester auf diese Weise zu verlieren.“ Ivy blickte versonnen auf das funkelnde Wasser. „Sie hat alle Schmerzen ertragen, die einen Menschen ereilen können. Zwei Tage nach der Geburt ihrer Tochter wurde Laka von einem Raubvogel getötet. Jalam, der sich die Schuld daran gab, hat sie daraufhin verlassen. Über ein Jahr weinte sie jeden Tag bis sie keine Tränen mehr hatte. Eines Tages setzte sie sich unter Ygdars Zweige und rührte sich vierzig Tage lang nicht von der Stelle, ohne zu essen oder zu trinken. Als sie zurück kam, war sie ein neuer Mensch. Sie hatte erkannt, dass es keine Schuld gibt und sich selbst und dem Schicksal vergeben. Von diesem Tag an begann Lovan wieder zu leben und heute ist sie unsere Hathore, die wir verehren und lieben und ihr bedingungslos vertrauen.“ Ullren war erschüttert. Wie konnte sie nur geglaubt haben, dass nur sie Probleme hatte und sich so sehr verschließen, obwohl sie in ihrem tiefsten Innersten wusste, dass es von ihrem Glauben und Vertrauen abhing, dass alles sich zum Guten wandte. Hatte ihr nicht Ygdar Hoffnung gegeben? Sie hatte begonnen die Bäume zu verstehen, alle bemühten sich um sie und sie war an dem schönsten Platz auf Erden, den sie sich vorstellen konnte. Doch war sie weder zur Morgenstille ins Astrum mitgegangen, noch zum Canticum oder ins Seminarium. Sie hatte sich verschlossen und gegrübelt und sich zermartert mit ihren Sorgen. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Sie glaubte, dass sie kein Recht darauf hatte das Glück und die Schönheit in Walden zu genießen, solange sie ihre Kinder und Fallada in Gefahr wusste, Lovan und Jalam ihr Leben aufs Spiel setzten, um sie zu finden und Brac als Geächteter durch die Wälder irrte. Sie fühlte sich schuldig. Lovan hatte recht. Schuld half niemandem weiter. Im Gegenteil Schuld schaffte Abgründe, schwächte und verschlimmerte Alles. Egal ob sie die Schuld sich selbst gab oder anderen. Ullrens Gedanken schweiften zu Brac. Bewusst verbannte sie die Erinnerung an den griesgrämigen Handlanger Egoms und entschied sich dafür sich an ihn als den empfindsamen Schmiedemeister zu erinnern, der ihr Herz im Sturm erobert hatte.
Urs hatte seinen Blick zum Firmament erhoben und erhoffte sich weitere Sternschnuppen, die jedoch ausblieben. Seit Stunden folgte er Alda, die ihn im hellen Mondlicht durch den Wald führte. „Alda so warte doch, Alda“, rief Urs dem Schmetterling hinterher. „Und wenn die Sternschnuppen Zufall waren, was dann? Dann verplempern wir die Zeit hier anstatt auf den Berg zu gelangen.“ „Es gibt keine Zufälle Urs, so viel solltest du wissen. Alles hat seinen Sinn und ist von höherer Hand geplant. Du kannst jedoch nur die Zeichen erkennen, die du sehen und verstehen willst. Die anderen siehst du einfach nicht.“ „Hast du deshalb vor ein paar Tagen zu mir gesagt, dass es von mir abhängt wann ich ankomme Alda?“ „Ich sehe du machst Fortschritte Urs, genau so ist es.“ Und was kann ich tun, um mehr Zeichen zu erkennen?“ „Beobachten Urs, beobachte alles um dich herum. Überall sind Botschaften für dich versteckt.“ Urs wanderte im Gedanken versunken weiter. Würde er sich je erinnern woher er kam und wie er in den Wald gelangt war? Er atmete die erdige, nach frischen Pfifferlingen duftende Luft tief ein. Er begann zu pfeiffen und zu summen bis er schließlich ein Lied anstimmte, dass ihm einfiel, obwohl er nicht wusste, woher er es kannte:
„Ich geh vor mich hin. Der Wald ist mein zu Hause, die Nacht mein Segenreich. Ich such mir meine Hütte in der ich find mein Schatz. Ich geh vor mich hin. Der Wald ist mein zu Hause, die Nacht mein Segenreich.
Der Morgen begann bereits zu grauen und Urs war so müde, dass ihm während des Gehens bereits die Augen zufielen. Alda flog auf seine Schulter. „Noch ein paar Schritte. Ich habe das Gefühl wir sind gleich da.“ „Aber wir wissen ja nicht einmal wonach wir suchen.“ „Sobald wir es gefunden haben wissen wir, dass wir danach gesucht haben.“ Urs schüttelte den Kopf. Es war wirklich nicht einfach Alda zu verstehen. Sie schaffte es immer wieder ihn zu verwirren. Trotzdem ging er widerstandslos weiter. So weit seine Augen reichten, sah er weiße Birkenstämme in den Himmel ragen. Von Weitem hörte er das Klopfen eines Spechts, der mit seinem Schnabel ein Loch in einen Stamm schlug, um darin sein Nest zu bauen. Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die dichten Baumkronen und fielen wärmend auf sein Gesicht. Er blinzelte und rieb sich die müden Augen. Als er sie wieder geöffnet hatte, sah er plötzlich eine Hütte vor sich, die so perfekt zwischen die Bäume gebaut war, dass sie erst zu sehen war, wenn man direkt vor ihr stand. Obwohl sie klein und niedrig war, wirkte sie einladend mit einem gemütlichen Schindeldach und grünen Kletterpflanzen, die sich an ihren Wänden festgekrallt hatten und die Hütte ganz und gar bedeckten. Urs war stehen geblieben und starrte gebannt auf die Waldkate. „Ob jemand dort wohnt?“, wandte er sich fragend an Alda. „Lass es uns herausfinden“, antwortete ihm der Schmetterling resolut und setzte sich auf seinen Kopf. Urs fasste sich ein Herz. Er trat vor die Eingangstür und klopfte zaghaft. Keine Antwort. Wieder klopfte er, abermals blieb es still. Beim dritten Mal pochte Urs so fest er konnte mit der rechten Faust an die Tür und rief: „Hallo, ist da wer? Hallo!“ Nichts geschah. Urs lauschte und versuchte Schritte auszumachen. Abermals blieb alles ruhig. Beherzt drückte Urs schließlich den Knauf nieder. Die Tür war nicht verschlossen und sprang knarzend auf. Zuerst schreckte Urs zurück, bis schließlich seine Neugierde siegte und er einen Schritt nach vorn machte, um besser in den Innenraum der Hütte spähen zu können. Er konnte kaum etwas sehen, weil es stockdunkel war. „Los lass uns hineingehen“, forderte Alda ihn auf. Zögernd trat Urs über die Schwelle und begann die Holzläden der beiden einzigen Fenster zu öffnen. Mit einem Schlag flutete das Sonnenlicht wie ein glizternder Bach durch die Hütte. Unter dem Dach und in den Ecken hingen dichte Spinnweben. Außer einem Bettrost auf der eine Hanfmatte lag, einer Kinderkrippe mit einer verschimmelten Stoffpuppe, einem Tisch und einer Sitzbank, gab es keinerlei Möbel. Über einer offenen Feuerstelle links neben dem Eingang hing ein Topf und eine Schöpfkelle. Auf dem Boden standen zwei Körbe, die mit einer dicken Staubschicht überzogen waren. Neben der Feuerstelle waren mehrere Reihen Brennholz aufgestappelt. Wie es schien hatte seit Jahren niemand mehr einen Fuß in die Hütte gesetzt. Urs roch an der Hanfmatte und rümpfte die Nase. „Die muß gelüftet werden. Sie stinkt erbärmlich nach Mäusedreck.“ Er hob die Matte von dem Bettgestell und warf sie aus dem Fenster ins Gras. „Sieh nur, unter dem Bett liegt etwas“, machte ihn Alda auf einen violetten Gegenstand aufmerksam, der unter den Holzlatten des Bettrosts zum Vorschein gekommen war. Urs bückte sich und brachte ein ledergebundenes Buch zu Tage. Er blies die dicke Staubschicht vom Einband. In goldenen Lettern stand der Name „Linde“ darauf geschrieben. Urs schlug die erste Seite auf. Es war handgeschrieben in der eleganten Schrift einer gebildeten Frau. Die ersten zwanzig Seiten waren von Motten zerfressen und von der Feuchtigkeit unleserlich gemacht. Urs blätterte weiter bis er zu einer kurzen leserlichen Passage des Buches gelangte:
Die Tage vergehen wie im Flug. Seit vierzig Tagen sind wir bereits im Wald. Ich weiß nicht was aus mir und Malva werden wird. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich stehe morgends auf und schüre das Feuer an, suche Beeren und Pilze im Wald und hole Wasser aus dem Bach. Malva nehme ich fast immer mit, weil ich Angst habe, dass ihr etwas zustößt, wenn ich sie alleine lasse. Nur wenn sie sehr tief schläft, dann wecke ich sie nicht und bleibe in der Nähe. Sie ist so klein und hilflos.
Urs hatte sich auf die Sitzbank vor den Tisch gesetzt und war vollkommen in die Zeilen vertieft, die ihn zutiefst anrührten. Er spürte die Verzweiflung der Schreiberin zwischen jeder einzelnen Zeile. Er fühlte sich ihr verwandt. Auch sie war heimatlos, ebenso wie er. Alda hatte sich auf seiner Schulter niedergelassen und flüsterte ihm zu: „Siehst du, wenn wir es gefunden haben, wissen wir, dass wir danach gesucht haben.“
Urs war in der Nähe der Hütte unterwegs, um Spuren von Linde und Malva zu suchen. Wo konnten sie hingegangen sein? Warum waren sie so schnell aufgebrochen, dass sie alles zurückgelassen hatten? Er wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr Geheimnis lüften musste, um sich zu erinnern, wer er war. Obwohl es seit Tagen regnete, streifte er unermüdlich durch den Wald und suchte jeden Baumstamm, jeden Busch nach einem Zeichen ab. Ohne Erfolg. Er fand nicht den geringsten Hinweis. Die Tage verstrichen. Wie Linde ernährte Urs sich von Beeren, Pilzen und Nüssen, die er reichlich im Wald fand. Jeden Tag schöpfte er aufs neue Hoffnung etwas über Lindes und Malvas Verbleib herausfzufinden, um stets bei Anbruch der Dunkelheit enttäuscht in die Hütte zurückzukehren. Alda wich nicht einen Moment von seiner Seite, hüllte sich jedoch in Schweigen. „Kannst du mir nicht helfen herauszufinden wo sie sind Alda?“, bat Urs inständig und schaute Alda mit traurigen Augen an. „Wo soll ich denn noch suchen? Ich habe jeden Stein umgedreht, nichts, sie sind einfach verschwunden. Wie soll es denn weitergehen mit mir?“ Alda streichelte ihm sanft über die Wange. „Gib nicht auf Urs. Wer sucht, der findet. Auch wenn es noch so auswegslos erscheint.“ Abends setzte er sich vor den Kamin und las immer wieder in Lindes Tagebuch, die wenigen Seiten, die von der Feuchtigkeit verschont worden waren:
Malva ist mein einziger Trost, mein Sonnenschein. Sie erinnert mich an ihren Vater, den ich so schmerzlich vermisse.
Ein Käfer hatte ein Loch in die Seite gebissen und damit den Beginn des nächsten Satzes unleserlich gemacht.
... ist mein kleiner Engel. Ich weiss nicht wie ich ohne die beiden leben soll. Aber ich muss stark sein für Malva.
Urs schaute in die züngelnden Flammen des Kaminfeuers, dass knisternd und zischend das Reisig und die duftenden Tannenzapfen verbrannte, die er ins Feuer geworfen hatte.
Die Prüfung
Eufe kam zu sich. Ihr Kopf schmerzte. Langsam schlug sie die Augen auf und erinnerte sich. Sie waren in einen Wirbelsturm geraten und hatten das Bewusstsein verloren. Mühsam richtete sie sich auf. Sie befand sich in einem riesigen Käfig mit goldenen Gitterstäben. Außer ihr war niemand zu sehen. Eufe geriet in Panik. Wo waren die anderen? Wieso waren sie nicht mehr bei ihr? „Aruuuuuccccc, Faaaaalllaaaaaadaaaaa, Liiiiiiiiiiiiiiiieeeesssliiiiiiiiiiiiiiiii, Kaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaliiiiiiiiii“ schrie sie so laut sie konnte ohne eine Antwort zu erhalten. Alles blieb still. Nur das Echo ihrer eigenen Stimme hallte zu ihr zurück. Wieder schrie Eufe verzweifelt: Aaaaaaaaaaaaaarrrrrrrrrruuuuuuuuuuucccccccccccc, wo seit ihr?“ Im Stillen befahl sie sich, ruhig zu bleiben. Sie sind bestimmt nicht weit und kommen dich holen. Wenigstens hatte sie ihren Rucksack bei sich. Eufe fröstelte und zog einen blauen Wollumhang aus dem Beutel. Sie fürchtete sich grenzenlos. Der Käfig war vollkommen leer, außer einer Holzschaukel, die in schwindelerrengender Höhe über ihr hing und mit weißen Blumengirlanden geschmückt waren. Eufe schloss die Augen und betete: „Amo hilf mir, ich brauche dich. Wie soll ich hier heraus kommen?“ „Es stellt sich eher die Frage, warum du hier bist meine Schöne.“ Eufe öffnete erschrocken die Augen und sah auf einer der Schaukeln den schönsten Vogel sitzen, den sie je gesehen hatte. Er war von einem seltenen türkisblau. Sein Schwanz war lang und buschig und schillerte. Eufe schaute den Vogel verdattert an. „Ich bin Fonaskus, der Phönix. Mach dir keine Sorgen um deine Freunde. Es geht ihnen gut und wenn es an der Zeit ist, wirst du sie wiedersehen.“ „Aber wieso bin ich in einem Käfig? Und warum sind meine Freunde nicht mehr bei mir? „Weil du das Rätsel des goldenen Käfigs nur alleine lösen kannst.“ Eufe war sprachlos. Fonaskus schien sie nicht weiter zu beachten und begann sich hingebungsvoll die langen Federn zu putzen, während er auf der Schaukel hin und her wippte. Endlich hatte Eufe sich wieder gefasst und entgegnete ihm empört. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, dass ich hier eingesperrt bin, weil ich ein Rätsel lösen soll. Warum muss ich denn dazu eingesperrt sein?“ Fonaskus polierte eine seiner längsten Schwanzfedern, indem er sie beflissen durch seinen Schnabel zog und antwortete ruhig: „Das wirst du verstehen können, wenn du es gelöst hast.“ Eufe war aufgestanden. Ihre Angst war wie weggeblasen. Sie war wütend. Sie war nicht aus dem Turm geflohen, um in einem Käfig eingesperrt zu sein. „Und was soll das für ein Rätsel sein?“, fragte sie den Phönix gereizt. „Das musst du selbst herausfinden meine Schöne.“ „Ich bin nicht deine Schöne, ich heiße Eufe“. „Willkommen im goldenen Käfig Eufe“, antwortete Fonaskus ihr ungerührt. „Jetzt muss ich fort. Ich komme wieder, wenn du bereit bist.“ Bevor Eufe Zeit hatte ihm etwas zu erwidern, war er verschwunden. Eufe starrte auf die leere Schaukel, die gespenstisch vor und zurück wippte. Sie war wütend, so sehr, dass sie kaum atmen konnte. „Warum bin ich hier? Was soll das alles? Erst bin ich im Turm eingesperrt und jetzt in einem Käfig. Warum? Was hat das alles für einen Sinn?“ Eufe trat wütend mit dem Bein gegen die Gitterstäbe, die keinen Milimeter nachgaben. Irgendwie musste sie sich abreagieren. Hektisch begann Eufe auf und ab zu gehen. Auf und Ab. Auf und ab bis sie sich schließlich strampelnd auf den Boden fallen ließ und so lange um sich schlug, bis sie keine Kraft mehr hatte und mit starren Augen, die nichts wahrnahmen, liegen blieb. Unvermittelt erinnerte sie sich an Ullrens Worte an jenem letzten gemeinsamen Nachmittag auf dem Turmgarten von Inthorm. Vertraue, ganz egal wie sehr dein Verstand dich oft prüfen möge, vertraue auf deine göttliche Essenz. Dein Vermächtnis ist die Liebe.
Aber sie empfand alles andere als Liebe. Sie war enttäuscht, wütend und verbittert. Ihre Eltern hatten sie verlassen als sie noch ein Baby war, Ullren war weit weg und jetzt hatte sie auch noch ihre einzigen Freunde verloren. Sie hatte es satt eingesperrt und allein zu sein. Diesmal würde sie Amo nicht betteln ihr zu helfen. Es nützte ja doch nichts, weil sie immer wieder in dieselbe Lage kam. Wenn sie nichts zu sich nahm, weder Essen noch Trinken würde sie sterben. Und genau das hatte sie vor. Damit wäre allen geholfen und Egom würde vergeblich versuchen sie zu finden. Mit versteinertem Gesicht blieb Eufe auf dem Boden liegen. Sie war bereit zu sterben. Dann hatte sie es wenigstens hinter sich.
Aruc saß vor einem Steinhaufen, der so hoch war wie ein Haus. Der Sturm hatte ihn auf magische Weise aus den Höhlen ins Draußen geweht. Allerdings gab es um ihn herum nichts, außer dem Steinhaufen. Kein Baum, kein Busch, kein Haus, nicht einmal ein Grashalm war zu sehen. Langsam richtete er sich auf. Sein Rücken schmerzte. Wo waren die anderen? „Hey Eufeeeee, Fallaaaaaadaaaa“. Nichts. „Liiiiieeeesssliiiiii, Kaaaaalllliiiiiiiii“. Die Steine verschluckten seine Rufe. „Verdammt, wo seit ihr?“ Es musste mittags sein, weil es brütend heiß war und die Sonne ihm senkrecht auf den Kopf brannte. Aruc drehte sich um die eigenen Achse. Das war kein gewöhnlicher Steinhaufen vor ihm. Plötzlich wusste er wo er war und sein Puls begann zu rasen. Er war auf einem von Egoms Steinbrüchen, in denen Sklavenarbeiter nach Gold und Edelsteinen schürfen mussten. Aber er konnte nicht eine Menschenseele entdecken. Noch während er sich darüber wunderte, hörte er hinter sich eilige Schritte, die näher kamen. Wie eine Marionette, deren Gliedmaßen durch das Ziehen an einzelnen Fäden bewegt wurden, drehte er sich um. Er fühlte die Adlerfeder in seiner linken Hand und sah sich einer Gruppe von ausgemergelten, dreckstarrenden Männern gegenüber, die ihre Blicke teilnahmslos auf den Boden gerichtet hielten. Sie wurden von einem peitschenschwingenden Aufseher angetrieben, dessen Gesicht eine einzige Pockennarbe war. Er baute sich vor Aruc auf und griente. „Wen haben wir denn da? Ein Neuzugang. Und noch dazu jung und kräftig. Das lob ich mir. Los Bursche. Du kommst mit. So was wie dich brauchen wir hier.“ Der Ton seiner Stimme gestattete keine Widerrede. Aruc brachte kein Wort über die zusammen gepressten Lippen. Widerstandslos folgte er dem Sklaventrupp in das Innere des Steinbruchs, dessen Eingang sich hinter einem Berg von Säcken befand. Es stank entsetzlich nach Schwefelsäure, die sich in den Stein geätzt hatte und überall verspritzt wurde um den Stein auszuhöhlen und die Arbeit der Sklaven zu beschleunigen. Aruc presste sich die Hand vor den Mund. „Mach keine Faxen du Memme. Gewöhn dich besser gleich an den Gestank. So schnell kommst du hier nicht mehr raus, falls überhaupt.“ Der Aufseher gröhlte vor Lachen. Er stand so dicht vor ihm, dass Aruc die verfaulten Zahnstumpen in seiner Mundhöhle sehen konnte. Das werden wir ja sehen, dachte Aruc insgeheim, erwiderte jedoch kein Wort. Er musste hier rauskommen und Eufe, Fallada und die Untersberger Glühmandln finden. Bestimmt warteten sie auf ihn ganz in der Nähe. Aruc hatte sich die Adlerfeder unbemerkt in die Hosentasche gesteckt. Durch ein kleines Loch spürte er den Flaum Aruc war sich sicher, dass es kein Zufall war, dass er ausgerechnet die Feder in der Hand hielt, als ihn der Wirbelsturm erfasste. Der Aufseher packte ihn unsanft an der Schulter und drückte seinen Kopf in den Staub. Mit groben Händen klopfte er seine Taschen ab und zog triumphierend Arucs Messer aus seinem Gürtel. Nachdem er Aruc den Rucksack von den Schultern gerissen hatte, drückte er ihm eine Schaufel in die Hand und wies ihm einen Erdhügel zum Graben an. Neben ihm gruben zwei Männer, die bis auf die Rippen abgemagert waren. Jeder Atemzug löste ein rasselndes Pfeifen in ihren Kehlen aus. „Hey ich bin Aruc“, grüßte er sie ohne eine Antwort zu bekommen. „Wie heißt ihr?“ „Ruhe, Ruhe verdammt noch mal“, brüllte der Aufseher und zockte mit seiner Peitsche in der Luft. „Seit ihr schon lange hier?“ flüsterte Aruc. Keiner von ihnen schenkte ihm Beachtung. So schnell wollte Aruc sich nicht geschlagen geben. „Wisst ihr wie wir hier rauskommen?“ „Psst, du hast doch gehört, wir dürfen nicht miteinander sprechen“, bemühte sich der etwas jüngere von den beiden ihn zum Schweigen zu bringen. „Sonst peitscht er dich aus“, fügte der Ältere hinzu. „Hey du da, Schnauze.“ Ohne Vorwarnung holte der Aufseher mit der Peitsche aus und ließ sie auf den Sklaven niedersausen. Instinktiv hechtete Aruc sich vor den ausgemergelten Mann und fing den Hieb mit seiner bloßen Hand ab. Der Rest der Sklavenarbeiter hatte aufgehört zu arbeiten und beobachtete Aruc ehrfürchtig. Bebend vor Wut schrie ihm der Aufseher ins Gesicht: „Du Dreckskerl wirst mich noch kennenlernen. Du hast verdammtes Schwein, dass wir frische Arbeiter brauchen, sonst würde ich dich jetzt zu Brei schlagen.“ Aruc hielt seinem hasserfüllten Blick stand. Er spürte weder Angst, noch Wut, nur das Kitzeln der Adlerfeder an seinem Oberschenkel.
Eufe wusste nicht wie lange sie schon teilnahmslos in dem Käfig sass und vor sich hinstarrte. Sie hatte längst jeden Zeitbegriff verloren. Sie empfand weder Hunger noch Durst, nicht einmal Müdigkeit. Obwohl sie sich vorgenommen hatte an nichts zu denken und einfach zu warten bis sie einschlafen würde, um nicht mehr aufzuwachen, zwängten sich ihre Gedanken wie durch Mauerritzen flitzende Mäuse unaufhaltsam in ihren Kopf. Ihr kam der Traum in den Sinn in dem sie sich in den zugefrorenen See hatte fallen lassen und ihr Amo die drei Fragen gestellt hatte: „Wer bist du? Wo gehst du hin? Was machst du hier?“ Eufe wurde wieder wütend. Sie wusste ja nicht wer sie war, sie konnte nirgends hingehen, war sie wieder einmal eingesperrt und sie hatte nicht die geringste Ahnung wozu sie überhaupt auf der Welt war. Eufe erinnerte sich an das Reich der hohen Faune. Fallada hatte ihr geraten die Botschaft der Faunin gut zu verwahren. Na und? Jetzt brauchte sie sich nicht mehr zu kümmern, vor allem um keine Botschaften. Sie weigerte sich weiter an diese Dinge zu denken. Eufe hatte genug von allem. Es war doch zu nichts nütze. Sie endete nur immer wieder in einem Gefängnis. Eufe versuchte sich abzulenken, indem sie begann die Gitterstäbe des Käfigs zu zählen. Da sie sich wieder und wieder verzählte und von vorne anfangen musste, ließ sie es schließlich bleiben. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus, ein und aus, ein und aus. Ohne zu wissen wie ihr geschah rezitierte Eufe schließlich laut: „Du bist gekommen, um zu verwandeln: Angst in Vertrauen, Gewalt in Güte, Widerwärtigkeit in Grazie, Hochmut in Einfachheit, Hass in Liebe, Trostlosigkeit in Freude, Häßlichkeit in Schönheit, Trennung in Einheit.“ Das ist die Botschaft der Faunsängerin schoss es Eufe durch den Kopf. Ihre rechte Schulter schmerzte. Ihre Hand war zu einer Faust gekrümmt. Langsam öffnete sie die verkrampften Finger, die um den metallisch leuchtenden, blaugrün changierenden Schmetterlingsflügel geschlossen waren, der unversehrt und geheimnisvoll in ihrem Handteller lag. Eufe musste unwillkürlich daran denken, wie Ullren ihr einmal im Turmgarten eine Raupe gezeigt und behauptet hatte, dass daraus ein wunderschöner Schmetterling werden würde. Und weil Eufe ihr nicht geglaubt hatte, begannen sie die Raupe zu beobachten bis sie eines Tages verschwunden war und an ihrer Stelle ein ovales Ei mit einem Filzmäntelchen übrig geblieben war. „Die Raupe ist da drin eingeschlossen“, hatte Ullren ihr erklärt. „Sie kann erst herauskommen, wenn ihr Flügel gewachsen sind und sie sich zum Schmetterling verwandelt hat.“ Daraufhin hatten sie die braune unscheinbare Hülle im Auge behalten bis sie sie Monate später aufgebrochen und leer vorfanden und über ihren Köpfen ein wunderschöner gelber Schmetterling tanzte. Eufe blickte sich im Käfig um. Außer der blumengeschmückten Schaukel gab es keine weiteren Gegenstände, die ihre Aufmerksamkeit erregt hätten. Der Käfig war leer. Fonaskus hatte zu ihr gesagt, dass sie eingesperrt war, weil sie nur allein das Rätsel des goldenen Käfigs lösen konnte. „Soll aus mir ein Schmetterling werden?“ Eufe hatte laut überlegt. „So ungefähr, du kommst der Lösung langsam näher“, antwortete ihr Fonaskus. Erschrocken drehte Eufe sich um und sah sich erneut dem Phönix gegenüber, dessen bunte Schwanzfedern wie ein königlicher Umhang hinter ihm auf dem Boden schleppten. „Aber aus mir kann doch kein Schmetterling werden Fonaskus.“ „Nicht direkt, aber auch du hast wie der Schmetterling eine Metamorphose vor dir.“ „Was ist denn eine Me....Metamofase?“ „Metamorphose meine Schöne. Damit ist eine Verwandlung gemeint.“ Das Wort Verwandlung traf Eufe wie ein Hammer. „Du bist hier um zu verwandeln“, hatte ihr die Faunsängerin mitgeteilt. Aber in was sollte sie sich selbst verwandeln? „Überlege Eufe, ich kann dich erst gehen lassen, wenn du mir diese Frage beantworten kannst.“
Aruc wuchtete einen Sack nach dem anderen auf seinen Rücken und schleppte ihn quer über den Steinbruch, wo mehrere Sklaven damit beschäftigt waren die Erde nach Gold zu sieben. Der Staub kroch ihm in die Lungen. Er keuchte und hatte ein taubes Gefühl in seiner Wirbelsäule von den Lasten, die er seit Tagen bis tief in die Nacht schleppte. Der Aufseher ließ ihn keine Sekunde aus den Augen und war versessen darauf ihn bei einer Übertretung der Regeln zu erwischen, um ihn auszupeitschen. Aruc hatte kein Wort mehr gesprochen, seit er sich vor den Sklaven gestellt hatte, um ihn vor dem Peitschenhieb zu schützen. Er verrichtete hochaufgerichtet seine Arbeit, verweigerte jegliches Essen und schien trotzdem von Tag zu Tag zu wachsen und stärker zu werden. Das einzige was er zu sich nahm war frisches Wasser aus einer Quelle, in der Nähe des Steinbruchs. Einmal am Tag durften sie sich dort unter den Argusaugen des Aufsehers waschen und ihren Durst löschen. Keiner der anderen wagte es das Wort an ihn zu richten, weil sie fürchteten dafür bestraft zu werden. In der Nacht wurden sie angekettet, um nicht zu fliehen. Wenn alles still im Lager war und selbst der Aufseher grunzend in seinem Zelt vor sich hin schnarchte, während die Sklaven mit der bloßen Erde Vorlieb nehmen mussten, lag Aruc wach und wartete. Seit der ersten Nacht im Lager kam jede Nacht ein Adler zu ihm, der sich in seiner Nähe auf einen Stein setzte, und ihm immer die gleiche Frage stellte: „Nun hast du inzwischen erkannt warum du hier bist?“, erkundigte sich der Adler forschend. „Geduld“, hatte Aruc ihm geantwortet. „Stimmt Geduld ist Teil deiner Aufgabe, aber längst nicht alles.“ Aruc grübelte jeden Tag, während er die Lasten im Steinbruch stemmte, über diese eine Frage nach. Er nahm nichts wahr um ihn herum. Neben der körperlichen Anstrengung zermartete er sich das Gehirn, um die Antwort zu finden, von der sein Leben abhing. In der siebten Nacht, nachdem ihn der Adler erneut gefragt hatte: „Nun hast du inzwischen erkannt warum du hier bist?“, antwortete Aruc „Beherrschung“. „Auch das ist richtig Aruc, sogar ein sehr wichtiger Punkt, aber es ist längst noch nicht alles. In der darauffolgenden Nacht antwortete Aruc „Stärke“. „Das stimmt, aber es ist noch nicht alles.“, nickte der Adler ihm in der Dunkelheit wohlwollend zu. Tagsüber schindete Aruc sich im Steinbruch, während er an nichts anderes dachte, als endlich die Lösung des Rätsels zu finden. In den kommenden Nächten versuchte er den Adler mit „Sicherheit“, „Edelmut“, „Großzügigkeit“, „Verantwortung“ zu überzeugen und bekam immer die gleiche Antwort: „Das stimmt, aber es ist noch nicht alles.“ In der zwanzigsten Nacht verlor Aruc die Geduld und flüsterte ungehalten: „Verdammt noch mal, was soll ich denn noch lernen hier. Ich muss hier raus und Eufe finden und meiner Mutter helfen.“ Der Adler fixierte ihn mit seinen schwarzen Vogelaugen und sprach, ohne seine Stimme zu verändern: „Das stimmt, aber das ist längst noch nicht alles.“ „Verdammt kannst du irgend etwas anderes von dir geben?“ Ohne ihn weiter zu beachten flog der Adler davon und lies Aruc stehen. In seiner Aufregung hatte Aruc vergessen zu flüstern. „Hei....wwwaaasss iiiisstttt Mmmaaannn“, schreckte einer der Sklaven aus dem Schlaf. Er zitterte und war so ausgemergelt, dass er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Aruc hatte mehrfach versucht ihm die schwersten Säcke abzunehmen, aber er hatte es immer abgelehnt, aus Angst vor dem Aufseher, obwohl er dem Zusammenbruch nahe war. „Schschschh....ist schon gut. Schlaf weiter, alles gut.“ Aruc legte sich zurück auf die Erde, neben die schlafenden Männer. Manche von ihnen schufteten seit Jahren im Steinbruch. Die einzige Nahrung, die ihnen zugestanden wurde, waren verwurmte Fleischabfälle, Fettstücke und zerkleinerte Innereien. Ihre Haut war grau und schlaff, ihre Gesichter eingefallen und selbst den Jüngeren unter ihnen waren fast sämtliche Haare und Zähne ausgefallen. Die meisten von ihnen hatten tiefe Narben auf dem Rücken von den Peitschenhieben, die ihnen der Aufseher regelmäßig versetzte, wenn sie vor Schwäche einen der Säcke fallen ließen oder sich versuchten ein paar Goldbrösel selbst in die Tasche zu stecken. Aruc wusste was er zu tun hatte. Er würde sich selbst und diese armen Schweine befreien. Er war nicht bis hierher gekommen, um sich von einem perversen Sklaventreiber fertig machen zu lassen und zuzusehen wie er Menschen erniedrigte und sie Stück für Stück zerstörte. Aruc erinnerte sich an Perchta und seine Kinderzeit. Er sah die Leiche des grauen Katzenjungen vor sich wie es zerfleddert im abgestandenen Wasser des Holzzubers trieb. Damals war er ängstlich und unsicher gewesen. Doch heute war es anders. Er spürte das glatte Pflanzenband um seinen Hals. Der Aufseher hatte ihn ausgelacht dafür und geschrien: „Na da hast du ja schon ein Hundehalsband um, so wie es sich für euch Viecher gehört.“ Aruc war still geblieben und hatte sich keine Gefühlsregung anmerken lassen, was den Aufseher noch mehr in Rage brachte. „Dich werde ich noch kriegen verlass dich drauf“, hatte er Aruc zugeflüstert und mit der Peitsche gedroht. Leise, so dass nur er selbst es hören konnte, antwortete Aruc: „Das werden wir ja sehen. Du wirst noch dein blaues Wunder erleben.“ Aus dem Zelt des Aufsehers drang grunzendes Schnarchen zu ihm. „Schlaf nur, so lange du es noch kannst.“
Dichte Wolken hingen über Inthorm. Der einst blühende Turmgarten von Ullren war auf Befehl Egoms von den Soldaten dem Erdboden gleichgemacht worden. Sie hatten die blühenden Goldregen und Fliederbüsche brutal aus der Erde herausgerissen und über die Zinnen in den Fluß geworfen. Von den Blumen- und Gemüsebeeten war nicht mehr als ein Haufen aufgeschütteter Erde übrig geblieben. Selbst die Eberesche lag gefällt und in Brennscheite zerschlagen im Gras. Alle Hühner waren aus ihrem Gehege verschwunden und stackten stattdessen gerupft und gesalzen auf großen Grillspießen über dem Holzkohlenfeuer der Turmküche. Egom wartete ungeduldig auf Nachricht von Malva, die seit über einer Woche mit seinen besten Soldaten unterwegs war. Er war nervös und gereizt und suchte nach Ventilen für die Wut, die in ihm brannte wie ein gefährliches Schwelfeuer, das jeden Moment ausbrechen konnte und alles was ihm in die Quere kam in seiner hemmungslosen Gier versengte. Sein Kammerdiener, der ihn seit über dreissig Jahren ankleidete und von vorne und hinten bedienen musste, hatte ihm aus Versehen ein Glas Rotwein über seine weiße Kutte geschüttet. Dafür wurde er von Egom in den Kerker geworfen und gefoltert. Er hing drei Tage und drei Nächte mit dem Kopf nach unten an einem Fleischerhaken bis ihm das aufgestaute Blut die Hirnschlagader eingedrückt hatte. Seither konnte er nicht mehr gehen, nicht mehr sprechen, nicht mehr essen. Als Egom ihn sich vorführen ließ, rannen dem Kammerdiener die Speichelfäden aus dem sabernden Mund. Sein Gesicht war zu einer schiefen Fratze verzogen. Egom wandte sich angeekelt ab und befahl, dass er im Kerker unter Ratten und Ungeziefer aufbewahrt werden sollte bis er von alleine verhungert war. Um sich von der Warterei abzulenken, beschloss Egom einem seiner Steinbrüche einen Besuch abzustatten. Das würde ihn auf andere Gedanken bringen. Er liebte den Anblick von Gold und Edelsteinen, das für seine Schatzkammern bestimmt war. Kaum hatte er in die Hände geklatscht und „anspannen“ gerufen, schon meldete ihm sein neuer Kammerdiener, dass alles zum Aufbruch bereit war. Dem Mann steckte der Schock über das grausame Schicksal seines Vorgängers so tief in den Knochen, dass er sich geschworen hatte, alles zu tun, um nur ja nicht in die Ungnade Egoms zu fallen. „So lob ich mir das“, tätschelte ihm Egom gönnerhaft den Kopf, während er sich seine Kapuze zurechtzog. Einer seiner weißen Handschuhe war zurückgerutscht und entblößte eine näßende Wunde, auf der sich eine gelbliche Kruste gebildet hatte. Seit der Flucht Eufes hatte er noch mehr gegessen als üblich und war so aufgedunsen und fett, dass es drei Dienern bedarf, die ihn in die Kutsche hieven mussten. Zwei Dutzend schwerstbewaffneter Soldaten begleiteten Egom. Der Kutscher pfiff ins Martinshorn und umgehend setzte sich die Karawane in Bewegung. Auf den Feldern um Inthorm herum, waren die Bauern noch immer mit der Heuernte beschäftigt. Als sie Egoms Kutsche erkannten, unterbrachen sie ihre Arbeit, rissen sich devot die Strohhüte vom Kopf und verneigten sich so tief, dass ihre Scheitel die Erde berührten. Egom hatte es eilig und schenkte ihnen keine Beachtung. Im gestreckten Galopp zogen die Pferde die Kutsche über den holprigen Feldweg und machten erst Halt als sie vor dem Steinbruch angelangt waren. Es war auf den Schlag zwöf Uhr Mittags. Die Sklaven knieten zusammengesunken vor den aufgeworfenen Erdhaufen über ihren Essensschüsseln und schlangen gierig halb verschimmeltes Pökelfleisch in sich hinein. Nur Aruc saß abseits und rührte nicht einen Bissen an. Er hatte die Augen geschlossen und hockte mit überkreuzten Beinen hochaufgerichtet auf einem Stein am Rande des Steinbruchs. Seit Tagen dachte er an nichts anderes als an seine Flucht und die Befreiung der Sklaven. Er spürte, dass es nicht mehr lange dauerte bis sich die Gelegenheit dazu bieten würde. Er musste nur im entscheidenden Moment bereit sein und schnell handeln. Obwohl er die angenehme Ruhe der Mittagspause genossen hatte und ihn die klappernden Holzlöffel der Sklavenarbeiter, die rythmisch in ihren Essschüsseln stocherten, müde gemacht hatten, spürte Aruc von einem Moment zum anderen eine tödliche Bedrohung, die sich ihm näherte. Instinktiv öffnete er die Augen und sah mit Entsetzen Egoms weiße Kutte, nur ein paar Schritte entfernt,vor sich in der Sonne leuchten. Aruc wurde es flau im Magen. Er durfte keinesfalls die Nerven verlieren. Der Tyrann hatte ihn noch nicht bemerkt, weil er griesgrämig damit beschäftigt war die Begrüßungsfloskeln des Aufsehers abzuschmettern. Aruc sprang auf die Füße und wuchtete sich den erstbesten Erdsack über die Schulter. Tief gebückt, Oberkörper und Kopf fast vollkommen von seiner Last bedeckt, mischte er sich unter die Sklaven, die wegen Egoms Besuch vorzeitig aufgehört hatten zu Essen und ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten.
Die Erkenntnis
Eufe verspürte weder Hunger noch Durst. Immer wieder grübelte sie über die Worte von Fonaskus nach. Er hatte gesagt, dass sie eine Verwandlung vor sich hatte, so wie ein Schmetterling. Erschöpft vielen ihr schließlich die Augen zu. Sie versank in einen tiefen Schlaf. Im Traum sah sie sich mit Ullren im Turmgarten unter der Eberesche sitzen. Alles war genauso wie an ihrem letzten gemeinsamen Nachmittag. Ullren begann für sie zu singen. Zuerst konnte sie die Worte nicht verstehen, bis sich klare Sätze formten:
Du lernst vom Baum des Lebens die Weisheit und den Tanz. Phönix aus Garten Eden zeigt deiner Stimme Glanz. Nun schau auf zu den Wolken und wisse wer ich bin. Immram.
Als Ullren geendet hatte, verschwand sie ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Turmgarten verblasste. Eufe schlug die Augen auf. Sie fühlte sich eigentümlich getröstet. Leise summte sie das Lied, dass ihr Ullren viele Male vorgesungen hatte, wenn sie sich unbeobachtet wussten. Unwillkürlich begann Eufe zu singen: „Phönix aus Garten Eden zeigt deiner Stimme Glanz ...“ Mit einem Sprung war Eufe auf den Beinen. Natürlich, warum war sie nicht schon eher darauf gekommen. „Fonaskus, Fonaaaaaassskussss. Ich habe das Rätsel gelöst.“ „Ist ja schon gut. Deshalb brauchst du nicht so zu schreien“, beschwerte sich der Phönix, der über ihr auf der Schaukel aufgetaucht war. „Du sollst mich lehren zu singen Fonaskus.“ Der Phönix wippte leicht auf der Schaukel hin und her. „Nicht ganz meine Schöne. Ich soll dir den Glanz deiner Stimme zeigen.“ Mit einem Satz landete er vor Eufes Füßen: „Nimm deinen Rucksack und steig auf meinen Rücken.“ Eufe folgte ihm widerspruchslos und Fonaskus flatterte auf die Schaukel. Zuerst begannen sie langsam hin und her zu schwenken, dann immer schneller und schneller. Es kribbelte in Eufes Magen und sie wurde schwindelig. „Halt Fonaskus, halt, mir ist schwindelig. Ich falle herunter“. Der Phönix nahm keine Notiz von Eufes Protest und begann höher und höher zu schaukeln. Eufe krallte sich an seinem glatten Gefieder fest. Die Schaukel hatte fast ihren höchsten Punkt erreicht. Eufe spürte einen ziehenden Schmerz in ihren Eingeweiden. Instinkitv zwickte sie die Augen zusammen und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Ihr Herz raste. Ein gellender Hilfeschrei blieb ihr in der Kehle stecken, als die Schaukel sich nicht wie erwartet überschlug, sondern zunehmend an Höhe verlor bis sie zum Stillstand kam. Als Eufe vorsichtig die Augen aufschlug war der Käfig mit samt der Schaukel und Fonaskus verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Sie stand ganz alleine auf einer Bergspitze. Ihrem ersten Impuls folgend begann Eufe laut zu rufen: „Fonaskus, Fonaskuuuuuuussssss wo bist du?“ „Fonaskus, Fonaskuuuuuuussssss wo bist du?“, schallten die Worte ein zweites mal zu ihren Ohren. Verdutzt rief Eufe: „Aruuuuuucccccc, Faaaaallllaaaaaddaaaaaa, Lieeeeessssliiiiiii, Kaaaaarrrliiiiiiii“. Erneut schien jemand ihre Rufe in der gleichen Reihenfolge zu wiederholen. Eufe drehte sich einmal um die eigene Achse, um herausfzufinden wer sie nachahmte, konnte aber niemanden entdecken. Außer ihr war kein Mensch zu sehen. In ihrem Rücken lag das Tal und vor ihr ragte eine riesige Felswand in den Himmel. Wenn sie sich leicht nach vorne beugte, tat sich ein schwindelerregender Abgrund vor ihr auf. Noch bevor sie wusste wie ihr geschah, schwebte Fonaskus über ihr und landete zu ihren Füßen. Kurz angebunden befahl er: „Sing ein Lied“. Eufe musste nicht lange überlegen, weil sie nur ein Lied auswendig kannte. Fonaskus strenger Gesichtsausdruck ließ keine Widerrede zu. Mit zitternder Stimme begann Eufe zu singen: „Ein Weg liegt vor dir, ein Weg der führt dich weit“. Eufe stutzte. Wieder schien jemand, der sich in der Felswand verborgen hatte, ihren Gesang nachzuahmen. „Dem Ruf des Himmels folgst du ganz ruhig und frei und leicht.“ Die Stimme aus dem Nichts blieb hartnäckig. Eufe begann Gefallen an dem Spiel zu finden und legte ihre ganze Ausdrucksskraft in den Gesang. Als sie geendet hatte und auch die Stimme des Berges den letzten Satz erschallen ließ, lächelte sie Fonaskus an. „Hast du gehört, was für eine schöne Stimme mir antwortet? Wem mag sie nur gehören?“ Eufes seegrüne Augen sprühten vor Eifer. Ihre Wangen waren erhitzt und sie strahlte über das ganze Gesicht. „Dir natürlich“. „Wie mir natürlich?“ „Die Stimme des Berges ist dein Echo.“ Eufe schaute ungläubig in Fonaskus blaue Augen, in deren glänzenden Pupillen sich ein hochgewachsenes, graziles Mädchen spiegelte. Dichte, wellige Haare umrahmten ihr schönes Gesicht mit exotisch schräg stehenden Augen, die an eine Wildkatze erinnerten. Sie trug lange Leinenhosen und Hemd und einen weiten Umhang, der an mehreren Stellen Löcher aufwies. Eufe blickte langsam an sich hinunter und erkannte, dass es ihr eigenes Spiegelbild war. Zögernd hob sie den Kopf und schaute wieder durch Fonaskus Pupillen in ihre eigenen Augen. Der Paradiesvogel verneigte sich huldvoll vor ihr. „Mit deinem Gesang bringst du die Sonne zum Scheinen. Du hast die Macht die Menschen durch deine Stimme zu verwandeln. Nütze sie.“ Kaum hatte er geendet ging der Phönix vor Eufes ungläubigen Augen in Flammen auf. Als nichts als seine Asche übrig war, sah Eufe unter den Rauchschwaden einen neuen Phönix aufsteigen und der Sonne entgegenfliegen. Lange blickte sie ihm nach. Fonaskus hatte ihr ihre Schönheit und Gabe gezeigt. Es gab keine Worte für die Dankbarkeit, die Eufe empfand. Sie verspürte nur einen unstillbaren Drang für Fonaskus zu singen. Ohne zu wissen woher die Worte und die Melodie zu ihr kamen, stellte sie sich an den Rand des Abgrunds und sang:
Schlafender Phönix, du sollst nicht erwachen
Du musst in den Flammen verbrennen und dich über die Asche erheben.
Du sollst fliegen.
Du bringst neues Leben, wenn du zur Sonne steigst, geschmeidig in den blauen Himmel. Nichts kann dich verletzen. Vogel des Paradieses.
Die Bergwand hallte wider von dem Echo ihrer mächtigen Stimme und ihrem ersten Lied. „Willkommen Herr, Willkommen Majestät“, bemühte sich der Aufseher Egom wohlwollend zu stimmen und umschwänzelte ihn wie ein Schoßhündchen. „Was verschafft uns die Ehre ... so unverhofft in den Genu...“. „Schweig endlich du Narr“, unterbrach ihn Egom rüde. „Bring mich zum Gold, aber ein bisschen hoplahopp. Und wehe dir, du bestiehlst mich. Ich weiß wieviel diese Mine abwirft, verlass dich drauf.„ Der Aufseher vollzog mehrere tiefe Bücklinge bis ihm das Blut in den Kopf schoss und er leuchtete wie ein reifer Granatapfel. „Selbstverständlich Majestät, natürlich, bitte ... hier entlang.“ Nach dem ersten Schrecken ausgerechnet Egom im Steinbruch zu begegnen, hatte Aruc sich schnell wieder gefasst. In all den Jahren, die er in Inthorm gelebt hatte, war er Egom höchstens fünf mal begegnet. Er glaubte nicht das Egom ihn erkennen würde, trotzdem durfte er kein Risiko eingehen. Wenn Egom sich an ihn erinnern konnte, war es um ihn geschehen, so viel war sicher. Verächtlich schaute er den beiden Männern hinterher, die in der Barracke verschwanden, in der das Gold aufbewahrt wurde, bevor es nach Inthorm kam. Das Betreten des Lagers war den Sklaven strikt verboten. Nur der Aufseher selbst durfte sich dort aufhalten. Aruc ließ seine wachen Augen im Steinbruch wandern, während er sich bemühte, sich möglichst im Hintergrund zu halten, um nicht Gefahr zu laufen, dass ihn einer der Soldaten aus Inthorm erkannte. Zu Arucs Erstaunen waren es lauter fremde Gesichter. Egom musste sie nach ihrer Flucht aus Inhtorm in Steinern angeworben haben. Aruc grinste innerlich. Die Elitegarde der Alteingesessenen war immer noch hinter ihnen her. Da können sie lange suchen. Die Soldaten standen gelangweilt am Rand des Steinbruchs und erzählten sich gegenseitig Witze. Zumindest hörte man sie von Zeit zu Zeit schallend lachen. Sie kümmerten sich nicht im geringsten, um die Minenarbeiter, weil sie in einem Haufen ausgemergelter Sklaven keine Gefahr sahen. Blitzartig wurde Aruc klar, dass er wahrscheinlich nie wieder so eine Chance wie jetzt bekommen würde. Der Aufseher war mit Egom beschäftigt. Vor ihrer Nase hatten sie den perfekten Transport: die herrschaftliche Kutsche seiner Majestät. Und ihre Fußketten waren entfernt, damit sie arbeiten konnten. Kurzentschlossen schulterte Aruc zwei volle Erdsäcke und ging damit auf eine Gruppe von Sklaven zu, die die Erde in kleine Haufen siebten. Er ließ einen der Säcke von seinem Rücken rutschen und flüsterte: „Folgt mir, wir nehmen Egoms Kutsche und lassen diesen verdammten Steinbruch hinter uns. Während ich die Soldaten ablenke, rennt ihr zur Kutsche.“ Aruc hielt ihrem erschrockenen Blick stand und lächelte ihnen siegessicher zu. Ohne weitere Erklärungen setzte er seinen Weg gelassen fort und kniete vor ein paar Schürfern nieder. „Folgt mir, nie mehr bekommen wir eine bessere Gelegenheit zu fliehen. Während ich die Soldaten ablenke, stürmt ihr die Kutsche.“ Bevor er ihnen Zeit gab zu überlegen, hatte Aruc sich schon einen Goldbrocken aus einem der Erdsiebe geschnappt und schritt geradewegs auf die Soldaten zu. „Hey da, habt ihr schon mal so einen Goldbrocken gesehen?“, warf Aruc seinen Köder aus. „Was willst du Jung? Los scher dich zurück zu den anderen“, fuhr ihn einer von Egoms Leibwächtern grob an. Aruc stellte sich direkt vor ihn und hielt seine Hand auf. Das Gold glitzerte im Sonnenlicht. „Woher hast du das?“, herrschte ihn der Soldat an. „Los gib ihn mir“. Mittlerweile waren die anderen Soldaten aufmerksam geworden und scharten sich um Aruc, der das Gold an den Soldaten weitergab. In kürzester Zeit brach ein Tumult unter den Männern aus, weil jeder von ihnen einen Blick auf das Gold werfen wollte und insgeheim hoffte es sich unbemerkt in die Tasche schieben zu können. „Hey wo ist das Gold?“. „Gib ihn mir“. „Los du Fatzke, rück das Gold raus, sonst gibst Schläge“. Aruc hatte sich mittlerweile diskret aus dem Wirrwarr zurückgezogen und rannte in die Mitte des Steinbruchs. „Folgt mir. Jetzt oder nie“, schrie er den Sklaven entgegen und hetzte zur Kutsche. Die sechs Pferde waren noch immer angeschirrt und hatten Fressäcke um den Hals. Der Kutscher saß schnarchend auf seinem Bock. Mit einem Sprung war Aruc neben ihm und riss ihm den Zügel aus der Hand. Verdattert erwachte der Kutscher und fiel vor Schreck rücklings in den Dreck. Aruc sprang auf den Rücken eines der Pferde, zog ihnen die Hafersäcke über den Kopf und trieb sie mit lautem Johlen an. „Hohohoooo, jiiiiiihhhhaaaaaaaaa“. Endlich waren auch die Sklaven aus ihrer Totenstarre aufgewacht. Sie ließen alles stehen und fallen, Siebe, Säcke, Schaufeln und hetzten wie von Sinnen hinter Aruc her. Aruc zügelte die Pferde etwas, um den erschöpften Männern die Gelegenheit zu geben aufzuspringen. Jetzt waren auch die Soldaten aufmerksam geworden und schrien entgeistert: „Halt, Haltet sie.“ Doch die Sklaven hatten es bereits auf die Kutsche geschafft, außer einem. Es war der ausgemergelte Sklave, der sich halsstarrig dagegen wehrte, dass Aruc ihm half seine Säcke zu tragen. Aruc wusste, dass er ohne seine Hilfe auf der Strecke bleiben würde. Er öffnete das Geschirr seines Pferdes und preschte ohne die Kutsche zurück in den Steinbruch. Genau in dem Moment sah Aruc wie Egom, so weit es sein Leibumfang zuließ, gefolgt von dem händeringenden Aufseher aus der Barracke eilte. Die Pfeile der Soldaten zischten haarscharf an Arucs Kopf vorbei. Einer der Pfeile hatte den Sklaven am Fuß erwischt. Er heulte auf wie ein verendendes Tier. In vollem Galopp beugte sich Aruc über den Pferderücken und packte den Sklaven an beiden Armen. Mit einem lauten Schrei wuchtete er den Mann, der nicht viel mehr wog, als zwei Sack Erde, vor sich auf das Pferd. Aruc hatte das Gefühl, dass seine Schultern sich aus den Gelenken kugelten. „Hooooohhhhooooo jjjjiiiiihhhaaaaaa“, spornte er sein Pferd an und preschte in rasendem Galopp hinter der Kutsche her bis er sie überholt hatte. Einer der Sklaven hatte sich auf den Bock gesetzt und lenkte das Gefährt mit erstaunlicher Sicherheit über den holprigen Feldweg. Aruc wusste, dass sie nur eine Chance hatten den Soldaten zu entkommen, wenn sie es in den Wald schafften. Querfeldein galoppierte er über das Feld, gefolgt von der bis zum zerbersten beladenen Kutsche. Der verwundete Sklave hing bewusstlos vor Aruc auf dem Pferdehals. Schon hörten sie hinter sich die Soldaten herandonnern, als Aruc die entscheidende Idee hatte. Zu ihrer Rechten lag ein See dicht an der Grenze zum Wald. „Los, alle Mann aussteigen. Springt ins Wasser und atmet durch ein Schilfgras. So gewinnen wir Zeit und sie jagen der leeren Kutsche hinterher.“ Aruc packte den verwundeten Sklaven und ließ sich mit ihm rücklings vom Pferd ins Wasser stürzen. Die restlichen Männer folgten ihm blindlings. Aruc riss mehrere hohe Schilfgräser aus und verteilte sie unter ihnen. „Untertauchen“, gab er das Kommando und hielt sich und dem verwundeten Minenarbeiter unter der Wasseroberfläche ein Schilfgras an die Lippen. Über ihnen trommelten die Hufen ihrer Verfolger über das Feld. Sie hatten nichts von Arucs List bemerkt und jagten weiter der Kutsche hinterher.
Als er sicher sein konnte, dass sie außer Sichtweite waren, tauchte Aruc auf. In Todesangst liefen die Minensklaven auseinander und versuchten sich zu verstecken. Nur der Sklave, dem er das Leben gerettet hatte, blieb bei ihm. Er hielt Aruc eine zitternde, schmutzige und verschrammte Hand entgegen: „Ich heiße Burk. Ich danke dir.“ Aruc nickte ihm zu. „Wir müssen weiter. Noch sind wir nicht in Sicherheit.“ Insgeheim dachte Aruc, dass er sich schon genauso wie Fallada anhörte. Aruc stützte Burk, der neben ihm aus dem Bach humpelte. Die beiden Minenarbeiter, die Aruc an seinem ersten Tag vor dem Peitschenhieb des Aufsehers bewahrt hatte, waren stehen geblieben und halfen ihm. „Ich bin Erik. Und das ist mein Sohn Larch. Wir kennen uns aus hier im Wald. Es gibt eine Hütte nicht weit von hier. Sie ist so gut unter den Bäumen versteckt, dass man sie selbst wenn man vor ihr steht kaum wahrnimmt. Dort können wir uns verstecken.“
Blumai stürmte die Treppe hinauf. Von weitem rief sie: „Ullren, Ullren, sieh nur mein neues Kleid für den Ball.“ Ohne sich die Zeit zu nehmen vorher anzuklopfen, öffnete sie atemlos die Tür zu Ullrens Zimmer. „Ull...“ blieb ihr das Wort im Halse stecken, so überwältigt war sie von Ullrens Verwandlung, die sich ihr lächelnd zuwandte. Ivy hatte Ullren geholfen ein Kleid aus funkelnder mitternachtsblauer Kastanienseide zu nähen, dass sich in langen fließenden Falten an Ullrens schlanken Körper schmiegte. Ein durchsichtiger Tuchstoff, der schimmerte wie die filigranen Flügel von Libellen, bedeckte Ullrens Dekoltée und Schultern. Ihre hellblonden Haare hatte sie zu einem dicken Seitenzopf geflochten. Um die Stirn trug sie einen feinen Kranz aus blauvioletten Veilchen. Ullrens schöne Lippen hatte Ivy mit Brombeerpulver geschminkt, dass sie in ein paar Spritzer Nussöl aufgelöst hatte, ihre Augenlider und Wangen hatte sie mit feinstem Amethyststaub gepudert. „Wuuuuuaaauuuuu, du siehst aus wie eine Waldkönigin.“ Blumai war so hingerissen von Ullrens Anblick, dass sie auf der Schwelle stehen geblieben war und sie fasziniert anhimmelte. Ein Leuchten ging von Ullren aus, dass weder dem Kleid, noch der Schminke zu verdanken war, sondern von Innen heraus kam. Sie lächelte Blumai strahlend an und klatschte in die Hände: „Wie wunderschön du bist Blumai. Eine Schmetterlingsprinzessin.“ Zärtlich zupfte sie ihr den Blütenkranz aus weißen Myrthen zurecht und nahm sie bei der Hand. Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer in dem Duir, Sun und Ivy bereits auf sie warteten. Sun konnte es sich nicht verkneifen und pfiff anerkennend durch die Zähne. Ausdruck für seine höchste Anerkennung. Duir küsste den beiden galant die Hand, während Ivy die Tränen zurückhalten musste, so stolz war sie auf ihr blühendes Töchterchen und tief bewegt von Ullrens Erscheinung. Nach ihrer Unterhaltung am Amethystsee war Ullren wie ausgewechselt. Sie begleitete sie täglich zur Morgenstille und hatte begonnen im Canticum Harplira zu lernen. Dieses Instrument gehörte zu den Traditionellsten in Walden und war eine Mischung aus Harfe und Leier. Außerdem war sie Stammgast in der Werdener Bibliothek geworden und besuchte bis spät in die Nacht hinein Vorlesungen im Colegium. Duir küsste Blumai die Hand und rezitierte teatralisch: „Folgt mir meine schönen Maiden. Der Ball darf nicht länger seines schönsten Schmuckes harren. Die Sterne erblassen in eurem Schein.“ Sun kniete sich nieder und küsste leidenschaftlich den Boden zu ihren Füßen: „Ich liebkose die Erde auf der ihr wandelt holde Engel von Walden. Nun folgt uns zum Tanz.“ Laut lachend verließen sie das Kosi und reihten sich in die Scharen von Baumsängern ein, die sich auf dem Weg ins Astrum befanden, wo der alljährliche Sommernachtsball stattfand. Statt der üblichen Beleuchtung durch die Sonnenlichtmagnetstrahler, waren die Kosis und Bäume mit bunten Laternen beleuchtet, die wie unzählige Sterne in der Nacht leuchteten. Die Brücken, die die einzelnen Baumkuppeln verbanden, waren mit dreihreihigen Lichtergirlanden dekoriert und auf den Seen schaukelten Hunderte von Gondeln, die mit brennenden Kerzen beladen waren. Im Astrum waren die Zweige Ygdars und der Himmelssteig über und über mit weißem Flieder und Traubenhyazinthen geschmückt. Die Luft war geschwängert von schwerem, süßen Blütenduft. Ganz Walden lag in einem Festrausch. Ullren konnte sich nicht satt sehen an der atemberaubenden Pracht der Baumstadt, dessen Lichtermeer mit den Sternen am Firmament wetteiferten. Lautes Stimmengewirr erfüllte die laue Mittsommernacht bis sich eine einzelne Gestalt aus der Menge löste und in die Mitte der Bühne schritt. Die Baumsängerin war in einen karmesinroten Umhang gehüllt. Ihre rotblonden Haare hatte sie mit reich verzierten Rubinnadeln hochgesteckt, die im Kerzenlicht glitzerten. Sie breitete die Arme aus, legte ihren Kopf in den Nacken und begann mit glockenklarer Stimme zu singen:
Ein Weg liegt vor dir. Ein Weg der führt dich weit. Dem Ruf des Himmels folgst du, ganz ruhig und frei und leicht.. Im Schutze meiner Hände, dein Sein, dein Werden.. In mir bist du geborgen, die Liebe ist mit dir. Du lernst vom Baum des Lebens, die Weisheit und den Tanz. Phönix aus Garten Eden zeigt deiner Stimme Glanz. Am Wasser unserer Mutter erkennst du deiner Selbst. Nun schau auf zu den Wolken und wisse wer ich bin. Immram
Ullren stand ganz still. Gebannt starrte sie auf die Baumsängerin, die sich verbeugte und den begeisterten Applaus entgegennahm. In dem allgemeinen Jubel war nur Ivy aufgefallen, dass eine Veränderung mit Ullren vorgegangen war. „Was ist Ullren, was hast du? Machst du dir Sorgen um Aruc und Eufe?“ „Nein, es ist nur, ich kenne dieses Lied. Meine Mutter hat es für mich gesungen, als sie schwanger mit mir war. Sie ist bei meiner Geburt gestorben und mein Vater hat es mir später beigebracht, damit ich etwas haben sollte, dass mich immer an sie erinnerte.“ Ivy schaute bestürzt in Ullrens wasserblaue Augen, die in Tränen schwammen. „Komm mit mir Ullren, komm.“ Behutsam zog sie Ivy aus der Menge fort und führte sie zur gegenüberliegenden Seite des Astrums weit genug von der Bühne entfernt, um ungestört zu sein. Ivy erfasste beide Hände Ullrens. Sichtlich darum bemüht ihre Innere Aufruhr unter Kontrolle zu bringen fragte sie schließlich: „Wie hieß deine Mutter Ullren?“ Ullren wischte sich die Tränen aus den Augen und suchte fragend Ivys Blick, während sie antwortete: „Linde, der Name meiner Mutter ist Linde.“
Linde´s Tagebuch lag aufgeschlagen auf der Bettstatt, die Urs mittlerweile mit einer neuen Matraze ausgestattet hatte. Dafür hatte er Moos gesammelt und es über dem Feuer getrocknet. Den Hanfstoff der alten Matte hatte er feinsäuberlich abgezogen, im Bach mit Seifenkraut gewaschen und mit den Moosfladen ausgestopft. Als Kissen hatte er einen alten Leinensack, den er in der Hütte gefunden hatte, mit duftender Zitronenmelisse bis zum Rand gefüllt und mit Pflanzenstengeln verschnürt. Beim Zubettgehen sog er den beruhigenden Duft in sich auf und schlief tief und fest bis zum nächsten Morgen. Obwohl er immer noch keinen Hinweis gefunden hatte, der ihm den Verbleib von Linde und ihrer Tochter Malva erklären konnte, hatte er beschlossen zu warten. Er hatte die Hütte von oben bis unten mit frischem Wasser aus dem Bach geschrubt, und einen Schaukelstuhl aus abgebrochenen Ästen und Rindestücken gezimmert. Darin verbrachte er seine Abende, während Alda auf seiner Schulter saß. Meistens beschäftigte er sich mit dem Flechten von Matten und Körben, die er aus dem Flachs anfertigte, der wild im Wald wuchs. Über seinem Bett hatte er ein selbstgebasteltes Regal angebracht, auf dem er alles Brauchbare, das er auf seinen Erkundungsgängen fand, aufbewahrte: Ein Bärenzahn, eine Wurzel, die aussah wie ein Miniaturbaum und ein faustgroßer gesprenkelter Rosenquarz. Vor dem Kamin standen mehrere Körbe voller Pilze, Beeren und Nüße, die er im Wald gesammelt hatte. Den Tisch schmückte eine Schale mit frischgepflückten Lavendelblüten. Mit einem Stein, den er selbst geschliffen und geschärft hatte, hatte er sich den langen Rübezahlbart abrasiert. Außerdem hatte er einen weiteren Leinensack, den er in der Hütte gefunden hatte, zerschnitten und sich eine neue Hose und Hemd daraus gemacht, die er mit einer zugespitzten Astnadel und Nesselstengel zusammengenäht hatte. Jeden Morgen wusch er sich von Kopf bis Fuß im Bach vor der Hütte, kleidete sich an und machte sich auf den Weg in den Wald. Nachmittags hackte Urs vor der Hütte Brennholz. Er summte leise vor sich hin und Alda umschwirrte ihn fröhlich. „Wer hätte das gedacht, welch stattlicher Mann unter dem Bart und den Schmutzkrusten zum Vorschein kommen würde.“ Urs schaute sie verlegen an und lächelte zum ersten Mal, seit sie sich getroffen hatten. „Bei dem Lächeln wird mir richtig warm ums Herz. So ein Bild von einem Mann aber auch“, trietzte sie ihn weiter. Obwohl Aldas Tonfall scherzend war, hatte sie nicht übertrieben. Urs war braungebrannt, seine lichtblauen Augen hatten einen lebhaften Ausdruck angenommen, seine dunklen Haare fielen ihm dicht und wellig bis auf die breiten Schultern. Die einfachen Speisen aus den Gaben des Waldes, körperliche Arbeit und tägliche Wanderungen, hatten seine Muskeln gestählt und seine ehemals graue, schlaffe Haut gestrafft und ihr einen gesunden Glanz verliehen. Seit er in der Hütte auf Papier und Feder gestoßen war, hatte Urs außerdem begonnen Gedichte zu schreiben, die er Alda vorlas, wenn sie sich still auf seine Schulter setzte.
„Kühl und frisch benetzt der Tau die Blätter. Goldener Schein erhellt den dunklen Morgenwald. Ein Wanderer steht sinnend an der stillen Lichtung und horcht dem Wachen der Natur. Ein Specht klopft da, ein Käfer raschelt, ein Wurm kriecht langsam aus dem Erdenreich. Der Wanderer läßt sein Bündel sinken und fühlt sich eins mit schöner Pracht. Er summt, er singt, er lacht, er schwelgt. Er findet Eintracht durch der Schöpfer Macht.“
Im Spiegel der Vergangenheit
Malva lag noch immer bewusstlos auf dem Karren, vor dem Bayard gespannt war. Lovan saß auf dem Rücken des stattlichen Rotfuchs und sang:
Katum Kata, Itulasu, Maaaaaaa, Oooooo, Tatikatu, Patasilatisu.
Nach einer Weile verstummte Lovan. Seit Malva ohnmächtig in ihre Arme gesunken war, hatte sie für sie gesungen, um den Heilungsprozess zu beschleunigen. Der schmale Höhlengang hatte sich verbreitert zu einem Berghohen Gewölbe aus Kristall. „Ich danke dir, dass du mir zu Hilfe geeilt bist Bayard. Ich hätte dich nicht gerufen, wenn es nicht unbedingt notwendig gewesen wäre.“ Bayard warf seinen Kopf zurück und antwortete: „Du weißt doch, dass ich dich nie im Stich lassen würde.“ Lovan klopfte ihm liebevoll auf den Hals. „Ja das weiß ich mein Freund. Wie könnte ich das vergessen.“ Der Hengst war seit ihrer Kindheit immer zur Stelle, wenn sie ihn brauchte. Seit dem Tag, als sie sich kaum Siebenjährig im Wunderhain verlaufen hatte, weil sie wissen wollte, was außerhalb Waldens lag. Bayard hatte sie dort gefunden und sicher zurück nach Walden zu Ivy und Duir gebracht. Malva war zu sich gekommen und stöhnte leise. Sie versuchte ihre flatternden Lider zu öffnen. „Wo bin ich?“ Lovan ließ sich von Bayards Rücken gleiten, legte ihren Zeigefinger auf seine weichen Nüstern und signalisierte ihm, ihr gemeinsames Geheimnis nicht zu verraten. Malva sollte glauben, dass Bayard ein gewöhnliches Pferd sei und aus den Reihen der Soldaten stammte. Sie beugte sich über Malva und antwortete ihr. „Wir sind in den Steiner Höhlen. Wir sind von Höhlenmännern angegriffen worden. Du bist dabei am Bein verletzt worden. Halte dich still, damit die Wunde verheilen kann.“ Malva schaute ungläubig in die ernsten Augen Lovans: „Wo sind meine Soldaten?“ „Ich denke die meisten von ihnen sind umgekommen“. Malva biss die Zähne zusammen. Der Schmerz in ihrem Oberschenkel war kaum erträglich. Mühsam richtete sie sich auf, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Lovan versuchte sie sanft, aber entschieden daran zu hindern „Du musst dich schonen. Jede Anstrengung kann die Blutung wieder auslösen.“ „Ich weiß selbst was gut für mich ist“, fauchte Malva sie an wie eine Katze, die sich bedroht fühlte. Trotzdem legte sie sich wieder hin und versuchte das Bein ruhig zu halten. Sie musste so schnell wie möglich wieder zu Kräften kommen und die Jungfrau finden. Nur das zählte. Sie durfte nicht mit leeren Händen zu Egom zurückkehren. Fiebrig tastete sie nach dem Kristall in ihrer Tasche. Leer. Nichts. Er musste ihr beim Sturz vom Pferd aus der Tasche gefallen sein oder die Untersbergerin hatte ihn ihr gestohlen. Es gab nur einen Weg das herauszufinden. „Wir müßen umkehren. Sofort. Ich habe etwas Wichtiges verloren.“ „Das wäre Selbstmord. Wir können nicht zurückgehen in das Revier der Höhlenmänner“, wehrte Lovan entschieden ab und schwang sich erneut auf Bayards Rücken, der sich willig in Bewegung setzte. Malva biss sich auf die Lippen. Sie empfand nicht eine Spur von Dankbarkeit für ihre Rettung. Sie beschloss bei der erst besten Gelegenheit zu fliehen und den Stein wieder in ihre Gewalt zu bringen selbst wenn sie dafür die Frau töten musste, die sie gerettet hatte. Sie konnte sich Gefühlsduselei jetzt nicht erlauben. Statt zu protestieren fragte Malva lauernd: „Wie war dein Name?“ Lovan schaute auf Malva nieder und antwortete ihr ohne mit der Wimper zu zucken „Magdalena“.
Jalam richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und fasste sich an den Hinterkopf. Seine Haare waren verklebt von verkrustetem Blut, dass aus dem verschorften Loch geronnen war, das er mit seinen Fingern ertastete. Schlagartig kam seine Erinnerung zurück. Er hatte versucht Lovan zu finden und war dabei über die Leiche eines geköpften Soldaten gestürzt. Er konnte sich noch an einen Schlag auf den Hinterkopf erinnern, das war alles. Danach war es schwarz um ihn geworden. Er war nicht mehr in der roten Höhle. Um ihn herum war dichter Urwald. Wer hatte ihn hierhergebracht? Jalam horchte. Er hörte das glockige Plätschern von Wasser, dass über Steine sprudelte. Obwohl ihm jedes einzelne Glied seines Körpers höllisch weh tat, begann er in die Richtung zu humpeln aus der das Plätschern kam. Nach wenigen Metern erreichte er ein schier undurchdringliches Netz aus sich ineinander verschlingender Lianen. Jalam bückte sich und fand etwa einen Meter über dem Boden einen schmalen Durchgang. Auf allen Vieren robbte er sich auf die andere Seite. Was ihn dort erwartete verschlug ihm den Atem. Minutenlang kniete er auf einem samtigen Teppich aus saftgrünem Vierblattklee und versuchte mit dem Verstand zu begreifen, was er sah. So musste der Himmel aussehen, falls es einen gab. Genau so, wahrscheinlich hatte er den Sturz und den Schlag auf den Kopf nicht überlebt. Vor ihm lag ein silbrig glänzender See, in dem sich Delphine tummelten, die in hohen Pirouetten aus dem Wasser sprangen und übermütige Schnatterlaute von sich gaben. Handtellergroße Schmetterlinge die in allen Farben des Regenbogens in der Sonne gleißend leuchteten segelten durch die Luft und ließen sich auf Blumen nieder, die so hoch waren wie Bäume und mit ihren apoplektischen Farben und Formen alles übertraffen was Jalam sich je in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Sie wiegten sich wie träumende Tänzer im Wind in ihren prachtvollen Roben aus purpurvioletten, lichtgelben, scharlachroten, Lavendel- und Korallfarbenen Blüten. Der Himmel über ihm war ultramarinblau. So etwas unglaublich Schönes konnte es nur im Paradies geben. Auf einem hohen Felsen lag eine Wildkatze. Ihrer imposanten Größe nach zu schließen und unzähligen karminrot schwarzgerandeten Sprenkeln auf dem goldgelben Fell, war es ein Jaguar. Während Jalam sich noch überlegte, ob er sich auch im Paradies vor einem Jaguar in Schutz nehmen musste, richtete die Wildkatze ihren Blick auf Jalam. Mit einem Sprung war der Jaguar auf den Beinen und brüllte gebieterisch. Jalam bewegte sich nicht von der Stelle. Er hatte insgeheim beschlossen, dass ihm im Paradies nichts passieren konnte. Schließlich war er schon tot. Mit einem Sprung hechtete der Jaguar ins Wasser und schwamm behende ans Ufer, wo er sich so kräftig schüttelte, dass die unzähligen Wassertröpfchen, die sich aus seinem Fell lösten, wie feiner Sprühregen über Jalam niedergingen. „Willkommen in meinem Reich. Ich bin Uba“, stellte er sich vor indem er sich galant verbeugte. Jalam stutzte: „Wieso in deinem Reich? Ich bin doch im Himmel, ich meine im Paradies. Wo sonst könnte es so aussehen wie hier.“ Uba schmunzelte: „Nein, du bist noch nicht im Paradies. Das hier ist Ubalandia“. „Aber wie bin ich hierher gekommen?“ Jalam begriff nichts mehr. „Ich habe dich vor den Kormoranern gerettet. Ein Pferd muss dich mit seinen Hufen am Hinterkopf erwischt haben. Als sie mit den Soldaten fertig waren und bemerkten, dass du noch am Leben warst, wollten sie dich auf ihre Hakenarme spießen. Wenn ich nicht zufällig vorbei gekommen wäre, dann wärst du jetzt wirklich im Paradies.“ Jalam war sprachlos. Als er sich wieder gefasst hatte, fragte er Uba besorgt: „Hast du eine Frau bei ihnen gesehen, mit langen zimtblonden Haaren und dem schönsten Gesicht, dass du je gesehen hast?“ Uba schüttelte den Kopf. „Nein, eine schöne Frau wäre mir aufgefallen“, fügte er grinsend hinzu. Jalam zögerte, die Worte wollten ihn nicht über die Lippen kommen: „Und“... er räusperte sich nervös... „unter den Leichen. War eine Frau unter den Toten?“ Uba streckte sich, so dass seine Sehnen und Muskeln unter dem glänzenden Fell sichtbar wurden und schüttelte den Kopf. Jalam atmete erleichtert auf. Dann lebte sie noch. Lovan lebte. Es musste ihr gelungen sein zu fliehen. Amo sei gepriesen. Ich danke dir Amo. Jalam stutzte. Spontan hatte er sich zum ersten Mal seit dem Tod von Laka an Amo gewandt. „Ich muss meine....eh... Frau finden“, Jalam betonte dabei das Wort meine als würde Lovan allein dadurch zu ihm zurückkehren. Uba leckte sich über die breiten Pranken und sinnierte: „Ja, ja was die schönen Frauen nicht alles mit einem machen...“. An Jalam gewandt: „Mich würde interessieren was ihr überhaupt in den Höhlen zu suchen hattet. Sie scheinen sich in letzter Zeit zu einem beliebten Ausflugsort für schöne Frauen und Mädchen entwickelt zu haben.“ Uba verzog seine Schnauze zu einem Grienen. „Wie meinst du das?“ „Vor Kurzem habe ich in Grünhglüh ein wunderschönes Mädchen kennengelernt und ihre Freunde. Eufe war ihr Name.“ „Wo ist sie? Ihretwegen sind wir in die Höhlen gegangen“, unterbrach ihn Jalam aufgeregt. „Wo finde ich sie?“ „Nicht so hastig mein Lieber. Ich habe sie bei einem Dreitagefest im Reich der Glühmandln getroffen. Sie waren aber nur auf der Durchreise und wollten weiter.“ „Ich muss sie finden, unser aller Heil hängt davon ab. Ich muss sie vor der Schwarzen Sonne finden, sonst wird Egom sie töten und mit ihr alles Wahre, Schöne und Gute.“ Uba duckte sich und knurrte, seine grünen goldgesprenkelten Wildkatzenaugen blitzten gefährlich. „Solange ich Herrscher von Ubalandia bin, wird niemand das Wahre, Schöne und Gute zerstören und schönen Mädchen nicht ein Haar krümmen.“
Lovan, Malva und Bayard waren seit Tagen in der Kristallhöhle unterwegs. Um sie herum gab es nichts als glatte, glänzende Wände aus purem Kristall, die selbst im Halbdunkel der Höhle glitzerten wie ein Meer aus Sternen. „Das kann doch nicht ewig so gehen. Irgendwann müßen wir doch hier rauskommen“, ließ sich Malva mürrisch vernehmen. Sie musste noch immer von Bayard im Leiterwagen gezogen werden, weil sie selbst nicht gehen konnte. Lovan war abgestiegen und bückte sich nach Etwas. Während sie sich aufrichtete, drehte sie sich zu Malva um und schwenkte ein rechteckiges Stück Stoff vor Malvas Augen. „Das hier ist ein Fetzen aus meinem Umhang, den ich zerrissen habe, um deinen Oberschenkel zu verbinden“, schüttelte Lovan den Kopf. „Das heißt wir sind die ganze Zeit im Kreis gegangen.“ „Rattendreck und Mäusepisse“, fluchte Malva. „Ich muss hier raus.“ Sie versuchte aufzustehen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fiel sie zurück in den Leiterwagen. Lovan legte ihr beruhigend die Hand auf die Stirn: „Hab noch etwas Geduld. Die Wunde ist noch nicht verheilt.“ „Ich habe seit Tagen nichts anderes als Geduld. Wie lange sollen wir denn noch im Kreis gehen“, schnauzte Malva sie ungehalten an. Lovan blieb gelassen und schaute sich stattdessen aufmerksam in der Höhle um. Soweit ihr Blick reichte, sah sie eine glatte, geschlossene Kristallwand. Es gab weder eine Unebenheit noch ein Loch, nur blaues Licht, dass aus den Tiefen des Kristalls zu strömen schien. Sie konnte nicht den geringsten Hinweis auf einen anderen Weg entdecken, der sie diesmal nicht im Kreis zurück an ihren Ausgangspunkt führen würde. Malva hatte sich wieder auf ihre Bettstatt im Leiterwagen gelegt, die Lovan notdürftig aus den Resten ihres Umhangs für sie gerichtet hatte. Sie schaute Malva verstohlen von der Seite an und konnte sich beim besten Willen keinen Reim auf diese Frau machen. Sie hatte das Kommando über mehrere Hundert Soldaten getragen und war offensichtlich von Egom damit beauftragt die Jungfrau aus dem Turm zurückzubringen. Dabei machte Malva auf Lovan eher den Eindruck eines verletzten, aufsässigen Kindes als einer erwachsenen Frau. Bayard blähte seine Nüstern und schüttelte sich, das seine schwarze Mähne nur so um seinen rostroten Kopf flog. „Was ist Bayard, was hast du gesehen? Zeig es mir“, flüsterte Lovan ihm leise ins Ohr. Sie wusste, dass sie Malva nicht trauen durfte und vermied es den wahren Grund ihres Aufenthalts in den Höhlen preiszugeben. Je länger sie glaubte, dass Lovan eine gewöhnliche Bürgersfrau aus Unterbergen war, die sich in den Höhlen vor ihren Verfolgern versteckt hatte, umso besser. Bayard setzte sich in Bewegung und trabte etwa 200 Meter durch den Höhlengang bis er stehen blieb und begann mit seinem rechten Huf zu scharren. Malva hatte die Augen geschlossen und schlief oder sie stellte sich zumindest schlafend. Lovan konnte nichts Besonderes an der Kristallwand entdecken. Bayard blieb hartnäckig und rührte sich nicht von der Stelle. Lovan musterte die Kristallwand genauer. Glatt, glänzend und doch, etwas war anders. Sie hatte zwar noch nicht herausgefunden, was es war, aber irgendetwas war anders. Bis es Lovan wie Schuppen von den Augen fiel. Das Licht, natürlich das blaue Licht war an dieser Stelle etwas heller, was nur bedeuten konnte, dass die Kristallwand hier weniger massiv war. Sie zog ihr Vulkansteinmesser, das Jalam ihr geschenkt hatte, aus der Tasche. Kaum hatte sie die Kristallwand damit berührt, gab sie nach und eine Öffnung in Form eines Portals tat sich vor ihnen auf. Lovan umarmte Bayard und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf sein Ohr als sie ihm zuflüsterte: „Danke mein Schöner. Du bist der Beste.“ Malva war inzwischen aufgewacht. „Wie hast du das gemacht?“, rief sie erstaunt. Um gleich darauf mißtrauisch hinzuufügen: „Du bist keine Untersbergerin. Woher kommst du? Warum bist du in den Höhlen?“ Lovan wusste das Malva nicht dumm war. Außerdem empfand sie eine Lüge ohnehin als Erniedrigung. „Mein Name ist Lovan. Ich bin Hathore der Baumsänger von Walden. Ich suche die Jungfrau aus dem Turm, um sie vor Egom zu retten .“ Malva versetzte es einen Stich. Sie bemühte sich jedoch sich nichts anmerken zu lassen. Obwohl sie noch nie etwas von den Baumsänger gehört hatte, hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen als zu fragen. Lovan ergriff Bayards Zügel und hintereinander betraten sie das Innere des Kristalls. Blaue Nebelschwaden wehten wie ruhelose Geister vor ihren Gesichtern. Als sich der Dunst verflüchtigt hatte, blickten sie in unzählige Spiegel, die sie auf groteske Weise reflektierten. Im ersten Spiegel wurden sie zu Zwergen geschrumpft, im Zweiten nahmen sie die Ausmaße von Riesen an, im Dritten fehlten ihnen die Köpfe, im nächsten die Beine, jeder einzelne der Spiegel zeigte ihnen ein verformtes Abbild. Bayard tänzelte nervös von einem Bein auf das andere. Lovan war stehen geblieben. Tausende von Lovans, Bayards und Malvas blickten ihr aus den Spiegeln entgegen. Malva hatte sich im Leiterwagen aufgesetzt und brach das Schweigen: „Was zum Teufel ist das hier?“ „Ein Spiegelkabinett“, antwortete Lovan nachdenklich: „Es zeigt uns Illusionen über uns selbst.“ „Ehrlich gesagt hatte ich noch nie die Illusion keinen Kopf zu haben“, warf Malva trocken ein. Lovan musste unwillkürlich lachen. So patzig Malva sich auch benahm, sie hatte Sinn für Humor. „Es ist wohl eher im übertragenen Sinn zu verstehen“, schmunzelte Lovan. „Aha, na das ist ja immerhin etwas, ein übertragener Kopf ist besser als gar keiner“, geiferte Malva wütend, weil sie sich bloßgestellt fühlte. Obwohl Malva keine Gelegenheit ausließ garstig zu sein, fühlte Lovan sich zu ihr hingezogen. Während Bayard mit dem Leiterwagen neben ihr her trottete, versuchte Lovan sich mit Malva zu unterhalten: „Warum arbeitest du für Egom?“ „Das geht dich nichts an. Kümmere dich gefälligst um deine Angelegenheiten.“ „Das sind meine Angelegenheiten, solange du versuchst die Jungfrau zu ihm zurückzubringen.“ Malva schaute sie verächtlich an. „Wenn du glaubst, dass du mich daran hindern kannst, nur weil ich verletzt bin, dann spar dir die Mühe. Ich werde nicht nur versuchen die Jungfrau zu ihm zurückzubringen, ich bringe die Jungfrau zu ihm zurück. Ich habe keine andere Wahl.“ „Es gibt immer eine andere Wahl“, warf Lovan ein. „Was weißt du denn von meinem Leben.“ „Nichts, aber du kannst mir etwas davon erzählen“, ermunterte Lovan sie. Ablehnend wandte Malva ihren Kopf ab und presste die Lippen verbittert aufeinander. Sie wusste ja selbst nichts von ihrem Leben. Und der einzige Mensch, der ihr etwas darüber erzählen hätte können, lag verwest in Egoms Kerker und hatte sie ihrer eigenen Mutter beraubt. Lovan sollte sich besser vor ihr in Acht nehmen, sie hatte nichts mehr zu verlieren und nicht die geringsten Skrupel ihren Auftrag auszuführen. Sie würde so lange warten bis sie wieder gehen konnte und der clevere Rotfuchs sie durch das Spiegelkabinett geführt hatte und dann würde sie die Baumsängerin aus dem Weg räumen. Während Malva ihren Gedanken nachhing, war Lovan aufmerksam vor einem Spiegel stehen geblieben, deren Oberfläche leer blieb, obwohl sie unmittelbar davor stand.
„Wenn sie es geschafft haben den Kormoranern zu entkommen, dann sind sie in die Kristallhöhle geraten. Von dem Ort an dem die Hakenmänner ihnen aufgelauert haben, gibt es nur diesen einen Weg“, erklärte Uba bestimmt und schlug Jalam mit seinem Schwanz aufmunternd auf die Schulter. „Keine Sorge, wir finden sie, verlass dich drauf. Ich kenne mich aus in den Höhlen.“ Jalam lächelte ihm dankbar zu. Er war krank vor Sorge um Lovan. „Folge mir“. Schon war Uba hinter dem Lianennetz verschwunden und Jalam beeilte sich den Jaguar einzuholen. Majestätisch setzte Uba eine Pfote vor die andere. Sein Fell glänzte wie Rotgold in der Sonne. So massiv seine Körperstatur war, so leichtfüßig bewegte er sich, um nicht einen Halm zu krümmen oder versehentlich auf einen Käfer zu treten. Jalam überlegte sich, dass Uba die perfekte Mischung aus Kraft, Macht und Feingefühl darstellte. „Ist es weit zu den Höhlen Uba?“ „Nein, wir sind fast da. Allerdings wirst du eine kleine Klettertour auf dich nehmen müßen.“ Kaum hatte Uba zu Ende gesprochen, als sich vor ihnen ein atemberaubender Abgrund auftat. „Der Eingang zu den Höhlen ist dort unten.“ Jalam konnte nicht einen Felsvorsprung ausmachen, an dem er sich hätte festhalten können. Die Steilwand fiel ohne jegliche Unebenheit senkrecht bergab. Selbst ungeachtet seiner Beinverletzung, war das hier alles andere als ein Zuckerschlecken auch für einen klettererprobten Baumsänger, der seit Jahren unter den Adlern auf dem Kelter Felsen lebte. „Na das nenn ich mal einen anständigen Spaziergang“, versuchte Jalam seine Bedenken mit Galgenhumor zu zerstreuen. Uba peitschte mit seinem Schwanz hin und her. „Wir können auch einen Umweg nehmen, allerdings wird uns das etwa drei Tage kosten.“ „Oh nein, so viel Zeit haben wir nicht. Ich komme schon irgendwie unten an. Zur Not im freien Fall“, witzelte Jalam. Uba war dicht vor ihm stehen geblieben und begann Jalams Beinwunde zu lecken, die unter dem zerfetzten Hosenbein deutlich sichtbar war. „Hey, das kitzelt“. „Halte gefälligst still“, ließ sich Uba nicht aus der Ruhe bringen und leckte Jalams Wunde so lange bis sich das entzündete Fleisch geschlossen hatte und nicht ein Anzeichen mehr darauf hindeutete, dass Jalam dort von Sikuls Scheren verletzt worden war. „Uuuwwwauuuu, wie hast du das gemacht Uba?“ „Noch nie was von Jaguarmedizin gehört?“ Statt ihm eine Antwort zu geben machte Jalam einen doppelten Salto aus dem Stand und federte ihn gekonnt auf beiden Beinen ab. „Das klappt besser als vorher. Keine Spur mehr von Schmerz.“ „Werde nicht zu übermütig und bleib dicht hinter mir“, bremste Uba unbeeindruckt seine Begeisterung. „Die Steilwand hat es in sich, verlass dich drauf.“ Uba duckte sich und begann den Abstieg. Schritt für Schritt tastete er sich auf der Steilwand nach unten. Gleich einer Fliege, die sich mit ihren Beinen auf glatten Flächen festsaugte, krallte Uba sich mit seinen Pranken in den Stein. Auf allen Vieren versuchte Jalam sich mit Hilfe seines Kometsteinmessers auf der Felswand abzustützen. Zu seinem eigenen Erstaunen, klappte diese Technik hervorragend und er blieb kaum hinter Uba zurück. Zügig legten sie die Hälfte der Felswand zurück. Als Jalam erneut ausholte, um mit seinem Messer Halt auf dem glatten Stein zu finden, rutschte die Klinge ab. Er drohte abzurutschen und versuchte erneut das Messer in den Stein zu schlagen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte mit einem gellenden Schrei kopfüber in die Tiefe. Während Jalams Geist Bilde aus seinem Leben wie auf einen Faden gereiht vor ihm abspulte und er sich darauf gefasst machte beim Aufprall zu zerschellen, spürte er im Bruchteil einer Sekunde, dass er am Kragen gepackt wurde und gleich darauf wie eine Schaukel durch die Luft baumelte. Unter sich sah er mehrere Hundert Meter tief den Abgrund klaffen. Uba war ihm hinterher gehechtet und hatte ihn in seinem Maul abgefangen. Jalam blieb nichts anderes übrig, als sich so ruhig wie möglich zu verhalten und sich von Uba bis vor den Höhleneingang tragen zu lassen. Kaum hatte der Jaguar ihn gemächlich abgesetzt, sprang Jalam auf die Beine und drehte sich zu Uba um. „Das war nicht nötig. Ich wäre schon irgendwie runter gekommen.“, erklärte er beschämt mit hochrotem Kopf. „Ohne Zweifel, so viel ist sicher“, nickte der Jaguar gelassen und leckte sich die wunden Pfoten, die doppeltes Gewicht über die Steilwand getragen hatten. Jalam fühlte sich ebenso undankbar und dumm wie ein aufgeblasener Fünfzehnjähriger. „Ich danke dir Uba, den Sturz hätte ich nicht überlebt“, beeilte er sich dem Jaguar zu versichern. „Schon gut, du hast dich besser gehalten als ich dachte. Ich kenne niemanden, der es gewagt hätte, mir über die Steilwand zu folgen.“ Uba klopfte Jalam anerkennend mit dem Schwanz auf den Rücken und zwängte sich daraufhin durch einen Felsspalt. Jalam folgte ihm. Im Inneren der Höhle war es stockdunkel. Sekundenlang konnte Jalam nicht die Hand vor Augen sehen bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Uba überquerte vor ihm einen schmalen Grat. Unter ihnen blubberte und brodelte eine dampfende Masse. „Das ist flüssig gewordener Stein“, erklärte Uba dem Baumsänger. „Nimm dich in acht Jalam. Der Fluss ist so heiß, dass jeder noch so kleine Tropfen schwerste Verbrennungen verursacht.“ Jalam begann vorsichtig hinter Uba über den Grat zu balancieren. Er wusste, dass der geringste Fehltritt ihm das Leben kosten würde. Es war unerträglich heiß und stickig. Die Dämpfe brannten ihm in den Augen und in der Kehle. Konzentriert setzte er einen Fuß vor den anderen. Seine Arme hatte er waagerecht neben sich ausgebreitet, um besser das Gleichgewicht halten zu können. Starker Hustreiz überkam ihm. Aprupt blieb Jalam stehen und versuchte seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Trotzdem gelang es ihm nicht zu verhindern, dass seine Lunge die verbrauchte Luft durch den Kehlkopf presste. Jalam begann gefährlich zu straucheln, hielt sich jedoch tapfer aufrecht. Uba drehte sich besorgt zu ihm um. „Noch etwa Hundert Meter und wir haben es geschafft.“ Jalam biss die Zähne zusammen. „Lovan braucht dich, du schaffst es“, flüsterte er sich selbst Mut zu und ging langsam weiter. Uba war inzwischen auf der anderen Seite angekommen und beobachtete angespannt jede Bewegung von Jalam. Wenn Jalam das Gleichgewicht verlieren würde, konnte er nichts mehr für ihn tun. Mittlerweile hatte sich Jalam daran gewöhnt die scharfen Dämpfe einzuatmen und sein Husten nachgelassen. Dafür begannen seine Augen zu tränen. Unbeirrt ging er weiter. Etwa fünfzig Meter trennten ihn noch von Uba. Jalams Augen tränten so stark, dass er kaum noch etwas sehen konnte. Mit angehaltenem Atem blieb er erneut stehen und rieb sich mit der rechten Hand die brennenden Augen. Seinen linken Arm hielt er weiterhin ausgestreckt neben sich, um damit die Balance zu halten. Er vermied es in den brodelnden Steinfluss unter sich zu blicken. Plötzlich spürte er, wie ihn ein kalter Luftzug im Nacken streifte. Von Weitem hörte er einen Schrei. Es war der Schrei einer Frau. Für einen Moment setzte sein Herz aus. Es war Lovans Schrei. Sie brauchte ihn, sie war in Gefahr. Jalam hatte jede Vorsicht vergessen. Er wollte nur so schnell wie möglich auf die andere Seite des Abgrunds gelangen, um ihr zu Hilfe zu eilen. Nach zwei hektischen Schritten geriet er ins Straucheln. Jalam kippte mit dem Oberkörper nach hinten und konnte im letzten Moment verhinden, dass er abstürzte, indem er sich mit aller Kraft nach vorne warf. Er stieß einen gellenden Schrei aus und statt in die Tiefe gerissen zu werden, nutzte er den Schwung und landete mit einem Salto Mortale mit beiden Füßen auf Ubas Schwanz. Der Jaguar jaulte auf. Jalam nahm sich nicht die Zeit sich zu entschuldigen und rief aufgebracht: “Uba hast du den Schrei gehört? Das war Lovan. Ich muss zu ihr. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.“ Jalam knurrte gereizt: „Erstens könntest du dich zumindest entschuldigen, wenn du mir schon auf dem Schwanz herumtrampeln musst und zweitens hat hier niemand geschrien außer dir.“ „Es tut mir leid Uba. Aber ich weiß ganz genau, dass ich Lovan gehört habe. Ich spüre es. Sie ist in Lebensgefahr.“ Uba sah die Verzweiflung in Jalams Augen. „Schon gut folge mir“.
Nachdem Lovan, Bayard und Malva an Hunderten von Spiegeln vorbeigekommen waren, die ihr Abbild verzerrt reflektiert hatten, gab es mit einem Mal nur noch Spiegel um sie herum, die leer blieben. Auch wenn sie sich direkt davor stellten. Lovan strich nachdenklich über die glatte Fläche eines riesigen Spiegels aus Kristallglas, der so groß war wie zwei nebeneinanderstehende Bürgerhäuser. Nichts geschah. „Ich habe es endgültig satt mich von euch und den verdammten Spiegeln an der Nase herumführen zu lassen“, schrie Malva erbost und stemmte sich schnaufend aus dem Leiterwagen, in dem Bayard sie zog. „Los sorgt endlich dafür, dass wir hier herauskommen. Oder ich kümmere mich selbst drum.“ Zum ersten Mal spürte sie keinerlei Schmerz mehr. Es gab also keinen Grund warum sie noch länger warten sollte. Malva ergriff Bayard am Zügel und versuchte ihn hinter sich herzuziehen. Der Rotfuchs rührte sich nicht von der Stelle und begann nervös mit den Hufen zu scharren. Malva kochte vor Wut. Je mehr Bayard sich sträubte, desto heftiger riss sie an seinem Zügel. „Genug jetzt“. Lovan war zwischen sie getreten und schaute Malva mit flammenden Augen an. „Mit Gewalt erreichst du nichts. Absolut nichts. Hörst du?! Wir werden den Weg aus dem Spiegelkabinett finden, indem wir die Ruhe bewahren.“ Malva war so überrumpelt von Lovans Zornesausbruch, dass sie sich widerstandslos den Zügel aus der Hand nehmen ließ. Lovan klopfte Bayard, dem der Schaum aus dem Maul tropfte, beruhigend auf den Bauch und sang leise:
„Im Zauberwald steht hoch der Mond. Sein Schein ist unser Weiser. Der Silbersee ist Spiegel uns zu freiem Leit und Wege.“
Lovan hielt plötzlich inne und schnalzte mit den Fingern: „Ich weiß wie wir hier herauskommen. Das hier ist kein Spiegelkabinett, sondern ein Spiegellabyrinth. Wir brauchen nur einen Spiegel.“ „Hmmm, na wo bekommen wir jetzt nur einen Spiegel her?“ Scheinbar ratlos schaute Malva sich im Spiegellabyrinth um und grinste dabei hämisch. Lovan überhörte Malvas herausfordernde Bemerkung. „Wir müßen einen der Zerrspiegel vor einen der Spiegel stellen, der unser Bild nicht reflektiert.“ „Ja und, was soll das bringen?“ Malva hatte nicht begriffen worauf Lovan hinauswollte und ärgerte sich innerlich über ihre Begriffstutzigkeit. „Durch die Reflektion des Zerrspiegels krümmen wir die Achse des toten Winkels und erkennen so nicht nur das wahre Bild und wenn mich nicht alles täuscht auch den Ausgang aus dem Labyrinth.“ Obwohl Malva mißtrauisch erwiderte: „Hmm das möchte ich erstmal sehen“, war sie tief beeinruckt von Lovans Bildung. Während sie selbst ohne ihre laiblichen Eltern aufgewachsen war und sich mit der gemeinen Erziehung gewöhnlicher Zigeuner zufrieden geben musste, war Lovan von ihren Eltern sicher mit Liebe und Weisheit überschüttet worden. Der Stachel der Eifersucht bohrte sich tief in ihr Herz. Lovan war mit Bayard inzwischen im Höhlengang zurückgegangen, bis sie vor einer Gruppe kleinerer Zerrspiegel ankamen. Vorsichtig entfernte Lovan mit Hilfe ihres Kometsteinmessers einen der Spiegel von der Wand und hievte ihn in den Leiterwagen. Während sie an der Seite von Bayard an die Stelle zurückging an der Malva sie erwartete, sang Lovan laut: So gehen wir hin und freuen uns, auf Sonnenlicht und Tauenluft. Im Zauberwald steht hoch der Mond. Bald dämmert uns der Morgen. „Bitte hilf mir den Spiegel aus dem Wagen zu heben“, forderte sie Malva freundlich auf. „Wenn es sein muss“, gab Malva ihr genervt zur Antwort und begann gemeinsam mit Lovan den Zerrspiegel vor den großen Kristallspiegel zu tragen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Malva den zierlich geschnitzten Knauf des Kometsteinmessers, der aus Lovans Tasche ragte. Kaum hatten sie die beiden Spiegel einander gegenüber gestellt, fuhr ein Blitz durch die Höhle. Wie durch Zauberhand war die Spiegelwand verschwunden. Stattdessen tat sich vor ihnen ein Mondlicht beschienener Wald auf. „Wir haben es ge...“. Die Worte erstarben Lovan auf den Lippen. Der Knauf des Kometsteinmessers stakte aus ihrem Rücken. „Ich habe es dir ja gesagt, dass ich mich nicht aufhalten lasse“. Malva beobachtete befriedigt wie Lovans Oberkörper auf den Hals von Bayard sackte. Fieberhaft begann Malva in Lovans Taschen nach dem Kristall zu kramen. Bitter enttäuscht musste sie jedoch feststellen, dass die Baumsängerin den Edelstein nicht an sich genommen hatte. „Das hätte ich mir ja denken können. Du bist natürlich viel zu gut dazu“, raunte sie Lovan hasserfüllt ins Ohr und ließ von ihr ab. „Deinen sturren Gaul kannst du behalten“. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte Malva so schnell es ihr verletzter Oberschenkel zuließ, in den Wald hinein. Bayard wieherte schrill. Er hatte nicht einschreiten können, weil er mit seinem Körper Lovan stützte. Er leckte Lovan mit seiner Zunge über den Kopf und versuchte sie aufzuwecken. Die Glieder der Baumsängerin hingen leblos von ihrem Körper. Der Rotfuchs spürte ihren schwachen unregelmäßigen Herzschlag. „Wach auf Lovan, wach auf“, immer wieder stupste er sie mit seinen Nüstern an. „Lovan, wach auf.“ Als Bayard nahe daran war die Hoffnung aufzugegeben, kam Lovan zu sich. Keuchender Husten erschütterte ihre Lungenflügel. Lovan schrie auf vor Schmerz. Drohende Schatten versuchten ihr erneut das Bewusstsein zu rauben. Ihr Atem ging rasselnd. „Leg dich in den Karren Lovan, versuch es. Du schaffst es“, beschwor Bayard ihre verbliebenen Lebensgeister. Lovan rang nach Luft und krallte sich an Bayards Mähne fest. Ihre Beine knickten unter ihr zusammen. Lautlos schrie sie: „Amo ich brauche dich.“ Mit übermenschlicher Kraft schaffte sie es sich an Bayards Bauch festzuhalten und bis zum Leiterwagen zu hangeln. Mit einem gellenden Schmerzensschrei ließ sie sich hineinfallen. Danach verlor Lovan das Bewusstsein.
Bayard galoppierte ohne Unterlass durch den Wald. Seine Hufen dröhnten rytmisch auf die nachtkalte Erde, die im Mondlicht schwach leuchtete. Von Zeit zu Zeit drehte der Rotfuchs sich um und vergewisserte sich, dass Lovan noch atmete. Er spürte das ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Lovan lag bäuchlings im Leiterwagen. Ihr Messer steckte noch immer in ihrem Rücken. Er musste sie so schnell wie möglich nach Walden bringen. Seine Fähigkeit in weniger als einem Augenaufschlag an einen anderen Ort zu gelangen, funktionierte nur, wenn er alleine war und niemanden bei sich hatte. So sehr er genau jetzt von Schnelligkeit abhing, musste er den Weg nach Walden auf herkömmliche Weise zurücklegen. Bayard schnaubte und galoppierte schnell wie der Wind. So schnell, dass der Leiterwagen nicht den Boden berührte und Lovan zumindest die heftigen Erschütterungen des Gefährts erspart blieben, das über Stock und Stein ratterte.
Als der Morgen graute war Bayard dampfend und atemlos im Wunderhain angelangt. Es flirrte und glitzterte zwischen den weißstämmigen Birken. Er hörte lautes Flügelschlagen und den Schrei eines Vogels über sich. Unwillkürlich blieb Bayard stehen und sah Antar, den König der Adler, vor sich auf einem umgestürzten Baumstamm landen. „Sei gegrüßt Bayard. Ich bringe sie nach Walden.“ Antar hatte seine Flügel zu voller Spannweite ausgebreitet: „Ich habe Schwierigkeiten in der Nacht zu sehen, deshalb habe ich eure Spur verloren, sonst wäre ich euch schon früher zu Hilfe geeilt“, beeilte er sich zu erklären. „Ich habe Jalam versprochen auf Lovan zu achten.“ Bayard tänzelte nervös von einem Bein auf das andere. „Sie ist sehr schwach und hat viel Blut verloren.“ Bayard wieherte laut. Kurz darauf schritt aus dem Gestrüpp hocherhobenen Hauptes ein Hirsch auf sie zu. Ohne ein Wort zu verlieren spießte er die bewusstlose Lovan an ihrem Kleid aus unverwüstbarer Kastanienseide vorsichtig auf sein Geweih, um sie fürsorglich auf Antars Rücken zu setzen. Danach riss er einen dicken Hanfstrang ab, der über einem Zweig hing und band Lovan damit fest. Auf diese Weise verhinderte er, dass sie herunter fallen konnte. Bayard wieherte schrill: „Flieg Antar.“ Der Riesenadler hatte sich in die Lüfte erhoben und nahm Kurs auf Walden. Bayard blickte den Beiden besorgt hinter her und verschwand kurz darauf hinter dem Hirsch im Dickicht. Antar holte weit mit seinen Schwingen aus und pflügte durch die Luft wie ein siebenmastiges Segelschiff. Schon erkannte er Ygdars mächtige Baumkrone unter sich. Es war früh am Morgen und der Großteil der Waldener Baumsänger hatte sich zur gemeinsamen Morgenstille versammelt. Als Antar im Astrum vor ihnen landete und sie Lovan erkannten, die leblos auf seinen Rücken gebunden war, ging ein Aufschrei durch die Menge. Duir, Ullren und Ivy gefolgt von Sun und Blumai rannten zu Antar. Duir gelangte als erster zu ihm und setzte sich hinter die bewusstlose Lovan auf den Rücken des Adlers: „Flieg drei Baumkronen nach rechts, dort wo du die Brücke siehst und bring uns ins Canticum.“ Ivy, Ullren und seinen Kindern, die fassungslos vor ihnen stehen geblieben waren, nickte er kurz zu und schon waren sie zwischen den Blätterdächern ihrem Gesichtskreis entschwunden. Ullren war weiß wie die Wand geworden, als sie die verletzte Lovan erkannte. Ivy zitterte. Mit sichtlicher Mühe versuchte sie ruhig zu bleiben. Sie ergriff Ullren und Blumai bei der Hand und rief Sun zu: „Komm, wir folgen ihnen ins Canticum.“ Wie ein Lauffeuer breitete sich in Walden die Nachricht von Lovans Rückkehr und ihrem Zustand aus. Bald pilgerten Menschentrauben aus allen Ecken und Enden der Baumstadt zum Canticum, wo Lovan von den Canticas behandelt wurde. Mit geübten Händen hatten sie ihr das Messer behutsam aus dem Rücken gezogen und einen Wundverband mit einer Salbe aus Ringelblumen, Kamille, Blutwurz, Spitzwegerich und Nadelbaumharz gemacht. Lovan lag auf eine weiche Kautschukmatte gebettet neben dem Springbrunnen im Gras. Zwölf Canticas hatten einen Kreis um sie gebildet und begannen zu den Klängen von mehreren Harfen und Geigen überirdisch schön zu singen. Antar wich nicht von Lovans Seite. Ullren, Ivy, Sun und Blumai gelangten als Erste ins Canticum und ließen sich neben Lovan ins Gras fallen. Bald war der Musiktempel zum Bersten gefüllt mit Waldenern, die sich auf den Boden setzten und sich an den Händen hielten, um ihr durch die konzentrierte Energie einer Menschenkette neue Lebenskräfte zu spenden. Die Stimmen der Canticas hallten durch den Amphitempel. Ullren kniete im Gras. Sie hatte ihren Blick dem Himmel zugewandt und wiederholte immer wieder, so leise, dass niemand außer ihr die Worte verstehen konnte: „Amo bitte heile die Wunde meiner Schwester. Sie darf nicht sterben.“ Duir hatte Ivy beruhigend den Arm um die bebenden Schultern gelegt. Sun und Blumai hielten sich schweigend an den Händen. Außer den wundervollen Gesängen der Canticas, heiterem Vogelgezwitscher und dem friedlichen Summen von Bienen herrschte absolute Stille im Canticum. Viele Stunden vergingen bevor die Canticas aufhörten zu singen und sich entfernten. Darlim, die Vertreterin Lovans und Mitglied des Hathorenrats, trat vor die Menge und erklärte: „Lovan ist schwer verletzt. Das Messer hat ihr Herz getroffen. Wir helfen ihr am allermeisten, wenn wir zuversichtlich unser Tagwerk verrichten und in Dankbarkeit und Freude an ihre Genesung denken.“ Ullren rührte sich nicht von der Stelle. Sie würde ihre Schwester nicht alleine lassen. Während die Waldener sich langsam erhoben und das Canticum verließen, setzte Ullren sich dicht vor Lovan und bettete ihren Kopf behutsam in ihren Schoß. Zärtlich legte sie ihr die Hände auf Stirn und Augen und küsste sie auf beide Wangen.
Die Verwandlung
Jalam hastete hinter Uba durch die verwinkelten Höhlengänge. Er konnte an nichts anderes denken als an Lovan. Kein Tag am Adler Horst war vergangen an dem er nicht an sie gedacht hatte. Doch seit er sie wieder getroffen hatte, war ihm der Gedanke unerträglich ohne sie weiterleben zu müßen. Gleißendes Licht schlug ihnen entgegen. Jalam bedeckte sich für einen kurzen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er um sich herum nichts als glitzernde Kristalle. „Wo sind wir Uba? Bist du sicher, dass sie hier ist?“ „Ja, ganz sicher. Sie kann nur in die Kristallhöhle gelaufen sein.“ Uba sprintete weiter. Jalam rannte tapfer hinter ihm her. Von Weitem sah Uba etwas auf dem Boden liegen. Als er näher kam, erkannte er das es ein Stoffetzen war. Er nahm ihn ins Maul und trug ihn zu Jalam, der keuchend versucht hatte sein Tempo zu halten. „Das ist ein Stück Stoff aus Lovans Umhang. Sie war hier“, rief Jalam atemlos. „Sag ich doch“, knurrte Uba, weil er es hasste, wenn an seinem Wort gezweifelt wurde. Ohne sich weiter um Jalam zu kümmern, rannte er weiter. Obwohl der Jaguar ein erstaunliches Tempo an den Tag legte, blieb Jalam eisern an seiner Seite. Nach einem Sprint von etwa 500 Metern stoppte der Jaguar unvermittelt und deutete mit dem Kopf auf die Kristallwand. „Hier ist der Durchgang.“ „Durchgang wohin?“, wollte Jalam wissen. „In das Spiegellabyrinth und von dort in den Silberwald“. Uba stellte sich direkt vor den Kristall und berührte ihn mit seinem Schwanz. Das Portal öffnete sich und sie gelangten in das Spiegellabyrinth. Jalam starrte verdutzt auf die verzerrten Spiegelbilder, die sie dort empfingen. „Und wie finden wir hier Lovan?“ „Lass mich nur machen“, gab Uba ihm kurz angebunden zur Antwort. Überall an den Wänden waren lückenlos Zerrspiegel angebracht und Jalam wurde schwindelig von den ständig wechselnden Reflektionen in allen nur erdenklichen Variationen, die aus ihnen groteske Geschöpfe machte. Auf eigentümliche Weise bereiteten sie ihm Unbehagen, weil er überlegte, dass er im Grunde trotzdem sich selbst vor Augen hatte, auch wenn ihn sein Spiegelbild noch so boshaft anglotzte. Zwischen dem Wust aus Spiegeln gähnte ein Stück blanke Felswand. „Sie hat das Rätsel gelöst“, murmelte Uba in seine Barthaare hinein. „Welches Rätsel?“ Jalam war es leid keine anständigen Auskünfte von Uba zu bekommen. „Kannst du dich vielleicht ein bisschen klarer ausdrücken“, herrschte Jalam den Jaguar grob an. Uba hob seinen Kopf und schaute Jalam ruhig in die Augen. „Du solltest wissen, dass dich Ungeduld nicht weiter bringt Jalam.“ Der Baumsänger senkte betroffen den Kopf und nickte. „Komm ich zeige dir etwas“, forderte Uba ihn auf. Der Jaguar brach mit seinen Tatzen einen weiteren Spiegel aus der Wand und trug ihn im Maul mit sich. Jalam folgte dem Jaguar tiefer in das Spiegellabyrinth. Außer der Tatsache, dass die Spiegel leer blieben, anstatt ein verzerrtes Abbild von ihnen wiederzugeben, konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken, bis sie vor einem Spiegel stehen blieben, der gegenüber der durchgehenden Spiegelwand aufgestellt war. Sein Glas war zersprungen. Uba ließ den Spiegel aus seinem Maul gleiten und stellte ihn neben dem kaputten Spiegel gegenüber der Spiegelwand auf. Im selben Augenblick durchzuckte ein Blitz das Labyrinth und vor ihnen öffnete sich die Wand hinter der der Silberwald lag. Im fahlen Mondlicht konnten sie die Spuren eines Pferdes erkennen, dass einen Karren hinter sich herzog. Sie führten nach Osten. Einzelne Fußspuren, der Größe nach zu schließen von einer Frau, führten in die entgegengesetzte Richtung in den Wald. „Das müßen Lovans Spuren sein Uba.“ Ohne die Antwort des Jaguars abzuwarten lief Jalam seinen Blick starr auf den Boden gerichtet in den Wald hinein. Diesmal musste Uba sich beeilen, hinter ihm herzukommen. „Hast du es aufgegeben die Jungfrau aus dem Turm zu suchen?“, wollte Uba wissen, als er ihn eingeholt hatte. „Nein habe ich nicht. Aber vorher muss ich Lovan in Sicherheit bringen. Ich habe sie einmal im Stich gelassen. Ein zweites Mal passiert mir das nicht.“
Es schüttete wie aus Kübeln, so dass Urs kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Trotzdem hatte er es sich nicht nehmen lassen, seine tägliche Runde im Wald zu machen, um nach Hinweisen zu suchen, die ihn zu Linde und Malva führten. Alda saß auf seiner Schulter im Schutz der breiten Krempe des Strohuts, den Urs sich vor einigen Tagen selbst geflochten hatte. Es roch nach nasser Erde, Laub und Holz. Obwohl Urs und Alda auf ihrer täglichen Wanderung sonst von zwei neugierigen Eichhörnchen begleitet wurden, ließen sich die Beiden heute nicht blicken. Nicht einmal der Buntspecht hackte an seinem Häuschen. Urs hielt sein Gesicht dem Regen entgegen und fühlte wie die kalten Tropfen prickelnd auf seine Haut nieder prasselten. Selbst wenn er wieder mit leeren Händen in die Hütte zurück kommen würde, er fühlte sich zufrieden hier im Wald. „Sieh nur Urs“. Alda hatte ihr trockenes Plätzchen auf seiner Schulter verlassen und flog in den dichten Wald hinein. „Was denn, ich kann nichts besonderes sehen“. Trotzdem folgte Urs dem Schmetterling ins Dickicht. Alda war inzwischen auf einem Vogelbeerbusch gelandet und wartete auf ihn. Als Urs näher kam sah er, dass der Busch das Dach einer niedrigen Waldlaube war. In der Mitte des regengeschützten Platzes gab es eine kleine Bank aus einem umgefallenen Baumstamm und eine aus Hanf geflochtene Tischplatte, die mit dicken Pilzen bewachsen war und von mehreren aufgeschichteten Steinen getragen wurde. Ein Bourgonvillestrauch mit dunkelroten Blüten rankte sich am Dach der Laube empor. Dort wo seine Wurzeln sich unter der Erde verzweigten, hatte jemand einen Kreis mit kleinen flachen Steinen angeordnet. Urs bückte sich, um einen der Steine aufzuheben. Da er nichts besonderes an ihm entdecken konnte, legte er ihn an seinen Platz zurück und schaute sich ratlos um. Alda war wieder auf seine Schulter geflogen und streichelte Urs mit einem ihrer Flügel an der bartstoppeligen Wange: „Grab ein Loch, da wo der Steinkreis ist“, wies sie ihn an. „Wozu denn?“ „Ich habe das Gefühl, dass du dort etwas finden wirst“. „Na gut, wenn du meinst“. Urs ließ sich auf die Knie nieder und begann mit bloßen Händen zu graben. Da die Erde nass und weich war, hatte er binnen weniger Minuten ein relativ tiefes Loch gegraben. „Siehst du nichts“. Urs machte sich daran die Grube zuzuschütten. „Halt nicht so voreilig Urs. Ich glaube du mußt tiefer graben und versuchen bis zu den untersten Wurzeln vorzudringen.“ „Was soll denn hier vergraben sein Alda?“, knurrte Urs unwillig. Der Schmetterling überging seine Frage geflissentlich und ließ sich auf einer Bourgonvilleblüte nieder. Dort hüllte Alda sich in Schweigen, während sie zusah wie Urs weitergrub. Urs Kleider trieften vor Näße und waren binnen weniger Minuten von oben bis unten mit Erde bespritzt. Ab und zu machte Urs eine Verschnaufpause und vergewisserte sich, dass er die Pflanze nicht verletzte. Er grub unermüdlich bis das Loch gut und gerne zwei Meter tief war und er die weitverzweigten Wurzeln der Bourgonville bloßgelegt hatte. Gerade in dem Moment als er sich mit einem vorwurfsvollen „ich hab es dir doch gesagt, da ist nichts“ an Alda wenden wollte, spürte Urs unter seinen Fingern einen weichen Gegenstand. Hastig zog er ihn aus dem Erdreich. Urs hielt einen Lederbeutel in der Hand, der mehrfach zugeschnürt worden war, um zu verhindern das sein Inhalt naß werden würde, oder Käfern und Würmern als Fraß diente. Alda setzte sich triumphierend auf seine Schulter: „Na also, ich wusste doch, dass der Steinkreis etwas zu bedeuten hatte. Willst du den Beutel nicht aufmachen und nachsehen, was sich darin verbirgt?“ Umständlich nestelte Urs an den Lederschlaufen, die von der nassen Erde dreckverkrustet und hart wie Stein waren. Schließlich gelang es ihm den Knoten zu lösen und die Bänder aufzuwickeln. Urs zog ein vergilbtes mehrfach gefaltetes Pergament aus dem Beutel und faltete es mit zitternden Händen auf. Mit einem Blick erkannte er die Schrift, die ihm seit Wochen Rätsel auftrug. „Er ist von Linde nicht wahr?“, wollte Alda neugierig wissen. Urs nickte sichtlich aufgeregt. „Willst du ihn nicht lesen?“ „Nicht hier“. Eilig steckte Urs den Brief zurück in den Lederbeutel und ließ ihn in seine Hosentasche gleiten. Ohne ein einziges Mal stehen zu bleiben legte er den Weg zur Hütte im Laufschritt zurück. Noch immer regnete es in Strömen. Alda flog schweigend neben ihm her. Kaum war die Hütte in Sicht, riss Urs sich Hose und Hemd vom Leib und warf sie in einen grob zusammen genagelten Holzeimer in dem er Regenwasser auffing und seine Wäsche darin wusch. Splitternackt betrat er nur mit dem Lederbeutel in der Hand die Hütte. Er hüllte sich in eine Decke, die Linde zurückgelassen hatte, und schürte ein prasselndes Feuer im Kamin an. Mit einer Schale heißen Holundertee machte er es sich auf seinem Schaukelstuhl bequem. Erst jetzt zog er Lindes Brief aus dem Lederbeutel, wartete bis Alda sich auf seine Schulter gesetzt hatte und begann laut zu lesen:
Geliebter Gort,
obwohl dich dieser Brief nie erreichen wird, ist mir mit jeder Zeile, die ich zu Papier bringe, als ob ich sie direkt in dein Herz schreiben würde. Ohne dich und Lovan erscheint mir jeder Tag, der vergeht wie eine endlose Wüste. Ich habe das Liebste und Wertvollste in meinem Leben verloren, seit ich Walden verlassen habe. Ich versuche Malva Wärme und Liebe zu geben, sie nicht spüren zu lassen wie verzweifelt und traurig ich bin. Sie kann doch nichts dafür. Ich tue alles, um sie vor ihrem Schicksal zu bewahren. Ich hatte keine andere Wahl. Ich konnte dich nicht einweihen, weil du mich nie hättest gehen lassen. Es war die einzige Möglichkeit unsere Töchter zu beschützen. In der Vollmondnacht nach meiner Niederkunft hatte ich eine Vision als ich Malva zum Stillen an meine Brust legte. Eine erschreckende, unheilvolle Vision, die sich dreimal wiederholte, immer in der ersten Vollmondnacht. Ich habe gesehen wie Malva ihre Schwester Lovan mit einem Messer tötete. Ich habe mit niemanden darüber gesprochen. Nicht einmal mit Amo oder Ygdar. Ich kann nicht zulassen, dass sich die Vision erfüllt. Ich weiß, dass Lovan bei dir und in Walden gut aufgehoben ist. Meine Aufgabe ist es Malva zu beschützen, wenn es sein muss sogar, vor sich selbst. Auch wenn wir nicht gemeinsam das Aufwachsen unserer Töchter erleben dürfen, sollst du wissen, dass ich dich und Lovan ewig in meinem Herzen trage. Ihr seit mein erster und mein letzter Gedanke an jedem neuen Tag, der sich wie ein trostloser Pfad vor mir erstreckt, seit wir nicht mehr zusammen sind. Ich liebe Euch mehr als ich es mit Worten ausdrücken kann.
Verzeih mir *** Auf ewig
Deine Linde
Urs ließ den Brief nachdenklich in seinen Schoß sinken. Vielleicht gab es ja doch einen guten Ausgang und sie waren zurück zu Gort und Lovan nach Walden gegangen? „Glaubst du, dass sie zu ihrer Familie zurückgegangen sind?“, wandte Urs sich hoffnungsvoll an Alda. „Ich weiß es nicht Urs, aber nach dem Brief zu schließen, habe ich nicht viel Hoffnung. Denk nach Urs, Linde glaubt, dass Malva ihre Schwester Linde umbringt. Nie und nimmer wird sie ihre Töchter diesem Schicksal ausetzen. Außerdem haben sie nicht einmal die Puppe aus der Kinderwiege mitgenommen. Eine Mutter kann Vieles vergessen, aber nicht die Puppe ihrer Tochter.“ Urs starrte Alda mit gerunzelter Stirn an. „Wie meinst du das?“ „Das heißt, entweder sind sie beide gewaltsam aus der Hütte verschleppt worden oder nur Malva und Linde hat alles zurückgelassen, um ihre Tochter zu suchen.“ Natürlich, Alda hatte recht. Nur jemand, der es sehr eilig hat, hinterläßt seine Hütte so wie Urs und Alda sie vorgefunden hatten. Es war an der Zeit ihren Weg fortzusetzen. „Im Morgengrauen brechen wir auf Alda.“
„Seit ihr sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?“ „Ja wir sind gleich da“, antwortete Erik, der sich am besten im Wald auskannte. Bevor Egom seinen Besitz beschlagnahmt hatte, weil er seine Lehnzinsen nicht zahlen konnte und ihn als Sklavenarbeiter in die Mienen schickte, hatte Erik seine Familie jahrelang nur mit Pilzen, Nüßen und Beeren ernährt, die er im Wald gesammelt hatte. Nur er, sein Sohn Larch und Burk waren bei Aruc geblieben. Der Rest der Mienensklaven war auseinandergelaufen und jeder versuchte für sich sein Glück, um den Soldaten zu entkommen. Während Aruc im Gedanken versunken weiterging und überlegte, wie er Eufe, Fallada und die Glühmandln wiederfinden sollte, klopfte ihm Erik auf die Schulter. „Hier, siehst du? Wir sind da“. Aruc schaute angestrengt in die Richtung in die Eriks Zeigefinger deutete. Konnte aber beim besten Willen nichts erkennen. „Nein, wo denn?“ „Na hier geradeaus direkt am Baum.“ Jetzt erst wurde Aruc auf die kleine Hütte aufmerksam, die vollkommen von Kletterpflanzen bedeckt und kaum von den Bäumen und Büschen in ihrer Umgebung zu unterscheiden war. Aruc pfiff durch die Zähne. „Alle Achtung. Ein perfektes Versteck.“ Als sie näher kamen, entdeckten sie frische Fußspuren auf der matschigen Erde, die aus der Hütte herausführten. „Wie ist schon vor uns jemand hier gewesen“, flüsterte Aruc und signalisierte den anderen sich in Deckung zu halten. Lautlos pirschte er sich bis zur Eingangstür und horchte. Im Inneren der Hütte blieb es still. Aruc trat einen Schritt zurück und schaute sich um. Es gab zwei Fenster, die von innen verriegelt waren. Leise ging er um die Hütte herum. Auf einem Pflock lagen Spähne verstreut, die verrieten, daß vor kurzem jemand Holz geschlagen hatte. Daneben stand eine fast mannshohe Tonne bis zum Rand mit Regenwasser gefüllt. Nachdem Aruc seine Runde beendet hatte, blieb er vor der Eingangstür stehen und drückte entschlossen den Knauf nieder. Mit einem Ruck sprang die Tür auf. Der Geruch von Tannenzapfen und Rosmarin schlug ihm entgegen. Aruc drehte sich um und nickte seinen Freunden zu. Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Er öffnete die Fensterläden und warmes Sonnenlicht durchflutete den Raum. Der Holzboden war frisch gekehrt. Am Kamin stapelten Brennscheite, daneben stand ein Korb voller Tannenzapfen und getrockneter Kräuter und mehrere leere Körbe. Über einem Holzkohlenofen hingen getrocknete Blumen und Töpfe. Neben der Feuerstelle stand ein Schaukelstuhl, an der Rückwand der Hütte gab es einen Bettrost auf dem eine saubere Matratze lag und eine Kinderwiege in der eine Puppe schlief. Unter dem Fenster stand ein Tisch und eine Sitzbank. Erik, Larch und Burk waren Aruc in die Hütte gefolgt. „Jemand wohnt hier. Was machen wir, wenn er zurück kommt?“, runzelte Burk besorgt die Stirn. „Wir erzählen selbstverständlich die Wahrheit“, antwortete Aruc. „Jemand der so abgeschieden im Wald lebt, ist bestimmt kein Anhänger von Egom.“ Erik und Larch nickten zustimmend. Burk zuckte mit den Schultern: „Wenn ihr meint.“ „Ich habe hinter der Hütte eine Tonne mit Regenwasser gesehen. Ich schlage vor wir waschen uns erstmal und ruhen uns aus, damit wir wieder zu Kräften kommen.“ Aruc trat vor die offenstehende Tür und pflückte einen großen Strauß duftendes Seifenkraut, das direkt vor der Hütte wuchs. Während er um die Hütte herum ging, entledigte er sich angewidert seiner zerfetzten stinkenden Kleider und warf das Seifenkraut in die Regentonne. Die anderen waren ihm gefolgt. Ausgelassen begannen sie sich gegenseitig das Wasser über den Kopf zu schütten und den Dreck der Mienen abzuschrubben. Als sich einer nach dem anderen gesäubert und erfrischt hatte, wuschen sie ihre Lumpen so gut es ging mit dem restlichen Wasser und hingen sie hinter der Hütte in die Bäume zum Trocknen auf. Danach legten sie sich nackt und erschöpft bis zum Umfallen zum Schlafen hin. Erik und Larch teilten sich die Matratze, Burk legte sich auf die Holzbank und Aruc setzte sich in den Schaukelstuhl. Binnen weniger Minuten waren sie eingeschlafen. Nach einer Weile erwachte Aruc, weil ihm kalt war. In einem der Körbe neben dem Kamin fand er eine Decke, in die er sich dankbar einhüllte. Als Aruc sich zurück in den Schaukelstuhl setzten wollte, hörte er Schritte vor der Hütte. Erschrocken lief er ans Fenster. Er begann zu zittern. Den Atem anhaltend öffnete er die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Er versuchte zu sprechen. Die Stimme versagte ihm. Schließlich brachte er es doch über die Lippen: „Vater“. Aruc starrte ungläubig auf seinen Vater, der vor ihm stand und sich nicht rührte. Alda saß auf Urs Kopf und bewegte leicht ihre Flügel. Urs erwiderte Arucs staunenden Blick mit seinen blauen Augen, die leuchteten wie ein strahlender Sommerhimmel. Er trat näher an Aruc heran und ergriff behutsam dessen Hände, die zerschunden und geschwollen waren, von der schweren Arbeit in der Miene. Wortlos presste er Arucs kalte Finger an seine Brust. Aruc fühlte den heftigen Herzschlag seines Vaters. Dicke Tränen begannen an Urs stoppeligen Wangen herunterzurollen. Ohne die Hände von Aruc loszulassen ging er vor ihm in die Knie. Alda blieb regungslos auf seinem Kopf sitzen. Aruc stand fassungslos im Türrahmen: „Vater, so steh doch auf Vater.“ Urs schien ihn nicht zu hören. Er hielt seinen Kopf gebeugt, während die Tränen vor ihm auf die Erde tropften. Schließlich kniete Aruc sich neben ihn auf den Boden. Verlegen wartete er, dass sein Vater sich beruhigte. Stattdessen nahm Urs ihn mit einem Seufzer in seine Arme und drückte ihn so fest an sich, dass ihm fast die Luft wegblieb. Aruc spürte seine Wärme, die kräftigen Muskeln unter seinem Hemd, seine heißen Tränen, die ihn benetzten. Wie ein kleiner Junge legte Aruc zaghaft seinen Kopf auf die Schulter seines Vaters und begann erbittert zu weinen. Urs streichelte ihm mit seinen rauhen Händen zärtlich über den Kopf und flüsterte unter Tränen: „Verzeih mir.“
Eric, Larch und Burk schauten verdutzt zwischen Urs und Aruc hin und her. „Du hast dein Gedächtnis verloren und dein ganzes Leben vergessen?“, staunte Larch. „Na ja bei dem was man sich so alles aus Inthorm erzählt, nicht die schlechteste Sache eigentlich.“ Erik trat seinem Sohn unter dem Tisch auf den Fuß, während er ihm mit rollenden Augen andeutete zu schweigen. „Nein ist schon gut Eric, Larch hat ja recht. Es war wirklich das Beste für mich, meine Vergangenheit zu vergessen. So konnte ich mich befreien von der Schuld und Scham, die ich in all den Jahren auf mich geladen habe.“ Urs hatte seinen Kopf gesenkt und schaute verlegen auf die grobgeschnitze Tischplatte vor sich. Aruc blickte seinen Vater ungläubig an. Nie im Leben hätte er aus seinem Mund diese Worte erwartet. „Und wie sollen wir dich jetzt nennen?“, wollte Burk wissen. „Urs oder Brac?“ „Brac ist in der Bärenhöhle gestorben. Und wenn ich nicht Alda begegnet wäre, die mir den Namen Urs gegeben hat, dann würde ich jetzt nich hier sitzen.“ Urs ließ seinen Blick zärtlich über Alda streichen, die regungslos auf seiner rechten Schulter saß. „Ihr und Linde ist es zu verdanken, dass ich weitergemacht habe.“ „Hast du Mutter bereits vergessen?“ Aruc war empört aufgestanden und stellte sich kerzengerade vor seinen Vater. Urs strich sich mit Zeige- und Mittelfinger die langen schwarzen Haare hinter die Ohren und sah seinem Sohn mit gebrochenem Blick in die Augen: „Als ich dir gegenüberstand ist meine Erinnerung an meine Geschichte zurückgekommen, allerdings nicht vollständig. Ich weiß nicht was mit deiner Mutter passiert ist. Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich in der Nacht eurer Flucht wie immer ein Glas Honigmet vor dem Zubettgehen getrunken habe. Das ist alles. Ich kann mich erst wieder erinnern, dass ich in der Bärenhöhle aufgewacht bin“. „Und wer ist diese ... diese Linde“, presste Aruc enttäuscht heraus, sichtlich im Glauben, dass sich sein Vater bereits mit einer anderen Frau getröstet hatte. „Ich kenne sie nicht. Ich habe nur ein fast unleserliches Tagebuch von ihr gefunden und einen Brief an ihren Mann und ihre Tochter, den sie im Wald vergraben hat.“ Unsicher schaute er zu Aruc, der grübelnd vor ihm stand. Nichts erinnerte mehr an den boshaften Mann, der ihm seine Kindheit vergraut hatte. Urs kramte in seinem Wanderbeutel und holte Lindes Tagebuch und Brief hervor. „Ihre Geschichte hat mir Kraft gegeben. Es ist ihr zu verdanken, dass wir uns wiedergetroffen haben Aruc. Ich wollte eigentlich nicht mehr in die Hütte zurückkehren. Ich bin losgezogen, um sie zu finden, weil ich das unbestimmte Gefühl hatte, dass sie mir dabei helfen würde, herauszufinden wer ich bin. Ich war schon einen halben Tagesmarsch entfernt als mir eingefallen ist, dass sie vielleicht doch zur Hütte zurückkommen könnte und deshalb wollte ich ihr noch einen Brief hinterlassen. Für den Fall der Fälle. Deshalb bin ich zurückgekommen.“ „Und jetzt wo du wieder weißt wer du bist, was wirst du tun?“, mischte sich Larch arglos ein, wofür er erneut einen Schienbeintritt von seinem Vater unter dem Tisch einkassierte. „Ich werde zurück nach Inthorm gehen und Ullren befreien. Und ich werde dafür sorgen, dass Egom nicht mehr das Blut von Eufe braucht“, antwortete Urs mit einem gefährlichen Flackern in den Augen. „Wir gehen gemeinsam Vater“. Aruc war aufgestanden und hob seinen Krug mit Hagebuttentee. Die anderen folgten ihm. „Auf Freiheit und Leben“. Urs hielt seine Augen dankbar und stolz auf Aruc gerichtet als sie im Chor brüllten: „Hurra, Hurra, Hurra“ und sich gegenseitig in die Arme fielen. Alda saß auf einem Vogelbeerbusch vor dem Fenster und beobachtete zufrieden das strahlende Lächeln auf Urs Gesicht als er seinen Sohn umarmte. Sie kreiste zweimal vor dem Fenster bevor sie in den Wald hineinflog und sich ihre orangegelben Flügel im Blätterdickicht verloren. Als Urs etwas später die Hütte verließ, um nach ihr zu sehen, wartete er vergeblich, dass sie aus den Büschen auf seine Schulter flatterte. „Alda, Aldaaaaaa, wo bist du?“ Urs suchte den Schmetterling überall, auf den Holunder- und Vogelbeerbüschen, die rund um die Hütte wuchsen, in der Dachrinne über der Regentonne, auf dem Holzpflock, auf den Schlüsselblumen im dichten Gras. Immer wieder rief er ihren Namen. Voller Sorge lief er in den Wald hinein und folgte dem Pfad, den er so viele Male gemeinsam mit Alda entlang gewandert war. Er konnte nicht glauben, dass seine treue Begleiterin nicht mehr bei ihm war. „Alda, Aaaalda“, rief er traurig. Obwohl Urs es nicht wahrhaben wollte, spürte er, dass sie nicht zurückkommen würde. Schließlich blieb er stehen und kniete sich auf den Waldboden. Er faltete die Hände vor der Brust. Tränen rannen ihm über die Wangen als er flüsterte: „Alda, ich danke dir. Ich weiß jetzt, dass der Weg das Ziel ist. Du hast mir beigebracht zu fliegen. Ich werde dich nie vergessen.“
Malva war die ganze Nacht durch den Wald geirrt, um den Eingang zu den Höhlen wiederzufinden. Sie war entschlossen sich den Kristall zurückzuholen. Ihr verletztes Bein schmerzte höllisch. Außerdem hatte sie Hunger und Durst. Sie fühlte sich elend. Gegen ihren Willen dachte sie immer wieder an den Moment, als sie Lovan das Messer in den Rücken gerammt hatte. Sie versuchte sich einzureden, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte. Trotzdem gelang es ihr nicht sich selbst zu überzeugen. Lovan hatte ihr das Leben gerettet und sie hatte es ihr mit einem hinterhältigen Messerstich gedankt. Malva hasste sich abgrundtief. Ihre Eltern hatten sie nur deshalb im Stich gelassen, weil sie nichts wert war. Warum sonst hätten sie nicht nach ihr gesucht. Langsam wurde es hell. Malva hatte ihr Gesicht dem rotgefärbten Himmel zugewandt, der Regen ankündigte. Warum sollte sie sich kümmern, um eine fremde Frau, die ihr im Weg gestanden war. Das Leben war eben nicht immer fair. Sie war sich selbst der nächste und nur das zählte. Entweder fand sie die Jungfrau aus dem Turm und opferte sie für Egom der schwarzen Sonne oder ihr Leben war ohnehin verwirkt und sie würde bestenfalls auf dem Scheiterhaufen sterben. Wahrscheinlich würde Egom sich jedoch eine weit grausamere Methode für ihren Tod ausdenken. Sie musste trinken, essen und sich ausruhen, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann würde sie auch wieder einen klaren Gedanken fassen können. Je weiter sie ging, desto dichter wurde der Wald bis der Himmel über ihr gänzlich verschwunden war. Wie vorauszusehen gewesen war, begann es zu regnen. Zuerst war es nur ein feiner Sprühregen, der sich binnen weniger Minuten verstärkte. Malva konnte von Glück sagen, dass das dichte Blätterdach über ihr verhinderte, dass sie bis auf die Haut nass wurde. Dafür stillte sie ihren Durst indem sie ein großes Ahornblatt in ihren Handteller legte und darin das Regenwasser auffing. Nachdem sie mehrere Male das Blatt aufgeschlürft hatte, raschelte es im Dickicht. Malva horchte erschrocken auf und versteckte sich hinter einem Baumstamm. Ihr Herz pochte so laut, dass sie das Gefühl hatte, wer auch immer in der Nähe war, würde jeden einzelnen Schlag mithören. Malva hielt die Luft an. Wenn Egom seine Schergen nach ihr ausgeschickt hatte und sie unverrichteter Dinge gefangen genommen werden würde, dann konnte ihr vielleicht nicht einmal mehr helfen, dass Egom sie für das Ritual brauchte. Wahrscheinlich würde er sie foltern, bis sie ihm alle Geheimnisse verraten hatte und danach umbringen. Malvas Hände verkrampften sich zu Fäusten. Sie versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu halten. Nichts rührte sich. Vorsichtig spähte Malva hinter dem Baumstamm hervor. Anstatt sich einem schwerbewaffneten Soldaten aus Inthorm gegenüberzusehen, stand ein langbeiniges graziles Rehkitz vor ihr, dass bei Malvas Anblick mit einem Satz im Wald verschwunden war. Erleichtert atmete Malva auf. Ein paar zaghafte Sonnenstrahlen stahlen sich durch die dichte Blätterkuppel. Schon wollte Malva ihren Weg fortsetzen, um etwas Eßbares zu suchen als ihr Blick hängenblieb, genau da, wo das Reh noch vor ein paar Sekunden gestanden hatte. Das war kein gewöhnlicher Baumstamm, sondern eine dicht mit Kletterpflanzen bewachsene Hütte. Malva pirschte sich zum Eingang, klopfte an und rief: „Hallo ist da wer?“ Nachdem sie keine Antwort erhielt öffnete sie die knarzende Tür und trat ein. Im Inneren roch es anheimelnd nach Holz und Kräutern. Die Fensterläden waren einen Spalt breit geöffnet und ein paar Lichtstrahlen erhellten den Innenraum. Alles war aufgeräumt, der Boden war gefegt, das Bett gemacht und vor dem Kamin stapelte sich frisches Brennholz. Es gab eine Sitzbank, einen Schaukelstuhl und einen großen Holztisch auf dem ein Korb voller Haselnüße stand, über den sich Malva heißhungrig hermachte. Nachdem sie keine einzige Nuss übrig gelassen hatte, öffnete sie die Fensterläden und schaute sich weiter in der Hütte um. Neben dem gemachten Bett stand eine Kinderwiege in der eine zerflederte Stoffpuppe lag. Malva bückte sich und nahm die Puppe in ihre Hände. Mit der Stoffpuppe im Arm, ließ Malva sich auf das Bett sinken. Sie war müde, unsagbar müde. Die Puppe fest an ihre Brust gepresst wickelte sie sich in eine Decke, die auf dem Bett lag und war binnen weniger Sekunden eingeschlafen.
Malva gelangte an eine Wendeltreppe. Einen Schritt nach dem anderen setzte sie ihre baren Füße auf die Stufen und stieg die gewundene Treppe hinunter, die in einem fensterlosen Korredor mündete. Zuerst konnte sie die Hand vor Augen nicht erkennen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie der Umrisse von verschiedenen Türen gewahr wurde. Die erste Tür war aus schwarzem Gusseisen mit kupfernen Nieten und einem Drachenkopf als Anklopfer. Sie war schmal, dafür aber unnatürlich hoch. Die zweite Tür war aus Kristall, das selbst in der Lichtleere strahlte. Sie war breit wie ein Torbogen. Daneben gab es eine verwitterte, wurmstichige Holzklappe von der Höhe einer Hundehütte. Schräg gegenüber ragte eine rubinrote Tür mit einem schwarzen Einhornwappen auf. Am Ende des Ganges befanden sich drei in ihrer Form und Machart exakt gleiche Türen, die sich lediglich durch ihre Farben unterschieden: grün, gelb und blau. Es waren sieben Türen. Malva verharrte in der Dunkelheit. Ruhelos ließ sie ihre Augen von einer Tür zur anderen wandern und kniete sich schließlich ratlos in eine Ecke des kalten dunklen Ganges. Sie musste sich für eine der Türen entscheide, Alles hing davon ab. Malva stand auf. Obwohl das Kristallportal sie magisch anzog, näherte sie sich der verwitterten, wurmstichigen Holzluke. Der modrige Geruch von klammer Nässe und zerfasernden Brettern erinnerte sie an Armut und Exil. Von weit her drangen die Rufe und das Lachen spielender Kinder zu ihr. Sie fröstelte und begann auf und abzugehen. Endlich fasste sie einen Entschluss. Sie würde weder das Kristallportal, noch die Holzluke öffnen. Stattdessen wandte sie sich der rubinroten Tür mit dem Einhormwappen zu. Der eiserne Türknauf lag klotzig und schwer in ihrer Hand. So sehr sie sich auch bemühte ihn niederzudrücken, so wenig waren ihre immer heftigeren Bemühungen von Erfolg gekrönt. Nach schier endlosen Versuchen gelang es Malva endlich die Klinke bis zum Anschlag nach unten zu pressen, indem sie sich mit ihrem ganzen Körper dagegen stemmte. Der Knauf gab ächzend nach und die Tür sprang quietschend auf. Malva verschlug es den Atem. Außer gähnender Leere, gab es nichts hinter der Tür, nur leeren Raum. Einer plötzlichen Eingebung folgend, öffnete Malva fieberhaft eine Tür nach der anderen. Hinter jeder der Türen erwartete sie der gleiche Anblick: Unbeschreibliches absolutes Nichts. Schweißgebadet erwachte Malva aus ihrem Traum und rieb sich die Augen. Im ersten Moment konnte sie sich nicht erinnern, wo sie war, bis sie die Stoffpuppe neben sich auf dem Bett liegen sah. Behutsam nahm sie den zerfledderten Leib und spielte mit den langen kupferblonden Puppenzöpfen aus geflochtener Wolle. Sie durfte unter keinen Umständen ohne die Jungfrau aus dem Turm unter Egoms Augen treten, so viel war sicher. Es gab nur einen Ausweg. Sie musste den Höhleneingang wieder finden, um den Kristall zu suchen, der ihr im Kampf gegen die Hakenmänner aus der Tasche gefallen sein musste. Allein bei dem Gedanken daran den grausamen Kerlen noch einmal zu begegnen, stellten sich ihr sämtliche Haare zu Berge. Sie konnte nicht damit rechnen ein zweites Mal mit dem Leben davon zu kommen. Es musste einen anderen Ausweg geben. Malva blickte sich in der Hütte um. Die Sonnenstrahlen, die durch die beiden Fenster fielen bedeckten den Boden mit einem Teppich, dessen Ornamente aus Licht und Schatten gewebt zu sein schienen. Ein zusammengefaltetes Papier, dass unter dem Tisch lag, erweckte Malvas Aufmerksamkeit. Sie bückte sich und hob es neugierig auf. In großen Buchstaben war der Name Linde darauf geschrieben. Malva faltete das Blatt auf, setzte sich auf die Bank vor dem Tisch und begann zu lesen:
Verehrte Linde,
obwohl wir uns nie begegnet sind, ist ihre Geschichte eng mit der meinen verbunden. In tiefster Verzweiflung gelangte ich durch die Hand des Schicksals in Ihre Hütte und fand nach langer Zeit zum ersten Mal Schutz und Geborgenheit ... Ihr Tagebuch, d.h.. die wenigen leserlichen Seiten, die von der Feuchtigkeit und den Motten verschont geblieben sind, gaben mir neuen Lebenswillen. Deshalb bitte ich sie inständig mir meine Indiskretion zu verzeihen. Ihre Zeilen haben mich aus einem schwarzen Loch gerettet, in dem ich gefangen war. Ich wusste nicht woher ich kam und wohin ich gehen sollte,. Ich hatte mich aufgegeben, bevor mich das Echo ihrer Seele so tief berührte, dass ich in der Einsamkeit, und Stille, durch die Ungewissheit der Vergangenheit und Zukunft,, die Glückseligkeit des Augenblicks fand. Ich wünsche mir von ganzem Herzen Ihnen persönlich begegnen zu dürfen, um Ihnen zu danken und mich zu vergewissern, dass es Ihnen und Ihren Töchtern Malva ...
Das nächste Wort verschwamm vor Malvas Augen. Sie begriff nicht. Wahrscheinlich war sie doch nicht aufgewacht und diese Zeilen waren Teil ihres Traumes. Malvas Hände zitterten als sie weiterlas.
... und Lovan gut geht.
Ich gestehe dass ich auf der Suche nach Ihnen auch auf den Brief an Ihren Mann Gort gestoßen bin und ihn gelesen habe. Erlauben Sie mir Ihnen zu versichern,, dass es keine Schande ist, wie sie als Mutter gehandelt haben. Sie haben nur versucht Ihre Töchter zu beschützen und das ist das Heiligste Recht einer Mutter, auch wenn sie sich dadurch dem Schicksal in den Weg stellt. Doch kann und darf nicht einmal eine Mutter, die Last ihres Kindes tragen. Wenn Malva sich entschieden hat, ihrer Schwester Leid zuzufügen, so wie sie es in ihrer Vision gesehen haben, dann dürfen sie sich keine Schuld dafür geben. Sie haben alles versucht was in ihrer Macht steht, um dies zu verhindern. Sie haben ihre Heimat aufgegeben, ihre Liebe und ihre Tochter Lovan. Doch können wir mit unserem eigenen Unglück niemanden retten. Es ist nie zu spät umzukehren.
Da ich Sie seit Wochen im Wald suche und mir der Zustand in dem ich die Hütte vorgefunden habe, Hinweise darauf geben, dass Sie in großer Eile aufgebrochen sind (ich weiss, dass eine Mutter die Puppe ihrer Tochter nur in äußerster Not zurückläßt), wage ich nicht mehr, darauf zu hoffen, Sie hier anzutreffen. Ganz gleich wie sehr Sie sich selbst für Ihre Entscheidungen verurteilen mögen, mir haben sie mein Leben zurückgegeben, dass ich seit langer Zeit verloren hatte. Wäre ich nicht noch einmal hierher zurück gekehrt, um Ihnen diesen Brief zu hinterlassen, dann hätte ich nicht meinen Sohn wiedergefunden. Ich habe es Ihnen zu verdanken, dass ich die Kluft jahrelanger Entfremdung überwinden konnte. Ich zweifle nicht, mehr daran, dass unser aller Leben, so veerworren es uns auch zuweilen erscheinen mag, Teil eines höheren Planes ist.
In tiefer Achtung und Dankbarkeit,, die ich in Worten nicht auszudrücken vermag
Urs von Bärin
PS: Ich markiere den Weg nach Steinern.Sie finden mich dort in der verlassenen Schmiede.
Malva las den Brief mehrere Male, bevor sie ihn erschüttert in ihren Schoß sinken ließ. Zitternd hob sie die Puppe aus der Kinderkrippe und setzte sich in den Schaukelstuhl. Während sie leise eine Melodie summte, begann sie vor und zurück zu wippen immer schneller und schneller, bis sie so heftig wippte, dass ein Stuhlbein samt der Kufe abbrach. Malva wurde aus dem Sitz geschleudert und fiel mit voller Wucht auf ihren verwundeten Oberschenkel. Der Schmerz brachte sie zur Besinnung. Die Stoffpuppe in ihr Gesicht gepresst, legte sie sich auf den Boden und schluchzte. Sie hatte ihre Schwester umgebracht, so wie ihre Mutter es vorhergesehen hatte. Ihre Mutter hatte alles aufgegeben, um zu verhindern, dass sie Lovan tötete. Sie war mit ihr in diese Hütte geflüchtet bis Ekstel sie geraubt hatte. Warum war das Schicksal so grausam zu ihr. Was hatte sie getan? Was konnte sie dafür, dass das Schicksal sie für diese Rolle ausgesucht hatte? Nicht einmal das Opfer ihrer Mutter konnte sie davor bewahren. Blinde Wut und Hass flammten in Malva auf. Sie schrie und schlug um sich. Sie weinte und zerkratzte ihre Arme und riss sich büschelweise die Haare vom Kopf. Als sie keine Kraft mehr hatte ihre Rage auszuleben und apathisch liegen blieb, erinnerte Malva sich an den Traum der vergangenen Nacht mit den sieben verschiedenen Türen, die alle das gleiche verbargen: Nichts. Eine leise Stimme raunte: „Nichts hat die Bedeutung, die du ihm gibst.“ Malva hatte die Augen geschlossen und atmete tief ein und aus. In ihrem Hals steckte ein Kloß. Sie spürte stechende Schmerzen in ihrer Brust. Ihr war schwindelig vor Übelkeit. Langsam richtete sie sich auf. Ihre Finger krampften sich so fest um die Stoffpuppe, als ob sie eine Angel wäre, mit der sie ihre wahre Herkunft aus den trüben Wassern der Vergangenheit herausfischen konnte. Die Stimme kam näher. Sie war samtig und weich und begann ein vertrautes Wiegenlied zu singen. Schlagartig erkannte Malva die Stimme. Malva schlug die Augen auf. Aus dem Schatten löste sich eine wunderschöne Frau, die sich zu ihr herab beugte und ihr zärtlich über den Kopf strich. Malva sog ihren Geruch nach Melisse und Zitronenkraut in sich auf. Ein wohliger Schauer durchrieselte sie. „Mutter“, flüsterte Malva leise. „Verzeih mir Mutter. Ich bitte dich verzeih mir.“ „Es gibt nichts zu verzeihen mein Liebling. Du kannst nichts dafür. Alles hat seinen Sinn. Ich liebe dich.“ Malva spürte einen Lufthauch und einen sanften Kuss auf ihrer Wange. Ihre Mutter war fort. Malva blinzelte. Verzweifelt rief sie: „Mutter, Mutter komm zurück.“ Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wusste nicht mehr wie lange sie auf dem Boden gesessen hatte. Das Licht in der Hütte war fahl geworden. Durch das Fenster zeichneten sich die dunklen Schatten der Bäume in der untergehenden Sonne ab. Auf alle Viere gestützt, die langen dunkln Haare wirr ins Gesicht hängend, stand Malva langsam auf. Sie würde ihre Mutter nicht noch einmal enttäuschen. Wenn auch das Schicksal sie dazu auserkoren hatte auf der falschen Seite zu beginnen, konnte sie sich dafür entscheiden die Seiten zu wechseln. Malva wusste was sie von nun an zu tun hatte. Sie würde um jeden Preis verhindern, dass Egom die Jungfrau aus dem Turm in die Hände bekam. „Du sollst stolz auf mich sein können Mutter“, flüsterte sie in die Dunkelheit der Hütte. Zuerst musste sie herausfinden woher die Jungfrau aus dem Turm kam. Ekstel hatte sie ihr ohne Erkärung in die Arme gelegt und befohlen sie Egom auszuhändigen. Malva schoss die Schamesröte ins Gesicht bei dem Gedanken daran, dass sie selbst es gewesen war, die das Mädchen nach Inthorm gebracht hatte. Dafür würde sie es jetzt sein, die sie vor Egom beschützte und zu ihrer Familie zurück brachte. Es gab nur einen Menschen, der ihr verraten konnte, woher die Jungfrau stammte: Lida, sie war die älteste Zigeunerin in der Siedlung und hatte als Hebamme Generationen von Unterbergern zur Welt gebracht. Sie musste es wissen.
Eufe stand allein auf der Bergspitze. Sie fröstelte und zog sich ihren Umhang enger um die Schultern. Fonaskus Worte klangen ihr in den Ohren: „Mit dem Gesang deiner Lieder bringst du die Sonne zum Scheinen. Du hast die Macht die Menschen durch deine Stimme zu verwandeln. Nütze sie.“ Eufe ließ sich ins Gras sinken. Sie musste nachdenken. Sie beobachtete wie sich die Sonne hinter die Bergspitze schob und eine schmale Mondsichel am Himmel sichtbar wurde. Wo sollte sie beginnen? Eufe grübelte. Wenn es einen Menschen gab, der einer Verwandlung bedurfte, dann war es Egom. Mit einemal sah sie ihre Aufgabe klar vor sich. Sie musste Egom verwandeln. So wie die Faunsängerin es ihr aufgetragen hatte. Angst in Vertrauen, Gewalt in Güte, Widerwärtigkeit in Grazie, Hochmut in Einfachheit, Hass in Liebe, Trostlosigkeit in Freude, Hässlichkeit in Schönheit, Trennung in Einheit. Sie musste das Lied finden, dass seine Seele sichtbar machte. Ein endloser Sternenhimmel funkelte über ihr. Unvermittel erinnerte sie sich an den Rosenquarz in ihrem Rucksack. Als Eufe sich den Stein in den Schoß legte, begann er intensiv zu leuchten. Gebannt starrte sie auf die weißen Sprenkel, die wie gefrorene Schneeflocken auf seiner Oberfläche klebten und langsam vor ihren Augen verschwammen bis sie sich zu einem klaren Bild verbanden. Eufe sah eine wunderschöne holzgeschnitzte Leier im Inneren des Kristalls, die mit der herzförmigen Doppelspirale verziert war, die auf ihrem Anhänger eingraviert war. Allmählich verblasste das Bild. Eine Leier, natürlich sie brauchte ein Instrument, um ihre Lieder zu finden. Zwei Sternschnuppen verglühten gleichzeitig wie glitzernder Sprühregen am Firmament über ihr. Eufes Blick fiel auf den Aschenhaufen aus dem Fonaskus auferstanden war. Sie traute ihren Augen nicht. Das konnte doch nicht wahr sein. Eufe glaubte zu träumen und zwickte sich heftig in den linken Arm. „Aua“, entfuhr es ihr. Sie stand auf und näherte sich dem Aschehaufen auf dem eine wunderschöne, holzgeschnitzte Leier mit eingravierter Doppelspirale in Herzform lag. In allen Einzelheiten entsprach sie genau dem Bild, dass ihr der Rosenquarz gezeigt hatte. „Das ist kein Traum“, flüsterte Eufe ehrfürchtig und bückte sich, um das Instrument andächtig aufzuheben. Der Wind strich durch die Seiten und entlockte ihnen sanfte Töne. Eufe setzte sich ins Gras. Mit dem Rücken gegen ihren Rucksack gelehnt, begann sie zärtlich an den Seiten zu zupfen. Sie erhob ihren Blick zu den Sternen und flüsterte mit Tränen in den Augen: „Ich danke dir Amo. Verzeih, dass ich gezweifelt habe“. „Es gibt nichts zu verzeihen, weil ich nicht verurteile. Sei still und wisse. Ich bin Gott“, antwortete ihr die Stimme aus ihrem Inneren, die Eufe inzwischen vertraut geworden war. Sie streichelte liebevoll über die Leier und ließ ihre Finger von Seite zu Seite gleiten bis sie einen grazilen Tanz vollführten, so als hätte Eufe nie etwas anderes getan. Sie schloss die Augen und begann zu singen:
„Du bist nicht dein Körper. Du bist nicht deine Gedanken. Du bist nicht deine Taten. Du bist allein Dein Sein. Du kannst schön, frei und wahrhaft mächtig sein. Lass die Liebe in dein Leben ein.
Eufe sass mit angewinkelten Knien auf der Erde. Immer noch hatte sie die Augen geschlossen. Noch nie hatte sie so viel Liebe und Zuversicht in ihrem Herzen empfunden. Selbst wenn sie ganz alleine gehen musste auf ihrem Weg. Nie mehr war sie einsam. Von nun an war die Musik ihr Begleiter, wohin sie auch ging. Amo hatte ihr gezeigt, dass sie die Essenz eines jeden Wesens, die Seele des ganzen Universums durch ihre Lieder sichtbar machen konnte. Jetzt erst verstand sie, was die Bilder vor ihren Augen bedeuteten, als sie die Musik im Reich der hohen Faune hörte. Musik hatte die Macht das Unbeschreibliche, Unsichtbare auszudrücken. Sie hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Egom erwartete sie. Entschlossen schulterte Eufe ihren Rucksack, klemmte sich die Leier unter den Arm und wanderte im sanften Sternenlicht den Berg hinunter. Während sie beschwingt ausschritt, entdeckte Eufe, dass sie sich nur bewusst zu öffnen brauchte, damit ihr das Universum eine neue Melodie mit dem entpsrechenden Liedtext übermittelte:
Ich weiss nicht woher ich komme. Ich weiss nicht wohin ich geh. Grosse Wege, weite Felder, hohe Berge, dichte Wälder, tiefe Seen. Die Erde pulst zu meinen Füßen. Der Himmel wölbt sich über mir. Kein schöner Platz, als hier und jetzt. Im Schoße meiner Träume.
Als der Morgen dämmerte war Eufe fast am Fuße des Berges angelangt. Sie war seit Stunden unterwegs und hatte sich keine Rast gegönnt. Als sie an einer Quelle vorbeikam, die einladend unterhalb eines großen Felsens am Wegrand hervorsprudelte, bückte sie sich und trank in gierigen Zügen. Erst jetzt merkte sie wie durstig sie gewesen war. Sie wusch sich Gesicht und Hände und kühlte ihre müden Füße in dem frischen Wasser. Während Eufe sich noch überlegte, ob sie sich etwas ausruhen sollte bevor sie weiterging, hörte sie Hufgetrappel und eine männliche und eine weibliche Stimme, die sich zankten: „Ich hab doch gesagt, dass wir hier falsch sind.“ „Nein das hast du nicht. Du hast gesagt wir sind verkehrt.“ „Sapralot verkehrt bedeutet doch falsch.“ „Nicht schon wieder“, unterbrach die beiden Streithähne eine dritte Stimme. „Wir haben wirklich wichtigere Dinge zu tun, als uns über den Unterschied von verkehrt und falsch zu unterhalten. Wir müssen sie finden.“ Eufe glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Mit einem Sprung war sie auf den Beinen und rannte so schnell sie ihre Beine trugen, in die Richtung aus der die Stimmen kamen. So laut sie konnte rief sie: „Aaaaaaarrruuuuucc, Falladaaaa, Liiiieeeesssllliiiii, Kaaallliiiiiiiii. Als Eufe atemlos um die Kurve gebogen war, sah sie Ullrens prächtige Schimmelstute im glänzenden Morgenlicht auf sie zu kommen. Wie gewöhnlich saß Liesli auf ihrem linken Ohr und Kalimann auf ihrem rechten. Die ersten Sonnenstrahlen verwandelten Falladas Mähne in schillernde Silberfäden. Blütenpollen flirrten wie Glitzerstaub um Liesli und Kalis Köpfe. Als die Stute Eufe erkannt hatte, warf sie ihren Kopf zurück und wieherte schrill. Liesli und Kali wirbelten in hohem Bogen durch die Luft, bevor sie mit ramponierten Hütchen wieder auf Falladas Ohren landeten. Verdutzt rieben sie sich den Allerwertesten und statt wie erwartet in ein Zetergeschrei ob Falladas Unverschämtheit auszubrechen, fuchtelten sie wild mit den Händen und riefen euphorisch: „Euuuuuufffeeeeeee, Eeeeuuuuufffeeeeeeeee hier sind wiiiiirrrrrrrr. Wiiiiirrrrrr kooooommmmmeeeeennnnnn.“ Eufe rannte ihnen entgegen bis Fallada vor ihr stehen blieb und sie mit ihren warmen Nüstern an der Stirn anstupste. „Blümchen, wir haben uns solche Sorgen gemacht. Wie gut, dass wir dich gefunden haben.“ Eufe warf ihre Arme stürmisch um Falladas Hals und rieb ihre erhitzten Wangen an ihrer Flanke. Liesli und Kali waren auf ihre Schultern geflogen. „Wir haben dich überall gesucht. Unter jedem Stock und jedem Stein. Wenn ich nicht darauf bestanden hätte, diesen Weg zu nehmen“, brüstete Kali sich. „Haha, da kann ich ja nur lachen“, unterbrach Liesli ihn störrisch. „Wer hat mir denn gerade vorgeworfen, dass der Weg verkehrt ist.“ „Ja aber nicht fal ...“. Ohne sich weiter um ihren Gemahl zu kümmern, küsste Liesli schmatzend Eufes Wange und rief: „Jetzt müssen wir nur noch Aruc finden.“ „Aber ist er denn nicht mehr bei euch?“ Eufe hatte angenommen, dass Aruc jeden Moment mit seinem breiten Jungengrinsen hinter ihr auftauchen würde, um sie zu überraschen. Fragend schaute Eufe in Falladas besorgte Augen: „Nein, seit wir von dem Sturm erfasst worden sind, fehlt jede Spur von ihm.“ „Dann ist auch er seinem Lehrer begegnet“, antwortete Eufe und blickte versonnen in den Himmel. „Welchem Lehrer?“, wollte Fallada wissen. „Was soll er denn lernen?“, Liesli hatte ihre Patschhändchen resolut in die Hüften gestemmt und Kali wiederholte fragend: „Wo ist ein Lehrer?“ Eufe lachte ihre Freunde vielsagend an: „Das ist eine lange Geschichte.“